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Grundeinkommen: Vertrauen statt Gängeln

In dem kleinen brasilianischen Dorf Quatinga Velho haben Aktivisten ein Projekt gestartet, das die Wirksamkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens in der Praxis erproben sollte. Die Ergebnisse sind ermutigend: Die Menschen ruhen sich nicht in der "sozialen Hängematte" aus, sondern nehmen ihr Leben aktiv in die eigenen Hände.

Von Roland Rottenfußer

Irene wohnte mit ihrem Mann und den Kindern in einer windigen, selbst gezimmerten Holzhütte. Grundfläche: kaum neun Quadratmeter. Nachts schliefen sie dicht gedrängt auf der nackten Erde. Das Essen ging in Irenes Familie oft schneller zur Neige als der Hunger der sieben Sprösslinge. Solche Schicksale sind bis heute nicht selten in den ärmlichen Urwalddörfern Brasiliens, rings um die pulsierenden Metropole Sao Paolo. Die Einwohner sind einfache Landarbeiter, Tagelöhner oft - wenn sie überhaupt das Glück haben, arbeiten zu können. Als das Geld kam, kauften Irene und ihr Mann zuerst Zement und Steine. Ein neues Haus entstand, stabiler, geräumiger. Heute fließt das zusätzliche Geld vor allem in Lebensmittel. Niemand hungert mehr. "Ich weiß nicht, wie wir es ohne das Grundeinkommen geschafft hätten", sagt die Frau.

Geschichten wie diese gibt es viele in dem 100-Seelen-Dorf Quatinga Velho. Mutter und Vater des kleinen Wirtschaftswunders sind Bruna Augusto Pereira und Marcus Vinicius Brancaglione dos Santosaus. Im Alleingang hatte das junge Paar dort ein Projekt zum Bedingungslosen Grundeinkommen gestartet, das nun seit 2008 läuft. Die Einwohner der Gemeinde erhalten für unbegrenzte Zeit monatlich 30 Real (ca. 12 Euro) pro Person. Ohne Ausnahme und ohne Bedingung. Jedes Kind einer Familie hat Anspruch auf sein eigenes Einkommen. Das Geld wird jeden Monat von den Initiatoren direkt an die Empfänger ausgezahlt. Bruna fährt an jedem Monatsanfang in ihrem kleinen Fiat über die Urwaldpiste zum Dorfplatz. Im Handschuhfach hat sie Geldscheine, säuberlich gebündelt und mit Büroklammern zusammengehalten. Niemand braucht ein Bankkonto oder muss auf dem Flur einer Behörde Schlange stehen.

Nicht warten - einfach machen!

In einem Waldorf-Gymnasium in München waren die beiden jungen Leute Anfang 2009 vor interessiertem Publikum aufgetreten: Beide braunhaarig, schlank, attraktiv, vor allem ungemein begeistert von dem, was sie erzählten. Eine Art Tournee durch Westeuropa sollte Spendengelder einsammeln und Menschen die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens nahe bringen. Ein Kurzfilm entführte die Zuschauer in die nüchterne und doch anrührende Welt von Quatinga Velho: Man sah Bretterverschläge hinter Stacheldraht, klobige Häuser mit roter Lehmverkleidung und Mauern aus nacktem, weißem Ziegel. Dazwischen Palmen oder Ficus-Gewächse. Muntere Kinder, Latinos und Schwarze bunt gemischt, flirten mit der Kamera und zeigen ihr neu erworbenes Spielzeug. Die Gesichter alter Männer und Frauen, gegerbt von den Mühen des täglichen Überlebenskampfes. Hunde, die ihn der Sonne dösen und einander lecken. Dann Bruna und Marcus, wie sie lachenden Bewohnern Geld über den Gartenzaun reichen.

