“Sand im Getriebe der Welt sollt ihr sein”Von Wolfgang Sternstein - Festvortrag 189. Tagung der Vereinigung Nordwestdeutscher Chirurgen, 7.-9. Juni 2012, Stade Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Programm ist meine Rede als "Festvortrag" angekündigt. Doch ist das, was ich Ihnen mitzuteilen habe, alles andere als festlich, es ist eher schockierend und verstörend. Ich wage es nur, Ihnen eine so bittere Wahrheit zuzumuten, weil wir alle, ausnahmslos alle von ihr betroffen sind. Die düstere Zukunftsperspektive, die ich Ihnen vor Augen stellen werde, betrifft indes nur den Anfang meiner Rede. Der zweite Teil widmet sich der Frage, wie wir einen Ausweg aus der Sackgasse, in die die Menschheit im Laufe der Geschichte geraten ist, finden können. Ich werde Sie folglich nicht ohne Hoffnung in die Fachvorträge entlassen. "Sand im Getriebe der Welt sollt ihr sein", lautet das Thema meines Vortrags. Es spielt an auf ein Wort von Günter Eich, das in voller Länge lautet: "Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind … Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet. Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt." Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt. Das Gleichnis ist anschaulich, und doch habe ich Zweifel, ob es wirklich das trifft, was Günter Eich sagen wollte. Sand im Getriebe der Welt hat zur Folge, dass das Getriebe heiß läuft und nach kurzem knirschend stehen bleibt. Doch dem Sand ergeht es ja keineswegs besser. Er wird zerrieben. Beide, das Getriebe und der Sand sind hin. Das Bild vom Sand im Getriebe ist folglich nur destruktiv. Am Ende bleibt nichts übrig außer Zerstörung. Ich bin mir sicher, dass Günter Eich das mit seinem Gleichnis nicht sagen wollte. So anschaulich es auch ist, so ist es doch ein poetischer und sachlicher Missgriff. Was er sagen wollte, war wohl eher: Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind … Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet. Seid unbequem, leistet Widerstand gegen das Unrecht in der Welt, gegen Unterdrückung, Gewalt und Unmenschlichkeit, doch arbeitet am Aufbau einer Welt der Gerechtigkeit und des Friedens, der Gewaltfreiheit und der Menschlichkeit! In dieser Formulierung wird kaum einer dem Wort Günter Eichs widersprechen. Mit der Einigkeit ist es aber schnell vorbei, wenn wir fragen: Widerstand ja, aber wie? Wie sollen wir dem Unrecht und der Gewalt widerstehen? Die Antwort ist meist rasch zur Hand. Natürlich durch Gegengewalt oder durch die Androhung von Gegengewalt, um einen möglichen Aggressor abzuschrecken. Diese Antwort ist so alt und so verbreitet wie die Menschheit selbst, und doch meine ich als Friedens- und Konfliktforscher wie auch als Friedensaktivist, der selbst ein Leben lang auf diesem Gebiet Erfahrung gesammelt hat, sie ist grundfalsch. Sie hat das Unrecht und die Gewalt in der Welt nicht vermindert, sondern vermehrt. Dieser Weg hat sich als Irrweg erwiesen. Er ist, aufs Ganze gesehen, gänzlich gescheitert. Wenn wir die Menschheitsgeschichte in den Blick nehmen, so stellen wir fest, dass nicht nur die Produktivkräfte des Menschen in Gestalt von Wissenschaft, Technik und Industrie, sondern auch seine Destruktivkräfte ins Gigantische gewachsen sind. Vom Faustkeil und Steinbeil des Steinzeitmenschen bis zur 50-Megatonnen-Wasserstoffbombe ist es ein weiter Weg, doch die Menschheit hat ihn in atemberaubender Geschwindigkeit zurückgelegt. Heute genügt ein Bruchteil der in den Waffenarsenalen der Atommächte aufgehäuften Zerstörungskraft, würde er in einem nuklearen Weltkrieg eingesetzt, um