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Theodor Ebert: Ziviler Friedensdienst - Alternative zum Militär

Am 6. Mai 2012 feiert der Berliner Politikwissenschaftler und Friedensforscher Theodor Ebert seinen 75. Geburtstag. Dazu gratulieren wir ihm als Lebenshaus Schwäbische Alb ganz herzlich. Gleichzeitig nehmen wir dieses Ereignis zum Anlass, eines seiner längst vergriffenen Bücher erneut zu veröffentlichen: "Ziviler Friedensdienst, Alternative zum Militär: Grundausbildung im gewaltfreien Handeln". Dieses Buch ist 1997 im Agenda-Verlag Münster publiziert worden. Wir bedanken uns bei Theodor Ebert für die Überlassung des Manuskripts zur Veröffentlichung.

In diesem Buch zeigt Theodor Ebert unter anderem auf, wie die Einübung gewaltfreier Konfliktbearbeitung aussehen kann und welche seelischen Grundeinstellungen und gesellschaftlichen Entwürfe dazu gehören. Dabei geht es nicht nur um den Umgang mit Alltagsgewalt, sondern auch um die Frage, ob man in Extremsituationen tödlicher Bedrohung durch Bewaffnete noch eine reale Chance hat, mit gewaltfreien Mitteln und in gewaltfreien Organisationen zu bestehen. Pragmatischer Kern des Bandes ist ein Werkstattbuch; es protokolliert einen Trainingskurs, in dem sich Studierende der Politischen Wissenschaft im gewaltfreien Standhalten und Eingreifen einübten. Zielperspektive ist für Theodor Ebert ein Ziviler Friedensdienst, der in nicht allzu ferner Zukunft in der Lage sein soll, das Militär als Instrument der Konfliktberatung abzulösen.

Das Buch zum Download:  Ziviler Friedensdienst, Alternative zum Militär (PDF-Datei, 1.653 KB)

 

Nachfolgend das Vorwort des Buches: Theodor Ebert: Ziviler Friedensdienst, Alternative zum Militär: Grundausbildung im gewaltfreien Handeln.

Ziviler Friedensdienst - Alternative zum Militär

Von Theodor Ebert

Vorwort: Gewalterfahrung und ziviles Engagement

1989 ist in der DDR eine gewaltlose Revolution gelungen. Angesichts einer massenhaften Emigration und gewaltloser Proteste allerorten traten die immer noch schwer bewaffneten Machthaber ab, weil sie mit ihrem politischen und wirtschaftlichen Latein am Ende waren und weil sie durch einen Versuch der blutigen Repression eines gewaltfreien Aufstandes nicht alles noch schlimmer machen wollten. Bis auf einige verhärtete Greise meinten die Jüngeren auch für sich selbst auf einen neuen Anfang hoffen zu dürfen. Die Wendehälse bekamen ihre Chance. Sie bildeten keine Wagenburg.

Diese schaumgebremste Bruchlandung eines maroden Regimes im Namen der Parole "Keine Gewalt!" und die rasche Vereinigung der beiden deutschen Staaten und die Bereitschaft zu solidarischer Hilfe beim Ausgleich des wirtschaftlichen Gefälles zwischen Ost und West war eine große Leistung vernünftiger und humaner deutscher Politik - trotz einer ganzen Reihe vermeidbarer Pannen und Härten und einer anhaltenden sozialen Asymmetrie zwischen alten und neuen Bundesländern. Doch im Großen und Ganzen bestand Anfang der 90er Jahre Anlass zu der Hoffnung, dass die deutsche Politik nach innen und außen in Zukunft charakterisiert sein würde durch Gewaltlosigkeit und Hilfsbereitschaft. Diese zeigte sich auch, als Russland durch den Systemwechsel in Not geriet.

Die aktuellen und sich mehrenden Sorgen der Deutschen um die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen und die Debatten um die Sparmaßnahmen in den öffentlichen Haushalten erwecken am Ende der 90er Jahre den Eindruck, dass mit der Wende in der DDR für die Deutschen auch eine Wende hin zum "rugged individualism", zum Überlebenskampf der Tüchtigen begonnen habe und wir nun in Schlechtwetterzeiten lebten, in denen wir uns gewaltfreie Initiativen und Hilfsbereitschaft nicht mehr leisten könnten.