Auch dieses für deutsche Maßstäbe eher karge Idyll hat in Brasilien Seltenheitswert. Dabei sind im größten Land Südamerikas sowohl eine allgemeine Sozialhilfe ("bolsa familia") als auch ein Bedingungsloses Grundeinkommen ("renda básica") Gesetz. Das letztere mag überraschen. Vater der Idee ist Senator Eduardo Suplicy, der sich jahrelang unermüdlich für ein Grundeinkommen eingesetzt hatte. Der 69-jährige hatte sein Erweckungserlebnis, als er ein brasilianisches Jugendgefängnis besuchte: "Die meisten sagten mir, sie hätten niemanden überfallen, wenn die Familie genug zu essen gehabt hätte." Leider gibt es das brasilianische Grundeinkommen jedoch bisher nur auf dem Papier. Eine Klausel im Gesetz (die renda básica solle "schrittweise" eingeführt werden) schiebt die Umsetzung auf die lange Bank. Eine sehr lange Bank, wenn man die klammen Haushalte des Landes betrachtet. "Wer weiß, ob es jemals dazu kommt", sagt Bruna. Auch die bolsa familia wird von vielen Bedürftigen bisher nicht in Anspruch genommen: Sie sind zu arm, um sich die Busfahrt zu nächsten Amt leisten zu können und das Geld abzuholen, das ihre Armut lindern würde.

Bruna und Marcus, beide um die 30, lernten sich als Angestellte einer Umweltorganisation kennen. "Wir verteilten Flyer zum Thema Recycling. Die Leute sollten Müll trennen, aber sie hatten Hunger", erzählt Bruna. Daraufhin befassten sie sich näher mit der Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens nach den Vorstellungen von Eduardo Suplicy. "Was sonst kann so schnell und effektiv die Armut lindern?" Sie beschlossen, nicht zu warten, bis sich "die da oben" des Problems annehmen würden. Besser selbst tätig werden und erst mal irgendwo im Kleinen beginnen. Bruna und Marcus kündigten ihre Jobs und ließen sich auf ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang ein. In dem Häuschen, das sie gemietet haben, steht mit Kreide an der Wand ein Satz des französischen Schriftstellers Jean Cocteau: "Weil sie nicht wussten, dass es unmöglich war, gingen sie hin und machten."

Die beiden gründeten die Organisation Recivitas und suchten zuerst nach einem Ort für ihr Pilotprojekt. Zu groß durfte er nicht sein, denn das Geld sollte zunächst aus eigener Tasche und von privaten Spendern kommen. Quatinga Velho in den Bergen bei Sao Paulo schien das passende Format zu haben. 100 Menschen, meist schlecht verdienende Erntehelfer und ihre Familien. Eine kleine Kirche. Zum Einkaufen mussten die Einwohner ins Nachbardorf fahren. Zuerst galt es das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Bruna und Marcus sammelten Spielzeugspenden: Comics, Puzzles, einen Modell-Traktor, Stoff-Eichhörnchen. Für viele Kinder in Quatinga Velho war es das erste Spielzeug, das sie je in Händen hielten. So kam man ins Gespräch. Mit ihrem eigentlichen Anliegen rückten die Aktivisten nicht sofort heraus. Zuerst musste mehr Geld zusammen kommen, das sie bei Unternehmen, Verwandten und Freunden sammelten.

Ein Dorf blüht auf

Schließlich kam der große Tag. "Wir sind von Hütte zu Hütte gegangen und haben jeden einzelnen Einwohner zu einer Versammlung eingeladen." Bruna und Marcus erklärten im Versammlungshaus, dass jeder Bewohner von nun an monatlich 30 Real als Grundeinkommen erhalten sollte. Ohne Gegenleistung. Einfach so. Man würde nun annehmen, dass es zu einem "Run" auf das leicht verdiente Geld kam. Doch nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein. Die Dorfbevölkerung zierte sich und ließ sich umwerben. Mara, eine Mutter von zwei Kindern, erinnert sich: "Wahrscheinlich dachten Bruna und Marcus, wir würden sie vor Freude umarmen. Aber wir glaubten kein Wort." Manche argwöhnten, die beiden Aktivisten seien Politiker auf Stimmenfang. Oder die Mafia wolle mit ihrer Hilfe schmutziges Geld waschen.

