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Bremsklotz Raketenschirm

Die Raketenabwehr von NATO und USA ist der Hauptstreitpunkt zwischen Russland und dem Westen

Von Wolfgang Kötter

Russlands neu gewählter Präsident Wladimir Putin fehlt beim G8- wie beim NATO-Gipfel und begründete sein Fernbleiben mit dringenden Aufgaben bei der Regierungsbildung. Der wahre Grund aber ist wohl ein anderer: der Streit zwischen Moskau und dem Westen über eine gemeinsame Raketenabwehr für Europa.

Eigentlich hatten sich die NATO und Russland bereits auf dem Lissabonner Gipfeltreffen im November 2010 grundsätzlich auf eine Zusammenarbeit bei der Raketenabwehr geeinigt. Aber die Verhandlungen sind in eine Sackgasse geraten. Moskau kritisiert die NATO-Politik der vollendeten Tatsachen und protestiert vor allem gegen die einseitigen Stationierungen einer Radaranlage in der Türkei, von Abfangraketen in Rumänien und Polen sowie US-Lenkwaffenschiffen in Spanien.

Verhandlungen in der Sackgasse

Als Gegenmaßnahmen stationierte Russland in der Ostsee-Exklave Kaliningrad das moderne Frühwarnsystem Woronesh-DM sowie Flugabwehrraketen des Typs S-400 "Triumph" und kündigt weitere Aufstellungen von nuklear bestückbaren Raketen des Typs "Iskander" in Grenznähe zu den NATO-Staaten Polen und Litauen sowie im Süden und im Nordwesten Russlands an. Noch deutlicher wurde der russische Generalstabschef Nikolai Makarow auf einer internationalen Raketenabwehr-Konferenz Anfang des Monats in Moskau. Mögliche Gegenschritte seien nicht nur die Stationierung der Raketen in der Region, sondern auch ihr Einsatz zur Vernichtung von Komponenten des Verteidigungsschildes: Angesichts der destabilisierenden Natur des Raketenschilds … wird bei der Zunahme der Spannungen eine Entscheidung über eine präventive Gewaltanwendung fallen". Außerdem droht Moskau mit dem Austritt aus dem KSE-Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa und dem Neu-START-Vertrag über die Reduzierung strategischer Atomwaffen.

Im Wesentlichen geht es bei dem Streit um zwei grundlegende Differenzen: Zum einen besteht die NATO auf kooperierenden, aber getrennten Systemen, während Russland eine integrierte Struktur mit sektoraler Arbeitsteilung bevorzugt. Zum anderen fordert Moskau vom Westen eine völkerrechtliche Nichtangriffserklärung für seine eigenen strategischen Offensivwaffen. Die NATO ist zwar zu einer entsprechenden politischen Zusage bereit, bisher aber nicht zu einer rechtsverbindlichen Verpflichtung. Mehr Entgegenkommen deutete kürzlich die US-Sonderbeauftragte für strategische Stabilität und Raketenabwehr Ellen Tauscher an. Man sollte sich zuerst auf ein Abkommen über Kooperation einigen, "bevor wir juristische Garantien gewähren."

Akzeptabler Kompromiss?

Um den steckengebliebenen Verhandlungszug wieder in Fahrt zu bringen, brachten Experten auf der Münchener Sicherheitskonferenz Anfang des Jahres einen Vorschlag ins Gespräch, der als für beide Seiten akzeptabler Kompromiss angeboten wurde. Nach Ansicht der international zusammengesetzten Euroatlantischen Sicherheitsinitiative (Euro-Atlantic Security Initiative, EASI) sollen Zentren für den Datenaustausch über Raketenstarts errichtet werden, in denen Spezialisten aus Russland und den NATO-Ländern arbeiten würden. Diese Datenzentren könnten in den bereits vereinbarten Stationen zur Luftraum-Kooperation bei Moskau und Warschau eingerichtet werden. Der EASI zufolge sollten Russland und NATO dann Mechanismen entwickeln, um feindliche Raketen abzuwehren. Laut der EASI könnten US-Satelliten und seegestützte Aegis-Lenkwaffensysteme, mobile Radaranlagen und SM-3-Abfangraketen zum Einsatz kommen. Russland könnte die bereits angebotenen Satelliten und Radaranlagen in Armawir in der Region Krasnodar und im aserbaidschanischen Gabala, see- und bodengestützte Raketen S-300, S-400 und in der Perspektive S-500 zur Verfügung stellen.