Die Konzepte dieses Buches gehen davon aus, dass dieser politik- und medienvermittelte Eindruck vom Verhalten der Deutschen nur partiell die Wirklichkeit trifft und dass in Deutschland immer noch die Vorstellung überwiegt, in schwierigen Zeiten könnten gerade solidarisches Handeln und gewaltfreie Einsatzbereitschaft den Weg bahnen zu Lösungen, welche Überlebenskämpfer, die nur auf individuelle Stärke setzen, nie finden würden. Es gibt in Deutschland heute in einem früher unbekannten Ausmaß die Fähigkeit, bedrängende Probleme kooperativ und gewaltfrei zu bearbeiten. Dies scheint mir eine Langzeitwirkung der sich seit einigen Jahrzehnten durchsetzenden Formen der nichtautoritären Erziehung in Kindheit und Schule und der auf Kooperation, statt Unterordnung angelegten Formen wichtiger Teile des Arbeitslebens und des kulturellen Lebens zu sein. Hinzu kommen ein sich seit Jahrzehnten steigerndes Know-how der Strategien und Methoden der gewaltfreien Konfliktbearbeitung.

Wenn man ein solches Phänomen wie die sich immer weiter ausbreitende, mittlerweile geradezu "normale" Kriegsdienstverweigerung der deutschen Wehrpflichtigen und auch das parallele Bemühen der Bundeswehr um ein demokratisches, Hilfsbereitschaft statt Kämpfertum ausstrahlendes Image erklären möchte, dann gibt es kaum eine aufschlussreichere Studie als diejenige des amerikanischen Sozialpsychologen David Mark Mantell, der Ende der 60er Jahre amerikanische Kriegsdienstverweigerer und amerikanische Kriegsfreiwillige nach ihrer familiären Sozialisation in stundenlangen Interviews befragte. Was er über die familiäre Sozialisation der amerikanischen Kriegsdienstverweigerer herausfand, scheint mir auch für große Teile der jungen Deutschen zu gelten, die in den 70er und 80er Jahren geboren wurden. Das ist besonders erfreulich, wenn man dann bei Mantell auch liest, was die Kriegsfreiwilligen von ihren Einsätzen im Vietnamkrieg und den dort beobachteten und verübten Kriegsverbrechen berichten.David Mark Mantell: Familie und Aggression. Zur Einübung von Gewalt und Gewaltlosigkeit. Eine empirische Untersuchung, Frankfurt 1972

Auch wenn man annehmen darf, dass die familiären Sozialisationsbedingungen, die bei den befragten jungen Amerikanern Mitte der 60er Jahre zur Kriegsdienstverweigerung und zur Ablehnung eines militärischen Eingreifens in Vietnam führten, heute bei der Mehrheit der jungen Deutschen gegeben sein dürften, gibt es auch in Deutschland Sozialisationsbedingungen, die in eine andere Richtung deuten und diese können verstärkt werden durch bestimmte äußere Umstände wie Arbeitslosigkeit, das Auftreten rechtsextremer Organisationen und ein Mangel an Bemühungen, die Abtriftenden mit konstruktiven Angeboten in die Gesellschaft zu integrieren.

Im Gegensatz zu der günstig zu bewertenden familiären und schulischen Sozialisation der meisten jungen Deutschen stehen die sich seit der Wende auffällig mehrenden Anzeichen für eine Zunahme der Gewalt in Alltagskonflikten, die bewaffnete Gewaltanwendung in manchen Schulen und die weit verbreitete Sucht, sich privat - angeblich zum eigenen Schutz - zu bewaffnen. Auffallend sind die uns Deutsche weltweit blamierenden Fälle extremer Gewalt gegen Ausländer, die besonders krass bei Angriffen und Anschlägen auf Flüchtlingsheime zutage trat. Kritiker des politischen Klimas in Deutschland haben darauf verwiesen, dass es einen Zusammenhang gebe zwischen der rechtsextremen Gewalt von unten und den Bemühungen des Staates, das Abhalten und Abschieben von Flüchtlingen öffentlich als Erfolge zu vermelden. Bei dieser ist aber auch zu beachten, dass es mit Zustimmung der Bevölkerung und besonders auf Druck der Kirchen - im Geiste des Grundgesetzes und der Menschenrechte - staatliche und private Flüchtlingshilfe in beträchtlichem Umfang gibt.

