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Verfassungsschutz-Klausel gefährdet gemeinnützige Organisationen

36 NGOs kritisieren geplantes Steuergesetz 2013 / Offener Brief an Bundestagsabgeordnete

Zivilgesellschaftliche Organisationen haben sich gegen ein Gesetzesvorhaben gewandt, das dem Verfassungsschutz ermöglichen würde, de facto über den Fortbestand gemeinnütziger Organisationen zu entscheiden. Sie forderten die Bundestagsabgeordneten jetzt in einem offenen Brief auf, dem Steuergesetz 2013, das morgen in erster Lesung im Parlament debattiert wird, ihre Zustimmung zu verweigern ( http://kurzlink.de/Brief_MdBs ). Mit dem vorgelegten Gesetz will die Bundesregierung die Abgabenordnung (AO) so ändern, dass Organisationen, die in einem Verfassungsschutzbericht im Zusammenhang mit Extremismus genannt werden, die Gemeinnützigkeit ohne Prüfung entzogen wird (§ 51, Absatz 3, AO).

Initiatoren des offenen Briefes sind das globalisierungskritische Netzwerk Attac und die Umweltschutzorganisation Robin Wood. Zu den 36 Unterzeichnenden gehören unter anderem die Humanistische Union, Greenpeace, Medico International, der BUND, Pro Asyl, Lobby Control und das Komitee für Grundrechte und Demokratie.

"In den jährlich 17 Verfassungsschutzberichten von Bund und Ländern sind schon viele Organisationen aufgetaucht, ohne dass es konsistente Kriterien dafür gäbe", sagte Jutta Sundermann von Attac. "Das Problem beginnt bereits beim Begriff ‘Extremismus’. Mehrere Gutachten, darunter eines vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, haben festgestellt, dass die vom Verfassungsschutz verwendete Bezeichnung ‘Extremismus’ kein definierter Rechtsbegriff ist. Er wird in keinem einzigen Gesetzestext verwendet - mit Ausnahme der Abgabenordnung!"

Daniel Häfner von Robin Wood ergänzte: "Betroffene Organisationen würden nicht einmal angehört. Der Verfassungsschutz wäre damit Kläger und Richter zugleich - und müsste nicht einmal seine Quellen offenlegen. Das widerspricht rechtsstaatlichen Prinzipien und würde dem Verfassungsschutz eine inakzeptable Macht über einen wichtigen Teil der Zivilgesellschaft geben."

Der Verlust der Gemeinnützigkeit würde für viele Organisationen das Aus bedeuten: Spenden an sie wären nicht mehr steuerlich absetzbar, die Befreiung von der Körperschaftssteuer wäre aufgehoben, und unter Umständen würden hohe Steuernachforderungen fällig.

Die geplante Änderung verschärft eine Regelung, die erst 2009 in die Abgabenordnung aufgenommen wurde. Dazu Jutta Sundermann: "Schon da hat sich gezeigt, dass die rechtliche Auseinandersetzung um die Gemeinnützigkeit im Einzelfall länger dauert, als eine betroffene Organisation unter erschwerten Bedingungen finanziell überleben kann."

Deshalb fordern die Unterzeichner des Briefes, den betreffenden Paragrafen ganz aus der Abgabenordnung zu streichen.

Quelle:  Attac Deutschland und Robin Wood - Pressemitteilung vom 27.06.2012.

 

OFFENER BRIEF zur 1. Lesung des Jahressteuergesetzes 2013 am 28.06.2012 im Deutschen Bundestag

Verfassungsschutz und Gemeinnützigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen

26. Juni 2012

Sehr geehrte Damen und Herren Mitglieder des Bundestags,

am 28. Juni wird das Jahressteuergesetz 2013 in erster Lesung im Plenum des Deutschen Bundestages debattiert. In diesem Zusammenhang möchten wir, verschiedene als gemeinnützig anerkannte und bundesweit arbeitende Nichtregierungsorganisationen, Sie auf eine Klausel in der Abgabenordnung (AO) aufmerksam machen, die durch das vorgelegte Gesetz geändert werden soll. Diese neue Klausel würde dem Verfassungsschutz ermöglichen, ohne Anhörung der Betroffenen, faktisch über den Fortbestand und die Existenz einzelner gemeinnütziger Organisationen zu entscheiden (§ 51 Abs. 3 AO). Dies würde eklatant gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen.