Die Reaktionen auf den Vorschlag fallen unterschiedlich aus. "Die Architektur, die in unserem Bericht steht, würde das gesamte nukleare Verhältnis zwischen den USA, Russland und der NATO verändern", lobt der ehemalige US-Senator Sam Nunn und einer der Co-Vorsitzenden von EASI. "Die Russen wären drinnen und würden mitarbeiten, anstatt von außen zu kritisieren." Demgegenüber klingt der russische Außenminister Sergej Lawrow zurückhaltender: "Dass der Aufbau eines gemeinsamen Sicherheitsraums besprochen wird, lässt sich nur begrüßen. Der Teufel steckt aber im Detail", so Moskaus Chefdiplomat. "Das ist ohnehin das, was uns die Amerikaner vorschlagen und was der russischen Seite nicht passt", bemängelt der Erste Vizechef des Auswärtigen Ausschusses in der Staatsduma, Konstantin Kossatschow. "Wenn wir uns gegenseitig nicht gefährden, wenn wir Partner sind, warum sollten wir unsere Zusammenarbeit nicht weiter ausbauen?"

Verhandlungstür bleibt offen

Offiziell wird im Westen bisher nicht von einem Scheitern der Kooperation bei der europäischen Raketenabwehr gesprochen. NATO-Generalsekretär Rasmussen hatte lange sogar eine Einigung auf dem NATO-Gipfeltreffen in Chicago erhofft, musste dann aber den in diesem Rahmen ursprünglich geplanten NATO-Russland-Gipfel absagen. Stattdessen hat das westliche Militärbündnis jetzt einseitig den Beginn der ersten Betriebsphase des europäischen Raketenabwehrschirms beschlossen und es für "teilweise einsatzbereit" erklärt. Aber Chicago sei keine Deadline, auch nach dem Gipfel werde man mit Russland weiter verhandeln und nach effektiven Lösungen suchen, so Rasmussen. Auch Russlands Außenminister Lawrow gibt sich verbindlich: "Wir hoffen, dass die Beschlüsse zum Raketenabwehr-Problem, die beim NATO-Gipfel in Chicago gefasst werden sollen, Möglichkeiten für unsere gemeinsame Arbeit nicht durchkreuzen werden." Generell aber ertönen aus Moskau seit längerem skeptische Töne. Als eine der letzten Meinungsäußerungen im Amt betonte Präsidenten-Vorgänger Medwedew: "Die Raketenabwehr ist nicht gegen Russland gerichtet - dies muss schriftlich in einem Dokument und nicht bei einem Freundschaftsgespräch mit einer Tasse Tee oder einem Glas Wein verankert werden."

Optionen für atomare Abrüstung

Als neuen Impuls zur Wiederbelebung der Gespräche hat die US-Regierung mehr Transparenz angekündigt. Dazu zählen Einladungen zu Raketentests im Pazifik, zum Besuch des Luftwaffenstützpunkts Peterson in Colorado Springs, wo sich das Hauptquartier des Vereinigen US-Systems für Luft- und Weltraumverteidigung (NORAD) befindet, und die Erklärung, dass man bereit wäre, Russland auch vertrauliche Raketenabwehrdaten zukommen zu lassen. "Wir denken, dass die Übergabe von Geheiminformation die Zusammenarbeit fruchtbarer machen könnte", meint Pentagonsprecher Bradley Roberts. Dabei soll es um technische Daten der Abfangraketen des Typs SM-3 gehen, die die Basis des Raketenschilds bilden werden. Mit den Daten, die mit der Abkürzung VBO (Velocity at Burnout - Geschwindigkeit bei Brennschluss) bezeichnet werden, lässt sich feststellen, ob die Abfangraketen eine potentielle Bedrohung für die russischen Interkontinentalraketen darstellen können. Für Russland sind diese Parameter von besonderem Interesse, denn Moskau ist über die taktisch-technischen Daten in den modernisierten Abfangraketen, die bis 2020 in den Dienst gestellt werden sollen, sehr besorgt. In den kommenden Monaten sollen Experten beider Seiten weitere technische Detailfragen erörtern. Doch selbst wenn dabei neue Bewegung gelingen sollte, sind vor den Präsidentschaftswahlen in den USA im November konkrete Ergebnisse nicht zu erwarten. Medienberichten zufolge hat der US-Präsident Moskau inoffiziell um eine "Auszeit" bei den Verhandlungen gebeten, bis die Präsidentenwahlen in den USA vorbei sind. Obama verspricht aber optimistisch: "Nach meiner Wahl habe ich mehr Flexibilität… Bis 2013 kann ein Fortschritt erzielt werden, falls die technischen Fragen gelöst werden."

Für den Fall eines Sieges hat die Obama-Regierung auf dem Weg zur anvisierten "Welt ohne Atomwaffen" schon mal mehrere Varianten weiterer Reduzierungen in der Schublade. Nach einem zaghaften Vorschlag würden von den ehemals 12.000 einsatzbereiten Atomwaffen noch 1.000 bis 1.100 zurückbehalten werden. Das könnte möglicherweise in einem Zusatzprotokoll zum bestehenden Neu-START-Abkommen geschehen, das die weitere Senkung der bisher vereinbarten 1.550 aktiven Waffen festlegt. Ein Mittelweg sieht 700 bis 800 verbleibende Nuklearwaffen vor und der radikalste Schritt wäre eine Reduzierung auf 300 bis 400 stationierte Systeme. Das würde jedoch eine Abkehr vom bisherigen strategischen Denken und ein Umschwenken auf das Konzept der Minimalabschreckung erfordern.