Mara und ihr Mann Sergio waren stolz, sich aus eigener Kraft über Wasser halten zu können. Sie stammten aus den Favelas (Slums) von Sao Paolo und lebten auf dem Land notdürftig von Gemüse- und Zuckerrohr-Anbau. Was das Elternpaar dann überzeugte: Sie konnten mit ihren eigenen Einkünften zwar überleben, ihren Kindern jedoch keine Zukunftsperspektiven bieten. Heute verfügt die Familie u.a. über einen Computer. Nur 27 Bürger nahmen an dem Experiment von Anfang an teil. Über 60 sind es heute. Manche sind indes noch immer zu stolz, um das Geschenk anzunehmen.

Gegner der Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens müssen umdenken: Die Annahme, dass es zu einem "Schmarotzer-Ansturm" auf das Geld kommen würde, konnte durch das Experiment ebenso widerlegt werden wie ein anderer, oft geäußerter Einwand: Wenn es Geld umsonst gäbe, würde ja niemand mehr arbeiten. Tatsächlich sind die 12 Euro natürlich nicht genug für ein Dasein als Frührentner. Es ist allerdings auf dem Land in Brasilien durchaus eine ansehnliche Summe. Die Bewohner von Quatinga Velho investierten ihr Geld zum großen Teil für den Bau menschenwürdiger Wohnungen, in Essen und Transport. So war es vielen Menschen erstmals möglich, die Preise für Busfahrten zu bezahlen und zu Bewerbungsgesprächen zu fahren. In Zahlen sind die Erfolge des Experiments nur schwer zu messen. In Quatinga Velho gibt es ja keine Läden, der Geldfluss kommt auch den Nachbarorten zugute. Aber: "Viele Kinder haben zum ersten Mal Schuhe und sie sind besser ernährt als früher", hat Bruna beobachtet.

Zudem wurden viele (wie man bei uns sagen würde) "Ich-AGs" gegründet. Eine Frau baute einen Hühnerstall und verkauft seither erfolgreich Eier in der Nachbarschaft. Zuvor waren für sie nicht einmal die minimalen Investitionen erschwinglich, die dafür nötig sind. Die Schlussfolgerung der Initiatoren: Menschen benötigen keine Bevormundung durch den Staat. Wenn sie die nötigen Mittel in die Hände bekommen, wissen sie selbst am besten, was zu tun ist. Das Bedingungslose Grundeinkommen hatte in der brasilianischen Ortschaft also eindeutig aktivierend, nicht lähmende Funktion. Den Erfolg ihres Projekts führen Bruna und Marcus vor allem darauf zurück, dass jemand, der den Menschen Positives zutraut, auch Positives erntet. "Vertrauen schafft Vertrauen." Auch das Verhalten der Dorfbewohner untereinander hat sich geändert: Man unterstützt sich gegenseitig mehr. "Wenn man Hunger hat, dann ist es schwer, an anderes zu denken", erklärt Bruna.

Die Furcht vor der Freiheit

Mündige Bürger, die frei von Existenzangst und staatlicher Gängelung ihr Leben in die Hand nehmen - warum haben Politiker, auch hierzulande, solche Angst davor? Deutschland geht derzeit den umgekehrten Weg: Inflationsbereinigt sinkende Sozialleistungen bei gleichzeitig zunehmender Demütigung der Bedürftigen. Es fehlt das Verständnis dafür, dass Armut, gefühlte Chancenlosigkeit und Marginalisierung bei den Menschen wachsende Lähmung und Lethargie auslösen können. Dieses Problem ist nicht durch forsche Motivationsparolen sozial blinder Politiker zu lösen, sondern durch praktische Hilfe, die den Menschen mehr Selbstwert und Vertrauen schenkt.