nicht nur die Menschheit, sondern alles höhere Leben auf der Erde in den Abgrund der Vernichtung zu stürzen. Im Gegensatz zu den Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts scheint die Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen heute in weite Ferne gerückt. Das ist jedoch meiner Ansicht nach das Ergebnis eines weltweit verbreiteten Betrugs und Selbstbetrugs. Wir machen uns vor, dass ein massenhafter Einsatz von Atomwaffen bei einem militärischen Konflikt unwahrscheinlich, wenn nicht sogar unmöglich ist, und zwar paradoxerweise gerade wegen der ungeheuren Zerstörungskraft dieser Waffen, weil keine Macht der Welt sich von ihrem Einsatz einen Vorteil versprechen kann. Wer als erster angreift, so lautet die knappe Formel, stirbt als zweiter. Der Philosoph Hegel soll einmal gesagt haben, das Einzige, was man aus der Geschichte lernen könne, sei, dass aus der Geschichte noch nie etwas gelernt worden ist. Würden wir jedoch aus Geschichte etwas lernen, dann wäre es vor allem eins: Nichts ist in der Geschichte so beständig wie das Unbeständige, das Zufällige, das Unvorhersehbare. So rasch und unblutig wie der Kalte Krieg zu Ende ging, so rasch kann er auch wieder beginnen, und so blutig kann er werden, wenn er in einen heißen Krieg übergeht, sei es zwischen Russland und den USA, zwischen China und den USA oder zwischen einem Bündnis der Atommächte Russland, China und Indien einerseits und der Nato andererseits. Das heißt, wir haben im Laufe unserer glorreichen Geschichte die Welt in ein atomares Pulverfass verwandelt, und an Funken in Gestalt nationaler und internationaler Konflikte, die es zur Explosion bringen können, mangelt es wahrlich nicht. An dieser Stelle hört man gewöhnlich den Einwand: Der Kalte Krieg liefert doch das stärkste Argument dafür, dass die Bombe aufgrund ihrer unvorstellbaren Zerstörungskraft den Krieg verhindert. Die Politik der wechselseitigen Abschreckung durch die totale Vernichtungsdrohung gegenüber dem potenziellen Angreifer ist mehr als alles andere geeignet, einen Nuklearkrieg zu verhindern, weil der Angriff auf eine Atommacht unkalkulierbare Risiken in sich birgt. Die Bombe als Friedensstifterin? Das ist in der Tat paradox, um nicht zu sagen pervers. Das Gegenteil ist leider richtig. Die Bombe bedroht nicht nur die Existenz von Einzelnen und Völkern, sie bedroht die Existenz der ganzen Menschheit und allen höheren Lebens auf der Erde. Für diese Behauptung habe ich einen Zeugen, dem wohl niemand die Kompetenz bestreiten wird: Den Oberkommandierenden der amerikanischen Atomstreitkräfte in den Jahren 1991-94, General George Lee Butler. Seine Rede vor einer kanadischen Friedensorganisation, die die Frankfurter Rundschau am 1.9.1999 auf meine Initiative hin veröffentlichte, lässt sich in dem Kernsatz zusammenfassen: "Wir sind im Kalten Krieg dem atomaren Holocaust nur durch eine Mischung aus Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich befürchte, das Letztgenannte hatte den größten Anteil daran." Siehe den vollständigen Vortrag von General George Lee Buttler, US Air Force (a.D.): "Sind Kernwaffen notwendig?" . In der Tat, wiederholt stand die Welt am Abgrund eines Atomkriegs. Im Koreakrieg und im Vietnamkrieg forderten amerikanische Generäle die Freigabe der Atomwaffen, in der Kubakrise von 1962 und ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Widerstandsbewegung gegen die Raketenstationierung in der Bundesrepublik hat uns nur Glück oder göttliche Fügung vor dem Untergang bewahrt. Am 23. September 1983 meldete ein russischer Satellit den Start