Dies mag zum gegenwärtigen Zeitpunkt illusorisch anmuten. Nicht zu vergessen ist aber, dass die Entscheidungen in den USA angesichts der horrenden Staatsverschuldung auch im Rahmen des allgemeinen Sparzwangs fallen müssen. So wird das Pentagon im nächsten Jahr über ein geschrumpftes Budget von 614 Mrd. Dollar verfügen. In diesem sind es noch 646 Mrd. und bis 2023 sollen die Militärs insgesamt 480 Mrd. Dollar weniger bekommen als bisher geplant. Für Russland, das ohnehin schon jetzt aus Kostengründen und wegen Modernisierungsverzögerungen unter den vereinbarten Limits bleibt, sollten beiderseitige geringere Höchstgrenzen verlockend klingen. Bedingung dafür wäre allerdings eine Einigung zur Raketenabwehr, denn nur wenn die verbleibenden strategischen Waffen nicht als bedroht angesehen werden, könnte Moskau zu radikalen Reduzierungen bereit sein. Andernfalls, so erklärte Präsident Putin, werde Russland mit der Entwicklung neuer Waffen reagieren, die den Schild durchschlagen könnten. Im kommenden Jahrzehnt sollen dann rund 23 Billionen Rubel (580 Mrd. Euro) für Interkontinentalraketen, Kampfflugzeuge, U-Boote und Schützenpanzer ausgegeben werden.

Strategische Nuklearpotentiale

Kategorie USA  Russland
Interkontinentalraketen, U-Boote, Langstreckenbomber
(stationiert)
812          494
Sprengköpfe
(stationiert)
1737 1492
Interkontinentalraketen, U-Boote, Langstreckenbomber
(stationiert und nicht stationiert)
1040 881

Quelle: US State Department

Projekt der US/NATO-Raketenabwehr in Europa

In der ersten Phase werden gegenwärtig US-Kriegsschiffe mit SM-3-Abfangraketen und Aegis-Lenkwaffensystemen ausgerüstet, um in den grenznahen Meeren Europas zu kreuzen. Der Navy-Kreuzer "Monterey" operiert bereits im Schwarzen Meer und ist u.a. in den rumänischen Hafen Constanta eingelaufen. Vier Schiffe mit Abfangraketen des Typs SM-3 und ein elektronisches Warn- und Feuerleitsystem Aegis werden auf spanischem Territorium stationiert.

Zur Abwehr von Mittel- und Kurzstreckenraketen sollen außerdem mobile Radarsysteme und bodengestützte Anti-Raketen-Raketen vom Typ THAAD (Terminal High Altitude Area Defense) sowie Patriot-PAC-3-Lenkflugkörper (Patriot Advanced Capability) dienen. In der Türkei ist bei Kürecik in der kurdischen Region Malatya der Bau eines Radars vom Typ AN/TPY-2 geplant. Anschließend sollen in der zweiten Phase etwa ab dem Jahr 2015 24 SM-3-Raketen und das Radar-System Iges auf einem ehemaligen Luftwaffenstützpunkt im südrumänischen Deveselu und in der dritten Phase ab 2018 die modernen Raketen des Typs SM-3 Block II in Polen, 150 Kilometer von Gdansk entfernt, und möglicherweise auch Anlagen vor der arktischen Küste Russlands stationiert werden, um Kurz- und Mittelstreckenwaffen abzuwehren. Ebenfalls bis 2018 wird die neue, größere Rakete vom Typ SM-3 Block IIIB entwickelt und getestet. Sie soll in der vierten Phase bis 2020 stationiert werden, um dann auch die auf die USA und Europa zielenden Langstreckenraketen wirksam bekämpfen zu können.

Zu den 26 Mitgliedern der Euroatlantischen Sicherheitsinitiative (Euro-Atlantic Security Initiative, EASI) gehören:

Co-Vorsitzende - Ex US-Senator Sam Nunn; Wolfgang Ischinger, ehemaliger deutscher Botschafter in den USA und Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz; Igor Iwanow, früherer russischer Außenminister.

Außerdem: Stephen Hadley, Berater für Nationale Sicherheit unter US-Präsident George W. Bush; John C. Kornblum, ehemalige US-Botschafter in Deutschland; Volker Rühe, deutscher Ex-Verteidigungsminister; Henry Obering, ehemaliger Direktor der amerikanischen Missile Defense Agency, Viktor Esin, einst Chef der Strategischen Raketentruppen Russlands.

Veröffentlicht am

21. Mai 2012

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