Da ich meine politischen Erfahrungen vor allem in Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen, die ich dem linken politischen Spektrum zuordne, gemacht habe, beziehe ich in die Szenerie der Gewalt in Deutschland auch diejenigen Exzesse politisch motivierter Gewaltanwendung ein, die auf das Konto linker Extremisten gehen, die es zweifellos gibt. Auch diese Gewalttaten haben gesellschaftliche Ursachen, die man zu verstehen suchen muss. Doch solches Bemühen genügt nicht, sollen nicht die staatlichen Disziplinierungsversuche das letzte Sagen haben. Zur Einsicht gehört auch die persönliche Bereitschaft, den Gewalttätern Paroli zu bieten und Widerstand zu leisten.Vom Umgang mit aggressiven Gewalttätern. Stellungnahme zu den gewaltsamen Ausschreitungen während und nach der sogenannten revolutionären Maidemonstration in Kreuzberg am 1. Mai 1989 im Rahmen der Vorlesung "Widerstandsrecht und ziviler Ungehorsam" am 3. Mai 1989. In: Gewaltfreie Aktion, 80/81, 1989, S. 7-17.
Gewaltfreies Eintreten für den Rechtsstaat als innenpolitische Voraussetzung der Sozialen Verteidigung. Überlegungen am Beispiel der gewaltsamen Abriegelung des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität Berlin vom 26.-28.11.1990. In: Bund für Soziale Verteidigung (Hrsg.): Gewaltfreie in Krisen intervenieren, Minden, Überarbeitete Neuauflage mit neuen Texten (Jan.1993), S.37-43.

Die bedeutsamste Folge der Wende von 1989 war aber die Veränderung der politischen Großwetterlage. Von der Menschheit wich zunächst einmal der Alpdruck eines dritten atomaren Weltkrieges, unter dem gerade die deutsche Friedensbewegung wenige Jahre zuvor noch gelebt und gehandelt hatte. Diese Erleichterung, die man in ihrer faktischen Bedeutung kaum überschätzen kann, hat im subjektiven Empfinden jedoch nicht lange angehalten. Nachdem die Gefahr, dass lokale Kriege sich zu einem Weltkrieg ausweiten könnten, geschwunden war, nahm die Bereitschaft, latente Konflikte mit kriegerischer Mitteln auszutragen, schlagartig zu und damit auch der internationale Druck auf die Vereinten Nationen und über diese auch auf die Bundesregierung zu, sich mit der Truppen an internationalen Unternehmungen der Friedenserzwingung und Friedenssicherung zu beteiligen.

Die Bundesregierung hat es versäumt, sich diesem Druck frühzeitig durch das Angebot einer zivilen Alternative zu wiedersetzen. Sie hat für ihre Nichtbeteiligung am Golfkrieg eine zweistellige Milliardensumme bezahlt, mit der sie den Aufbau des Zivilen Friedensdienstes, wie er in diesem Buch vorgeschlagen wird, hätte über Jahre hinweg großzügig finanzieren können. Gemessen an diesem Milliarden-Obulus für den Golfkrieg sind die paar Millionen, um die es bei der "Startphase Ziviler Friedensdienst" geht, wirklich nur Peanuts. Und es ist leider gar nicht auszuschließen, sondern eher wahrscheinlich, dass die Bundesrepublik in Zukunft mitsamt der Bundeswehr wiederum in ähnlich kostspielige Unternehmungen hineingezogen wird wie den Golfkrieg, mit der auch ohne erkennbare Feinde eine ständige Modernisierung der Bewaffnung und so kostspielige Ausrüstungen wie der Eurofighter gerechtfertigt werden.

Ich habe dieses Ringen um eine gewaltfreie Orientierung deutscher Politik nicht als Politiker, sondern als Friedensforscher an der Freien Universität Berlin, als Schriftleiter der Zeitschrift "Gewaltfreie Aktion. Vierteljahreshefte für Frieden und Gerechtigkeit" und als Mitglied der Synode und der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg verfolgt und mit konstruktiven Angeboten zu beeinflussen gesucht.

In diesem Zusammenhang ist das Konzept des Zivilen Friedensdienstes als nonviolent task force und gleichberechtigte Alternative zur Bundeswehr entstanden. Der springende Punkt an diesen Vorschlägen ist, dass angenommen wird: Gewaltfreie Konfliktbearbeitung ist lehrbar und lernbar - und sie reicht von der Alphabetisierung in der Schule bis zur Vorbereitung auf Extremsituationen bewaffneter Bedrohung im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes.