Wir rufen Sie dazu auf, Ihre Stimme dem Gesetzesvorhaben zu verwehren und sich darüber hinaus für die ersatzlose Streichung des § 51 Abs. 3 AO einzusetzen!

Erläuterung

In § 51 Abs. 3 AO heißt es seit 2009 in Satz 3 in Bezug auf die Voraussetzungen der Steuerbegünstigung: "Bei Körperschaften, die im Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als extremistische Organisation aufgeführt sind, ist widerlegbar davon auszugehen, dass die Voraussetzungen des Satzes 1 nicht erfüllt sind."

Durch die in der Gesetzesvorlage vorgesehene Streichung des Wortes ‚widerlegbar’ würde, bei (auch unbestimmter) Nennung einer als gemeinnützig anerkannten Organisation in einem der 17 jährlich veröffentlichten Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder, bei den Finanzämtern der Automatismus einer Versagung der Steuervergünstigungen ausgelöst. Der bisherige Ermessensspielraum der Finanzämter vor Ort entfiele ebenso wie die Möglichkeit der betroffenen Organisation, bei Finanzgerichten Rechtsschutz zu suchen.

Der 2009 eingeführte § 51 Abs. 3 AO bewegt sich generell in einer juristischen Grauzone, da der verwendete Begriff ‚Extremismus’ ein unbestimmter Rechtsbegriff ist. Dies eröffnet der Willkür Tür und Tor (siehe Anlage). Jüngst haben mehrere Gutachten, darunter eines vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, festgestellt, dass die vom Verfassungsschutz verwendete Bezeichnung ‚Extremismus’ kein definierter Rechtsbegriff ist. Dementsprechend wird er in keinem einzigen Gesetzestext verwendet - mit Ausnahme der AO seit 2009. Hinzu kommt, dass die Erwähnung von Organisationen in den Verfassungsschutzberichten keinen konsistent definierten Kriterien folgt.

Laut Bundesverfassungsgericht ist die Bezeichnung ‚extremistisch’ ausdrücklich "eine Frage des politischen Meinungskampfes und der gesellschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzung. Sie steht in unausweichlicher Wechselwirkung mit sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Kontexten und subjektiven Einscha¨tzungen" (1 BvR 1106/08, 08.12.2010).

Es besteht zwar die Möglichkeit, gegen die Nennung im Verfassungsschutzbericht vor dem Verwaltungsgericht zu klagen - was bereits in vielen Fällen erfolgreich getan wurde. Aber solche Verfahren ziehen sich oft über Jahre und brauchen finanzielle Ressourcen, die einer Organisation durch den Entzug der Gemeinnützigkeit gerade genommen werden. Ein solcher Entzug hätte zur Folge, dass eine Organisation zum einen nicht länger von der Körperschaftssteuer befreit wäre und zum anderen, dass Spenden an diese Organisation nicht mehr steuerlich abgesetzt werden könnten. Durch eine bloße Erwähnung in einem der Verfassungsschutzberichte könnte der VS also einen gemeinnützigen Verein - umgehend und ohne weitere Anhörung der Betroffenen - in der Existenz gefährden und der Insolvenz nahe bringen. Dies kann nicht Sinn und Funktion der Regelungen zur Gemeinnützigkeit sein. Bürgerschaftliches Engagement und zivilgesellschaftliche Arbeit sind konstitutiv für unsere demokratische Gesellschaft: Die Versagung von Gemeinnützigkeit verhindert die Beteiligung an der Gestaltung unseres Gemeinwesens!