einer, und kurz darauf von fünf amerikanischen Interkontinentalraketen. Der Kommandeur der geheimen Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung, Stanislaw Petrow, hatte den Befehl, in einem solchen Fall den nuklearen Gegenschlag auszulösen. Er tat es nicht. Später stellte sich heraus, dass der Satellit Sonnenstrahlen, die durch eine Wolkenlücke brachen, als Startschweif von Raketen identifiziert hatte. Keine vier Wochen später herrschte Panik im Kreml. Ständige Provokationen durch amerikanische Jets, die den sowjetischen Luftraum verletzten, um die sowjetische Abwehr zu testen, das Reforger-Manöver der Nato und die sich daran anschließende Übung Able Archer, bei der die Regierungschefs die Atombunker aufsuchen sollten, deuteten aus Sicht der damaligen Sowjetführung auf einen unmittelbar bevorstehenden Angriff hin. Zum Glück gerade noch rechtzeitig erfuhren die Amerikaner durch ihre Geheimdienste, welche Stimmung im Kreml herrschte und sandten eilig Entspannungssignale nach Moskau. Vor einigen Wochen lief über den Sender Phönix ein Film aus der Serie "ZDF - History" mit dem Titel "1983 - Die Welt am Abgrund". Er schildert die von mir eben beschriebenen dramatischen Ereignisse und kann als DVD vom ZDF bezogen werden. Ein Sprichwort sagt: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Das gilt auch für den "Atomkrug". Auch er wird solange zum Brunnen gehen, bis er bricht. Gibt es angesichts dieser düsteren Zukunftsperspektive überhaupt noch Hoffnung, die Menschheit vor dem atomaren Selbstmord zu retten? - Ich sage: ja. Der Rettungsweg besteht in der kontrollierten atomaren Abrüstung mit dem Ziel der Abschaffung sämtlicher Atomwaffen. Dieser Weg ist nicht ohne Risiken und Gefahren, aber er ist gangbar, vorausgesetzt, die Völker der Welt erkennen die Gefahr, in der sie schweben, und bringen ihre Regierungen dazu, atomar (und möglichst auch konventionell) abzurüsten. Die Menschheit ist ein Abstraktum, das es als handelndes Subjekt nicht gibt. Es gibt nur Einzelne, Gruppen und Völker, allenfalls Bündnisse wie die Nato, die Europäische Union oder die UNO als handelnde Subjekte. Jedoch, auf Einzelne und Gruppen kommt es in erster Linie an. Sie können, wenn sie es wirklich wollen, die Regierungen dazu bringen, die Atomwaffen abzuschaffen. Unverändert gilt auch heute noch, was der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer in den achtziger Jahren erklärte: "Wir können auf die Dauer nicht mit der Bombe leben, entweder schaffen wir sie ab oder sie schafft uns ab." Mit dem Ende des Kalten Krieges ist für die meisten Deutschen die atomare Kriegsgefahr in weite Ferne gerückt, obwohl Nordkorea, der Israel-Iran-Konflikt und die geheimen Atomwaffenprogramme mancher Länder Anlass zur Sorge geben. Deutschland hat durch die Wiedervereinigung vom Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion profitiert wie kein anderes Land. Die Deutschen fühlen sich so sicher, wie wohl noch nie in ihrer Geschichte. Wir sollten jedoch über den deutschen Tellerrand hinausblicken, und da ist die Lage alles andere als rosig. Zudem stehen uns die großen Konflikte zwischen den alten absteigenden Industrieländern (USA, Westeuropa, Japan) und den neuen aufsteigenden Industrieländern (China, Indien, Brasilien, Osteuropa) um Rohstoffe, Märkte und Transportwege ja erst noch bevor. Auch hört man häufig das Argument, die nukleare Bedrohung sei geringer geworden, weil ein Teil der Atomwaffen ausgemustert und verschrottet würden. Ja, das stimmt, nur ist es letztlich bedeutunglos. In der Zeit des Kalten Krieges hatten die Supermächte einen dutzendfachen atomaren Menschheits-Overkill aufgebaut. Er hat sich jedoch als unnötig erwiesen, zwei bis dreimal reicht doch auch, zumal die Bereithaltung so vieler Atomwaffen viel Geld kostet und Sicherheitsprobleme mit sich bringt. Leuten, die es nicht besser wissen, wird das als "Abrüstung" verkauft. An Warnern und Mahnern vor der nuklearen Gefahr hat es wahrlich nicht gefehlt. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur die Namen Michail Gorbatschow, Willy Brandt, Albert Einstein, Albert Schweitzer, Günther Anders, Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Carl Friedrich von Weizsäcker. Diese "Querdenker" haben viel bewirkt. Vielleicht verdanken wir ihnen, dass wir heute hier sitzen. Den Lemmingszug der Menschheit in den Abgrund der Selbstvernichtung haben sie jedoch nicht aufhalten können. In diesem Zusammenhang möchte ich Gandhi zu Wort kommen lassen: "Der Westen sehnt sich nach Weisheit. Er ist verzweifelt über die Vermehrung der Atombomben, denn Atombomben bedeuten völlige Vernichtung - nicht nur des Westens, sondern der ganzen Welt." Das sagte Gandhi im Jahre 1947, als es die sowjetische Atombombe überhaupt noch nicht gab. Was würde er wohl zur indischen Atombombe sagen? Hatte er doch geglaubt, aufgrund seines jahrzehntelangen gewaltfreien Kampfes für Indiens Unabhängigkeit sei das Land befähigt und berufen, der Welt auf dem Weg des Friedens voranzugehen.
Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage stieß ich vor 50 Jahren auf ein Buch des Verhaltensforschers Konrad Lorenz mit dem Titel "Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression". Die zentrale These von Lorenz lautet: In der Natur hat die intraspezifische Aggression, d.h. die gegen eigene Artgenossen gerichtete Aggression, eine eminent wichtige Funktion. Sie gehört, neben den Trieben zur Nahrungsaufnahme, zum Trinken, zum Schlafen und zur Fortpflanzung zur elementaren Triebausstattung der Tiere, zu denen ja auch der Mensch gehört - bei allen Unterschieden, die nicht geleugnet werden sollen. Die Aggression wirkt im Tierreich nicht destruktiv, sondern konstruktiv. Sie dient der Selbsterhaltung des einzelnen Tieres, der Fortpflanzung der Art und der Höherentwicklung des Lebens auf der Erde. Indem die Tiere ihr jeweiliges Revier gegen Eindringlinge verteidigen, sorgt der Aggressionstrieb dafür, dass sich die Art über ein größeres Territorium verbreitet und dient auf diese Weise der Arterhaltung. Eine nicht weniger wichtige Rolle spielt er bei den Rangkämpfen innerhalb des Rudels oder der Herde, vor allem aber bei den Kämpfen der männlichen um die weiblichen Tiere. Der Aggressionstrieb stellt sicher, dass sich die stärksten, schönsten und gesündesten Männchen mit den gesündesten und fruchtbarsten Weibchen paaren. So gesehen, ist er ein zentraler Bestandteil des alles beherrschenden Drangs zum Leben und zur Höherentwicklung, der die ganze Natur durchwaltet und der den wunderbaren Kosmos der Tier- und Pflanzenwelt hervorgebracht hat. Lorenz hebt hervor, dass es bei derartigen Kämpfen zwischen Artgenossen auch zu schweren Verletzungen, ja sogar zu Todesfällen kommen kann. Sie bilden jedoch die Ausnahme. Ganz anders beim Menschen. Der homo sapiens zeichnet sich dadurch aus, dass der Aggressionstrieb bei ihm nicht nur eine konstruktive, Leben erhaltende und fördernde, sondern auch eine höchst destruktive, weil Leben schädigende und vernichtende Rolle spielen kann. Allein der Mensch ist imstande, die höchsten Höhen der Humanität zu erklimmen, er ist aber auch dazu fähig, in die tiefsten Tiefen der