Unter Zivilem Friedensdienst wird hier Ausbildung und Einsatz von Männern und Frauen bei der gewaltfreien Bearbeitung von denjenigen Konflikten verstanden, bei denen bisher die Androhung und Anwendung staatlicher Gewalt für unabdingbar gegolten hat. Die Mitglieder des Zivilen Friedensdiensten sollten also auch dann bei ihren gewaltfreien Methoden des Eingreifens und Standhaltens bleiben, wenn sie selbst lebensgefährlich bedroht werden.

Es wird also angenommen, dass die Erfolgsaussichten der gewaltfreien Aktion sich bis in den Bereich des politisch Kalkulierbaren steigern lassen, wenn in Zukunft zur gewaltfreien Aktion nicht nur spontan oder nach geringer Vorbereitung gegriffen wird, sondern in der Kooperation von Politik und Gesellschaft Strukturen geschaffen werden, welche das gewaltfreie Agieren und Reagieren auch im Falle bewaffneter Bedrohung zu einem "Fakt" machen, der in jedes politische Kalkül eingeht.

Ich habe mich dreißig Jahre lang mit der Strategie und Taktik der gewaltfreien Konfliktbearbeitung befaßt und auch an Bürgerinitiativen und Sozialen Bewegungen, die sich gewaltfreier Methoden bedienten, teilgenommen und im Sommer 1992 bei einem Besuch des Bundes für Soziale Verteidigung in Litauen und Lettland auch die besonderen Bedingungen der unbewaffneten Verteidigung parlamentarischer Institutionen gegen eine bewaffnete Bedrohung kennen gelernt, nachdem ich mich zuvor mehr konzeptionell mit diesem letzten Mittel des Volkes befaßt hatte.

Was mich nach meinen Forschungen über die gewaltfreie Konfliktbearbeitung in innergesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Konflikten am meisten interessierte, war seit 1991 die Frage, wie denn eine Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktbearbeitung für alle Bürgerinnen und Bürger aussehen könnte, die an die Stelle der militärischen Grundausbildung für junge Männer treten würde.

Gewaltfreies Standhalten und Eingreifen kann nach seiner Natur nicht gewaltsam erzwungen werden, aber es muss verläßlich sein, um ins politische Kalkül eingehen zu können und um es in einer partizipativen Demokratie verantwortlichen Politikern zu ermöglichen, zugunsten der gewaltfreien Mittel auf die Bereitstellung oder (trotz Bereitstellung) doch letztlich auf den Einsatz bewaffneter Mittel zu verzichten. Darum halte ich es im Grundsatz für vertretbar, entsprechend der Schulpflicht oder der Pflicht zur ersten Hilfe bei Verkehrsunfällen auch das Erlernen gewaltfreier Methoden der Konfliktbearbeitung zu einer Pflichtübung in der Demokratie zu machen. Damit würde die allgemeine (bislang militärische) Wehrpflicht im Sinne einer dialektischen Entwicklung nicht abgeschafft, sondern durch eine Radikalisierung ihres demokratischen Prinzips aufgehoben, d.h. der autoritäre und gewaltsame Charakter des Militärischen würde eliminiert zugunsten des gewaltfreien und selbstbestimmten Charakters des zivilen Engagements.

Tapferes gewaltfreies Standhalten und Eingreifen läßt sich nicht durch Androhung von Sanktionen erzwingen. Es ist im Ernstfall eine Form des Engagements, die aus freiem Willen und nur aus persönlicher Überzeugung von der Qualität dieser Methode und im Bewußtsein der humanen Werte, um die es geht, erfolgen kann. Und doch läßt sich mit dem Begriff der "Freiwilligkeit" der Zivile Friedensdienst nicht angemessen charakterisieren. Der Zivile Friedensdienst ist nicht nur ein Freiwilligendienst, den der eine leisten kann und der andere nicht - so ganz nach Gefühl und Wellenschlag und nach persönlicher Lebensplanung, sondern es handelt sich um eine Form demokratischer Pflichterfüllung.

Wenn man die Beteiligung an einem Unternehmen als freiwillig bezeichnet, dann bedeutet dies, dass diese Beteiligung zwar löblich, aber nicht von existentieller Bedeutung für die Gesamtheit der Betroffenen ist. Wenn sich keine Freiwilligen finden, hat niemand das Recht, denjenigen, die sich nicht gemeldet haben, einen Vorwurf zu machen.