Die Wirtschaft stellt immer mehr Waren mit der Arbeitskraft von immer weniger Menschen her. Folgt man der Logik der Arbeitsgesellschaft, ist dies eine Tragödie, für den gesunden Menschenverstand wäre es eigentlich ein Grund zur Freude. Die französische Schriftstellerin Viviane Forrester schrieb in "Der Terror der Ökonomie": "Sollte die Erlösung vom Arbeitszwang, vom biblischen Fluch, nicht logischerweise dazu führen, die eigene Lebenszeit freier einteilen, freier durchatmen zu können?" Statt mehr Freiheit hat die industrielle Massenproduktion aber nur zweierlei bewirkt: mehr Unfreiheit für die vom Arbeitsprozess Ausgeschlossenen und mehr Leistungsdruck auf jene, die man gnädigerweise noch an ihm teilhaben lässt. Wer hätte gedacht, schreibt Forrester, "dass eine Welt, die auch ohne den Schweiß auf der Stirn so vieler Menschen auszukommen vermag, sogleich zur Beute einiger weniger würde und dass man nichts Dringlicheres zu tun haben würde, als die überflüssig gewordenen Arbeiter gnadenlos in die Enge zu treiben."

Das Bedingungslose Grundeinkommen ist eine mögliche Antwort auf die Herausforderung einer sich rasant verändernden Welt. Götz Werner, Chef der Drogeriekette dm, gehört zu den profiliertesten Vertretern der Idee in Deutschland: "Denn das Recht auf Freiheit beinhaltet sehr wesentlich das Recht, nein sagen zu können." Auch der ehemalige Thüringische Ministerpräsident Althaus (CDU) propagierte ein Grundeinkommen ("Bürgergeld"). Gegen Vorschläge von "Rechts" erheben aber diejenigen Einwände, die mit dem BGE vor allem die Position der Arbeitnehmer stärken wollen. Ein zu geringes, nicht durch andere Sozialreformen flankiertes Grundeinkommen könnte Lohndumping finanzieren und dazu führen, dass andere Sozialleistungen gestrichen werden, während die oberen Einkommensgruppen weiter ungeschoren blieben. So argumentiert u.a. die Vorsitzende der Partei "Die Linke", Katja Kipping. Sie versuchte bisher vergebens, in ihrer Partei einen Konsens über das BGE herzustellen. Zum Zukunftsmodell könnte die Idee vor allem auch dank der Piratenpartei werden. Die Freibeuter, derzeit in Umfragen die viert stärkste Partei, nahmen das Grundeinkommen im Dezember 2011 in ihr Programm auf.

In Claus Strigels neuem Dokumentarfilm "Freigestellt" (Start im Herbst) kritisierte Götz Werner die Fixierung der öffentlichen Meinung auf das Thema Geld. Man solle nicht fragen, ob genug Geld für das BGE da sei, sondern ob genug Waren und Dienstleistungsangebote vorhanden seien, um alle Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Diese Frage könne mit "ja" beantwortet werden. Alles sei also eine Frage der Organisation und der Verteilung. In der alten Ordnung gilt Arbeit als einzige Legitimation, um zu existieren. In der Folge werden verstärkt unnütze oder schädliche Produkte hergestellt, damit jeder - egal was - arbeiten kann. Hier ist eine radikale Trendumkehr notwendig: Weniger Arbeit wagen! Ziel einer neuen Ordnung wäre nicht mehr Vollbeschäftigung, sondern die Vollversorgung der Bürger mit allen wirklich wichtigen Gütern und Dienstleistungen. Anzustreben wäre außerdem eine optimale Balance zwischen Freizeit und erfüllter Arbeit.

Namibia - der Pionier

Große Visionen wie diese können aufzeigen, wo die Reise hingeht. Der lange Weg zum Umbau der Arbeitsgesellschaft muss allerdings mit ersten, konkreten Schritten beginnen. Deshalb sind Pionier-Projekte wie das in Quatinga Velho so wichtig. Wünschenswert wären möglichst viele Experimente mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen überall auf der Welt - in armen wie in reichen Staaten. Die Aktivisten könnten ihre Erfahrungen austauschen und auf "Best Practices" zurückgreifen. Ansätze dazu gibt es schon. Als weltweit bekanntestes derartiges Projekt gilt Otjivero in Namibia. Dort werden seit 2008 monatlich 100 namibische Dollar (ca. 9 Euro) ausgezahlt. BIG wird das Grundeinkommen dort genannt: Basic Income Grant.