Daher fordern wir Sie auf, der geplanten Änderung des § 51 Abs. 3 AO nicht zuzustimmen. Darüber hinaus muss der gesamte Absatz ersatzlos gestrichen werden. Es gibt keinerlei Legitimation dafür, dass ein Inlandsgeheimdienst über die Grenzen der demokratischen Zivilgesellschaft bestimmen und einzelne zivilgesellschaftliche Organisationen ohne feste Kriterien und ohne Anhörung der Betroffenen oder Verfahren existenziell gefährden kann.

Mit freundlichen Grüßen

Erstunterzeichner:

  • .ausgestrahlt e.V.
  • Arbeitsgemeinschaft Schacht KONRAD e.V.
  • Attac Deutschland
  • Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag (BER)
  • Bewegungsstiftung
  • Bremer entwicklungspolitisches Netzwerk (BEN)
  • Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND)
  • Campact e.V.
  • Christliche Initiative Romero (CIR)
  • Engagierte Wissenschaft e.V.
  • Europäische Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt e.V. (EJDM)
  • FoeBuD e.V.
  • Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB) e.V.
  • Greenpeace e.V.
  • Hamburgs aktive Jurastudierende
  • Humanistische Union e.V.
  • Informationsbüro Nicaragua e.V.
  • INKOTA-Netzwerk e.V.
  • Internationale Liga für Menschenrechte
  • Interkultureller Rat in Deutschland e.V.
  • JG Stadtmitte Jena
  • Komitee für Grundrechte und Demokratie
  • LobbyControl - Initiative für Transparenz und Demokratie
  • medico international
  • NaturFreunde Deutschlands
  • Netzwerk Friedenskooperative
  • Neue Richtervereinigung - Zusammenschluss von Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten e.V. (NRV)
  • Ökumenisches Büro für Frieden und Gerechtigkeit e.V.
  • Pro Asyl
  • Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.
  • ROBIN WOOD - Aktionsgemeinschaft für Natur und Umwelt e.V.
  • Soziokulturelles Zentrum Conne Island (Projekt Verein e.V.)
  • Städtepartnerschaftsverein Wuppertal-Matagalpa e.V.
  • urgewald e.V.
  • Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V.
  • WEED - Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung e.V.

Gutachten und Kommentare:

Dr. Dirk Jeschke, Verstöße gegen die Rechtsordnung und Extremismus im Gemeinnu¨tzigkeitsrecht. Zur neuen Regelung des § 51 Abs. 3 AO, in Deutsches Steuerrecht 2009, S. 1669-1677.

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages (Regierungsdirektor Harald Georgii), Bekenntnisklausel im Zuwendungsbereich, WD 3 - 3000 - 505/10.

Prof. Dr. Dr. h. c. Ulrich Battis: Gutachten zur Zulässigkeit der ‘Extremismusklausel’ im Bundesprogramm ‘Toleranz fördern - Kompetenz stärken’, Berlin 2010.

Prof. Dr. Dietrich Murswiek: Verfassungsschutz durch Information der Öffentlichkeit - Zur Entwicklung der Verfassungsschutzberichte seit dem JF-Beschluss, in: Informationsfreiheit und Informationsrecht. Jahrbuch 2009. Berlin 2009, S. 57-104.

Ron Steinke: Wer wird Verfassungsfeind? Zur ‘freien’ Deutungshoheit der Verfassungsschutzämter, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 93 (2/2009), S. 47-52.

Liebscher, Doris: Wieviel Demokratie verträgt die fdgO? In: Weiterdenken - Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen u.a. (Hg.): Ordung und Unordnung (in) der Demokratie. Dresden 2011, S. 83-101.

Weitere Informationen:

Veröffentlicht am

27. Juni 2012

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