Wenn jedoch der Zivile Friedensdienst ein funktionales Äquivalent zum Einsatz bewaffneter Staatsorgane sein soll, und zwar in dem existentiellen Sinne, dass von diesem Einsatz Sein oder Nichtsein, Funktionsfähigkeit oder Nicht-Funktionsfähigkeit einer Demokratie abhängen, dann kann ein solcher Einsatz nicht freiwillig - im Sinne von löblich, doch beliebig - sein, sondern dieser Einsatz muss prinzipiell Pflicht eines jeden Mitglieds der betroffenen Gemeinschaft sein. Ob man bei der Wahrnehmung dieser Pflicht auch Ausnahmen zulassen kann, ist dann eine pragmatische Frage. Doch in Existenzfragen einer Demokratie ist der Einsatz des Bürgers und auch der Bürgerin prinzipiell nicht freiwillig, sondern Pflicht. Und um Existenzfragen der Demokratie geht es eben in der Regel in all den Fällen, in denen bisher der Einsatz von bewaffneten Staatsorganen vorgesehen wurde.

Darum darf zumindest die Ausbildung zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung in einer Demokratie verpflichtenden Charakter haben, - so wie man eben keinen Führerschein bekommt, ohne einen Kursus in Erster Hilfe mitgemacht zu haben und so wie zur verpflichtenden Ausstattung jedes Autos ein Verbandskasten gehört. Zu Jesu Zeiten war der barmherzige Samariter im freiwilligen Einsatz, in der Bundesrepublik wäre das Vorübergehen an dem unter die Räuber Gefallenen unterlassene Hilfeleistung, d.h. es gibt die Pflicht zur Hilfeleistung - und es gibt zum Beispiel für Jugendleiter oder die Inhaber von Führerscheinen von Kraftfahrzeugen auch die Vorschrift, sich auf diese Hilfeleistung vorzubereiten. Und niemand bezeichnet dann solche Kurse ernsthaft als "Zwangsdienste".

Pflicht kommt sprachgeschichtlich von Pflege und Zuwendung. In pazifistischen Kreisen wird der Begriff der Pflicht im Zusammenhang mit der Wehrpflicht und anderen die Kriegführung ermöglichenden Einsätzen und Leistungen von Zivilisten mit dem Begriff des Zwangs assoziiert. Dies ist im Rückblick auf einen Teil der Geschichte der allgemeinen Wehrpflicht und ihres Mißbrauchs verständlich, aber ich halte diese radikale Ablehnung der Verpflichtung und die Überpointierung der Freiwilligkeit im Zusammenhang mit dem Zivilen Friedensdienst für verkehrt. Wenn wir nicht bereit sind, die Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung als eine Pflicht des Bürgers und der Bürgerin in der Demokratie zu begreifen, dann dürfen wir auch nicht annehmen, dass die für Sicherheit und Frieden verantwortlichen Politiker uns glauben, dass wir es mit dem gewaltfreien Äquivalent zum bewaffneten Einsatz wirklich ernst meinen.

Auf die Einsatzbereitschaft des Zivilen Friedensdienstes muss im Bedarfsfall genau so Verlaß sein wie auf die Polizei und die Bundeswehr. Würde diese Verläßlichkeit nicht einmal angestrebt, litte darunter auch die Glaubwürdigkeit des Konzepts.

Es gibt von der Natur der Methode her keine letzte Gewähr dafür, dass der Zivile Friedensdienst dann im Einsatz auch die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen wird. Man kann bei der gewaltfreien Aktion niemand zur Tapferkeit und zum Durchhalten zwingen, so wie man unsere Väter und Großväter zwingen konnte, für das nationalsozialistische Regime Krieg zu führen, auch wenn sie dessen verbrecherischen Charakter durchschauten. Im Blick auf diese Erfahrung ist die gewaltfreie Aktion ihrem Wesen nach freiwillig. Doch dies bedarf keiner besonderen Betonung. Vielmehr ist daran zu erinnern, dass gerade Gandhi großen Wert auf die Verpflichtung der Satyagrahis, zu deutsch der gewaltfreien Aktionsgruppen, legte. Sie mussten voneinander wissen, dass sie sich aufeinander verlassen können, und die Öffentlichkeit, Freunde und Gegner, Staatsorgane und gesellschaftliche Kräfte, alle mussten wissen, dass die Satyagrahis gemäß ihrer Selbstverpflichtung, die nicht weniger bindend war als ein Fahneneid, handeln würden. Alle mussten wissen, dass auch das letzte Mittel der Satyagrahis ausschließlich gewaltfreier Natur sein würde, und dass sie lieber sterben würden als einen Bedrohten im Stich lassen.