Inhumanität abzugleiten. Die Weltkriege, Auschwitz und Hiroshima legen dafür ein beredtes Zeugnis ab. Nach Lorenz ist der Untergang der Menschheit im nuklearen Holocaust aber kein unabwendbares Schicksal, weil der Aggressionstrieb wie auch die übrige Triebausstattung von uns Menschen, wie ja auch die der Tiere - wenngleich in weit geringerem Maße - formbar ist. Je nach Veranlagung und Milieu, in dem die Menschen aufwachsen, entwickelt sich der Aggressionstrieb in eine konstruktive oder in eine destruktive Richtung. Die zweite Stufe ist die ritualisierte Aggression. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Aggression nach bestimmten Spielregeln ausgelebt wird. Mit dieser Form der Aggressionsbewältigung haben wir es bei Sport und Spiel zu tun. Beim Boxkampf, beim Ringkampf und beim Fußball ist das ja ganz augenfällig. Beim Fußball tritt der Spieler in Ermangelung eines Blechkanisters die Lederkugel, statt den Gegner in den Hintern zu treten - manchmal tritt er ihn auch vors Schienbein, was allerdings eine Verletzung der Spielregeln bedeutet und vom Schiedsrichter bestraft wird. Für die Zuschauer im Fußballstadion gilt übrigens das Gleiche. Über den Psycho-mechanismus der Identifikation erleben sie das Spiel auf dem Rasen gleichsam mit, als wären sie selbst daran beteiligt. Beobachten Sie einmal ein Fußballspiel oder, falls Sie selbst Fußballfan sind, beobachten Sie sich selbst beim Anschauen eines Fußballspiels und Sie werden sehen, wie viele Beispiele gelungener, aber auch misslungener ritualisierter Aggressionsabfuhr Sie erleben werden. Das Kartenspiel, das Schachspiel und die unzähligen Spiele, die wir kennen, sind gelungene, in seltenen Fällen aber auch misslungene Beispiele ritualisierter Aggression. Misslungene Aggressionsabfuhr liegt vor, wenn der Verlierer aus Wut über das verlorene Spiel auf den Gewinner losschlägt. Das Spiel ist sozusagen eine veredelte Form ritualisierter Triebabfuhr, beim Schachspiel eine veredelte Form des Zweikampfes mit Schild und Schwert, beim Fußballspiel eine veredelte Form militärischer Auseinandersetzung in Gestalt einer Schlacht. Nun noch ein Wort zur dritten Stufe der Aggressionsbewältigung - der Sublimierung. Nach Lorenz ist in allen Kulturleistungen sublimierte Aggression am Werk, ganz gleich ob es sich um den Bau romanischer Dome, gotischer Kathedralen, Barockschlösser oder moderner Wolkenkratzer handelt. Selbstverständlich gibt es derartige Zeugnisse nicht nur in unserem Kulturkreis, es gibt sie überall in der Welt. Denken Sie nur an die ägyptischen Pyramiden, die großartigen buddhistischen und hinduistischen Tempel, die islamischen Moscheen oder die Grabstätten chinesischer Kaiser. Aber auch allen übrigen kulturellen Leistungen, ob in Form technischer Erfindungen, in Literatur, Kunst und Wissenschaft liegt sublimierte Aggression zugrunde. Desgleichen in nahezu allen Formen sozial gebändigter Konfliktaustragung, zum Beispiel im Arbeitskampf, im Wettbewerb um Kunden oder im Wettbewerb um die Macht im demokratischen Rechtsstaat. Schon das Wort Aggression geht ja auf das lateinische aggredi zurück, das anpacken, ergreifen, angreifen bedeutet - wir packen eine Aufgabe an, wir ergreifen als Politiker die Macht oder wir greifen als Opposition die Regierung an, usw. Kurzum, die Aggression ist der kulturschaffende Antrieb im Menschen schlechthin - doch nur, wenn die Transformation des Aggressionstriebs in Richtung auf Umorientierung, Ritualisierung und Sublimierung gelingt. Ob sie gelingt, hängt in hohem Maße von jedem Einzelnen ab. Es macht einen Unterschied, ob