Fast täglich erfahren wir aus den Medien von lebensgefährlichen Überfällen auf Ausländer, von Brandstiftungen und Beleidigungen - und gelegentlich wird dann auch noch berichtet, dass die Polizei nicht wirkungsvoll eingegriffen und dass die Bürger bei Ausschreitungen sich nicht eingemischt, sondern nur zugeschaut hätten. Und die Krone der Berichterstattung ist dann noch der Hinweis, dass einzelne Deutsche zwar eingegriffen, daraufhin aber gleichfalls zusammengeschlagen worden seien. Solche Berichterstattung ist erforderlich, sie berichtet traurige Wahrheit, aber der Effekt ist eher deprimierend.

Bei der selteneren Berichterstattung über Gewalt in Schulen ist es nicht viel anders. Berichtet wird über das Mitführen und den Gebrauch von Waffen, aber kaum über Beispiele des Umgangs mit solchen Situationen. Die Zunahme des Mitführens und des Gebrauchs von Waffen durch Schüler ist alarmierend, und es ist wichtig, dass darüber berichtet wird. Es wäre jedoch fatal, wenn der Eindruck entstünde, dass gegen die Gewalt kein Kraut gewachsen und dass nur bewaffneter Schutz möglich sei.

Im Grunde genommen sind wir alle gefordert und wir sind inzwischen von Gewalttaten und von kriminellen Taten auch fast alle betroffen. In Berlin werden jährlich rund 20.000 Fahrräder geklaut; bei den Autos sieht es kaum besser aus. Wenn es um Gewalt in Deutschland geht, dann bedarf es kaum mehr einer Statistik. Eigene Erfahrung genügt, um zu begreifen, dass hier Handlungsbedarf besteht. Auch die Presse bringt kaum etwas Neues, sondern bestätigt nur an Extremfällen bzw. an bestimmten Häufungen von Bekanntem, was eigentlich alle wissen, aber es häufig gar nicht mitteilen, fast in der magischen Vorstellung, dass man vielleicht doch verschont bleibe, solange man nicht darüber rede. Dabei wäre sicherlich der Erfahrungsaustausch unter Verwandten, Freunden, Nachbarn, Eltern und Lehrern ein wichtiger Anfang bei der Problembearbeitung.

In meinen Trainingskursen zum Thema Gewaltfreie Konfliktbearbeitung an der Universität, in Kirchengemeinden und mit Religionslehrern lasse ich immer wieder im Stuhlkreis von Erlebnissen mit alltäglicher Gewalt berichten. Es gibt kaum jemanden, der keine einschlägigen Erlebnisse gehabt hätte. Da ging es um Handtaschenraub, eskalierende, massive Bedrohungen beim Streit um einen Parkplatz oder bei Auffahrten im Stau, um Schlägereien auf dem Schulhof, um Erpressung in der Schule unter Gewaltandrohung, um randalierende Störer bei Geburtstagsfêten in Gemeindehäusern, um den Raub von Baseballmützen und Jacken, um Vergewaltigungsversuche beim Autostop und Discobesuch, um die Konfrontation mit S-Bahn-Surfern, um besoffene Fußballfans in der Eisenbahn, um erpresserische Bettelei in der U-Bahn mit vorgehaltener Spritze, die angeblich aidsverseucht ist, usw. usw. Es kommt ganz schön dicke. Auch mein Gemeindepfarrer, der auf seinem Fahrrad die halbe Welt bereist hat und wirklich nicht von gestern ist und einiges mitgemacht hat, war doch baß erstaunt, was ihm seine Konfirmanden alles erzählten, als er sie reden ließ. Sogar die Vermittlung des Kaufs einer scharf gemachten Schreckschußpistole boten sie ihm an - zum Vorzugspreis versteht sich.

Wie man so schön sagt, die Betroffenheit ist da, und es gibt Handlungsbedarf, aber es gibt auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene kaum Angebote. Es hat in Berlin einige Trainingskurse zum Thema gewaltfreie Konfliktaustragung gegeben, aber es fehlten bisher die detaillierte Berichterstattung und Reflexion über diese Kurse, die es Interessierten gestattet hätten, sich ein genaues Bild zu machen, an do it yourself zu denken oder Trainingshilfe zu suchen.

Der Zweck dieses Buches ist es, vor dem Hintergrund des weitergehenden Konzeptes eines Zivilen Friedensdienstes als Alternative zum Aufgebot von Militär, zunächst einmal im Blick auf deutsche Alltagssituationen darzustellen, wie die Einübung der gewaltfreien Konfliktbearbeitung aussehen kann und welche seelischen Grundeinstellungen und gesellschaftlichen Entwürfe zu ihr gehören.

Im ersten Teil des Buches wird krass herausgearbeitet, worum es in der Perspektive geht - eben nicht nur um den pragmatischen Umgang mit Alltagsgewalt, sondern auch um die Frage, ob man in Extremsituationen tödlicher Bedrohung durch Bewaffnete noch eine vernünftige Chance hat, mit gewaltfreien Mitteln und in gewaltfreien Organisationen zu bestehen.

Im zweiten Teil wird am Beispiel des Szenarios der gewaltfreien Verteidigung eines von Rechtsextremisten bedrohten Flüchtlingsheims in Brandenburg gezeigt, wie der Zivile Friedensdienst eine solche Aufgabe anpacken könnte.

Den pragmatischen Kern bildet das Werkstattbuch des Versuches, Studenten der Politischen Wissenschaft an der Freien Universität Berlin in das gewaltfreie Standhalten und Eingreifen einzuüben. Diese Studenten haben - unter Anleitung ihrer Dozenten - parallel zur eigenen Ausbildung auf dringenden Wunsch der Evangelischen Kirchengemeinde Schlachtensee in Berlin-Zehlendorf auch dort einen Trainingskurs angeboten. Diese Erfahrung in der Vermittlung ist in vollem Umfang in das Werkstattbuch integriert und kann auch als Anleitung für Kurse in ähnlicher Situation dienen.

Im letzten Teil des Buches wird zunächst das von der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg erarbeitete Konzept des Zivilen Friedensdienstes dokumentiert. Damit aber über diesen Text hinaus in historischer Perspektive deutlich wird, was es bedeutet, dass eine Kirche ein solches Konzept entwickelt, wurden noch zwei Vorträge über das Verhältnis von Kirche und Staat im Blick auf die Sicherheitspolitik angefügt. Das dürfte für manchen auf den ersten Blick kein spannendes Thema sein in einem Land, in dem doch so viele aus den Kirchen austreten. Ich hoffe dennoch, dass Menschen, welche die Kirchen für belanglos und kostspielig halten, nach der Lektüre dieser Aufsätze ahnen, dass die Kirche aufgrund ihrer Vergangenheit zwar in vielerlei Hinsicht kein sehr vertrauenswürdiges Unternehmen ist, aber doch durch Jesus von Nazareth und die ihm Nachfolgenden eine Orientierungshilfe auf ihren Weg bekommen hat, die von praktischer Relevanz ist, aber auch immer wieder neu entdeckt werden muss und nicht vergessen und weggeschoben werden darf.

Meines Erachtens sind letzten Endes die ehrenwerte Hauptgründe dafür, dass so viele Menschen ihre Kirchenmitgliedschaft aufkündigen, zum einen die plausible Annahme, dass man auch außerhalb der Kirche sich für humanitäre Belange engagieren kann, und zum anderen die Beobachtung an sich selbst, dass die kirchliche Mitgliedschaft mit einem Glaubensbekenntnis verbunden ist, über dessen seltsame Aussagen man nicht mehr diskutieren mag. Ich habe in hunderten von Vorträgen und Diskussionen in säkularer und kirchlicher Öffentlichkeit die Erfahrung gemacht, dass wirklich umstritten nur die Frage war, ob man mit der Bergpredigt Politik machen und dabei die gewaltfreie Aktion das erste und das letzte Mittel sein könne.

Einerseits gab es Beispiele für Erfolge mit gewaltfreiem Handeln, andererseits waren aber auch die Risiken eines solchen Vorgehens unbestreitbar. Es blieb letzten Endes eine Frage der Entscheidung, ob man sich - trotz aller politologischen Bemühungen um Einschätzung und Minderung der Risiken - auf diesen Kurs einlassen wollte oder nicht. That is the crucial question. Das ist die Kreuzes-Frage. Doch auf deutsch kann man das so nicht sagen, weil man gerade mit den Kreuzen in unserem Lande Schindluder getrieben hat und sie zum bajuwarischen Kulturgut verkommen ließ, für dessen dekorativen Erhalt in Bayerns Volksschulen ein Ministerpräsident am Samstag auf dem Münchener Odeonsplatz demonstrieren kann, um dann am Montag auf der Konferenz der Ministerpräsidenten für den Bau des Eurofighters zu plädieren.