Sie als Ehepartner, als Eltern, als Vorgesetzter, als Klinikschef oder als Mitglied in einem OP-Team denen, mit denen sie zusammenarbeiten, als verständnisvoller, aufmerksamer, selbstkritischer, geduldiger, vielleicht sogar als gütiger Partner begegnen, oder ob sie als autoritärer, strafender, intoleranter und ungeduldiger Mensch auftreten, denn durch Ihr Verhalten tragen Sie entscheidend dazu bei, ob Triebsublimation gelingt oder misslingt. Misslingende Triebsublimation kennen wir ja alle mehr als genug. Sie ist die Ursache so vieler Gewaltverbrechen, Kriege, Bürgerkriege, Aufstände und Terroranschläge in der Welt. Sie ist auch die Ursache für die atomare Bedrohung der Menschheit, von der ich anfangs sprach. Wir alle tragen durch unser Verhalten eine ungeheure Verantwortung für gelingende Triebsublimation - jeder an seinem Platz und in seinen sozialen Rollen. Die Aggression ist folglich, wenn sie gelingt, eine Kultur schaffende Kraft, wenn sie misslingt, eine Kultur zerstörende Kraft ohnegleichen. Sie ist es, die den Menschen weit über das Tier erhebt; sie ist es aber auch, die ihn tiefer erscheinen lassen kann als das Tier, wenn sie misslingt. Denn, so haben wir gesehen, im Tierreich wirkt der Aggressionstrieb von Natur aus konstruktiv. Erlauben Sie mir als blutigem Laien auf dem Gebiet der Chirurgie an dieser Stelle noch eine ganz persönliche Bemerkung. Ich denke, gerade Chirurginnen und Chirurgen müssen über einen starken Aggressionstrieb verfügen, denn einem Patienten ins Fleisch zu schneiden und ihm dadurch Schmerzen zu verursachen, erfordert nicht nur Sachverstand, Präzision, Sorgfalt und Geduld, sondern auch eine gehörige Portion konstruktiv gewendete Aggression. Denjenigen unter Ihnen, die sich mit Psychoanalyse beschäftigt haben, wird vieles von dem, was ich hier ausgeführt habe, bekannt vorkommen. In der Tat lässt sich die Psychoanalyse, wie sie von Sigmund Freud entwickelt wurde, als ein therapeutisches Verfahren zur Sublimierung des Sexualtriebs begreifen. So wie Lorenz den Aggressionstrieb in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte, so stellte Freud den Sexualtrieb in den Mittelpunkt seiner Forschung. Seine Lehre lässt sich meines Erachtens in dem Satz zusammenfassen: Gelungene Sublimierung des Sexualtriebs führt zu seelischer Gesundheit, misslungene Sublimierung zu seelischer Krankheit. Sie schadet nicht nur dem Einzelnen, sondern auch der Gesellschaft. Ich kehre damit zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück. "Sand im Getriebe der Welt sollt ihr sein." - Ja, durchaus, wenn damit gemeint ist: Leistet Widerstand gegen eine Welt, die darauf aus ist, Menschen zu unterjochen, zu versklaven, zu demütigen und auszubeuten. Doch Öl sollt ihr sein im Getriebe einer Welt, die sich darum bemüht, Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit; Frieden, soziale Gerechtigkeit und Solidarität; Demokratie, Menschenrechte und Naturerhalt zu verwirklichen. Dr. Wolfgang Sternstein (Stuttgart), ist Friedens- und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion. Seit 1975 ist er in der Bürgerinitiativen-, Ökologie- und Friedensbewegung aktiv. Er hat an zahlreichen gewaltlosen Aktionen teilgenommen, stand deswegen mehr als ein Dutzend Mal vor Gericht und war neunmal für sein gewaltfreies Engagement im Gefängnis. Er ist Vorsitzender und Mitarbeiter des Instituts für Umweltwissenschaft und Lebensrechte (UWI) und unter anderem Mitglied von Lebenshaus Schwäbische Alb. FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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