Dass der Zivile Friedensdienst im Dezember 1995 den Fraktionen des Deutschen Bundestages auf Einladung des katholischen Bischofs Spital und des evangelischen Bischofs Huber vorgestellt wurde und dies zur Formulierung eines interfraktionellen Antrag für einen Pilotversuch führte, war ein hoffnungsvolles Zeichen. Das Konzept einer "Startphase Ziviler Friedensdienst" ist dann von konservativen Politikern im Laufe des Jahres 1996 ausgebremst worden, aber mir scheint, dass das Konzept doch intellektuell eingeschlagen hat und bei der Bundestagsdebatte über den SFOR-Einsatz der Bundeswehr wurde von mehreren Rednern perspektivisch der Zivile Friedensdienst als Alternative genannt. Die rot-grüne Regierungskoalition des Landes Nordrhein-Westfalen hat das Konzept der Startphase nicht aus eigener Kraft voll und ganz übernehmen können, aber sich immerhin bereit erklärt, mit zwanzig Personen Ausbildung und Einsatz eines Zivilen Friedensdienstes zu erproben. Das ist natürlich am Gesamtkonzept nicht mal ein kleines Brötchen, sondern fast nur ein Krümel, aber man darf sich auch daran erinnern, dass bei gewaltfreien Aktionen auch des Öfteren schon wenige erstaunlich viel erreicht und Wege gewiesen haben.

Vielleicht müssen wir auch noch sehr viel mehr Geduld und mehr Eigenmittel aufbringen und mit der Ausbildung und den Einsätzen im Inland noch mehr experimentieren, aber wie auch immer sich der politische Willensbildungsprozeß entwickelt, es scheint mir auf jeden Fall von erheblicher Bedeutung zu sein, dass man den Zivilen Friedensdienst auch vor seinem Hintergrund der kirchlichen Tradition und der von Jesus formulierten Zusagen begreift, ob man diese nun zusammen mit Juden und Muslimen als prophetisch oder in der christlichen Tradition als messianisch versteht. An diesem Punkt bin ich nicht leidenschaftlich, zumal ich die Erkenntnis, dass Macht nicht nur aus Gewehrläufen kommt, in erster Linie dem Hindu Mohandas K. Gandhi zu verdanken habe, dessen "Experimente mit der Wahrheit", so der Titel seiner Autobiographie, man auch als Versuch verstehen kann, Politik mit der Bergpredigt zu machen.

Ich hatte auf Anregung einiger Leser des Manuskriptes auch erwogen, die offensichtlich in der kirchlichen Tradition stehenden Beiträge des letzten Teils in den einführenden Beitrag "Was verlangt die Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung?" zu integrieren. Das hätte aber den Eindruck verstärkt, dass der Zivile Friedendienst in erster Linie ein christliches Unternehmen sei. Dies entspricht jedoch nicht meiner Absicht. Der Vorschlag ist von der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg ausgegangen, aber diese hat von vornherein ein Konzept der Friedens- und Sicherheitspolitik im Sinne gehabt, das für alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes taugt und bei dem Christen nach Lage der Dinge mit gutem Beispiel voran gehen sollten. Es entspricht also dem Geist des Vorschlags, wenn im letzten Teil dieses Buches das Plädoyer für den Zivilen Friedensdienst in jesuanischer Tradition deutlich getrennt wird von der Darstellung des Konzepts und der Ausbildungsformen. Ich meine allerdings, dass der Zivile Friedensdienst Christen eine praktische Möglichkeit bietet, andere ahnen zu lassen, dass Jesus nicht einfach tot und begraben ist.

Berlin, Ostern 1997

Theodor Ebert, geb. am 6. Mai 1937, studierte Geschichte, Germanistik und Politologie in Tübingen, München, London, Paris und Erlangen. Seit den 1960er Jahren war er maßgeblich an der Entwicklung des Konzepts der Sozialen Verteidigung als Alternative zur Kriegführung beteiligt. Hierfür gründete er 1969 die Zeitschrift Gewaltfreie Aktion. Von 1972 bis 1984 war er Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland und von 1984 bis 1996 Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg. 1989 wurde er Gründungsvorsitzender des Bundes für Soziale Verteidigung. Jahrelang setzte er sich auch für die Schaffung eines Zivilen Friedensdienstes.

Theodor Ebert war bis 2002 Professor am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin und dort Geschäftsführender Direktor des Instituts für Innenpolitik und Systemvergleich.

Fußnoten

Veröffentlicht am

03. Mai 2012

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