Das Experiment, an dem immerhin 1200 Menschen beteiligt sind, kann als überaus erfolgreich gewertet werden. Eine Studie, die nach sechs Monaten Laufzeit erstellt wurde, berichtet, dass sich die Nahrungsmittelsicherheit der Bevölkerung von 20 auf 60 Prozent erhöht habe. Der Lebensmittelmangel sei von 30 auf 12 Prozent zurückgegangen. Doppelt so viele Kinder wie vor dem Experiment hätten die Schule besucht. Auch die armutsbedingte Kriminalität sei stark zurückgegangen: von 28 auf 11 Fälle. Herbert Jauch vom Arbeitsforschungsinstitut LaRRi folgert daraus: "Mit dem Wissen über die Ergebnisse der Studie ist es jetzt sogar kriminell, BIG für ganz Namibia nicht zu unterstützen." Nikolaus Schneider, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, bereiste das bitter arme Land (52 Prozent Arbeitslosigkeit) und war von dem Projekt begeistert: "BIG hat euch nicht reich gemacht, aber euch Würde gegeben", sagte er zu den Dorfbewohnern.

Leider steht das Projekt schon wieder auf der Kippe. Den Initiatoren, evangelische Kirche, Gewerkschaften und Nicht-Regierungs-Organisationen, geht das Geld aus. Ein Versiegen des Geldflusses wäre für das Dorf eine Katastrophe, da sich der kleine Wirtschaftkreislauf ohne Infusion von außen noch nicht selbst trägt. Eine vergleichbare Erfahrung hatte ein Pilotprojekt in Sambia schon 2004 bis 2007 gemacht. Der finanzielle Träger, die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) hatte sich plötzlich aus dem Projekt zurückgezogen. Diskutiert wird ein Grundeinkommen derzeit in vielen weiteren Ländern, so auch in Indien und Südafrika.

Jedes gelungene Experiment schwächt allerdings die Position jener, die daran interessiert sind, dass die Ärmeren im Land erpressbar bleiben. Der Demütigungs-Parcours, dem Hartz-IV-Empfänger ausgesetzt sind, trägt als Drohkulisse auch zur Disziplinierung der Menschen bei, die Arbeit haben. Ende Mai rechnete das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vor: Fast 900.000 Geringverdiener in Deutschland arbeiten wöchentlich 50 und mehr Stunden, um mit ihren Familien überhaupt über die Runden zu kommen. Selbst miese Jobs erscheinen als das kleinere Übel, verglichen mit der Hartz-IV-Hölle. Könnten mehrere großflächige Experimente beweisen, dass sich Bezieher eines Grundeinkommens nicht auf der "sozialen Hängematte" ausruhen, gingen denen, die eine solche Welt wollen, wohl die Argumente aus.

Konkrete Projekte gegen "Alternativlosigkeit"

Bruna Augusto Pereira und Marcus Vinicius Brancaglione dos Santosaus denken jedenfalls nicht daran, aufzugeben. Sie wollen weitere Projekte dieser Art stemmen. Derzeit steht nur noch die Finanzierung auf wackligen Beinen. Schon ihr erstes, noch laufendes Experiment bedeutet jedoch einen Durchbruch und lässt einige weit reichende Schlussfolgerungen zu. Als erstes bewies das Aktivistenpärchen: Grundeinkommens-Projekte sind nicht von der Einsicht einer Mehrheit der nationalen Parlamente abhängig. Nicht einmal potente Großorganisationen oder NGOs sind nötig. "Normale" Bürger können damit aus eigener Initiative im kleinen Rahmen beginnen. Falls kein reicher Großspender auftritt, können auch viele kleine Spender das nötige Geld auftreiben. Für Menschen mit politischem Bewusstsein sind Grundeinkommens-Projekte attraktive Spendenziele. Sie sind sowohl unter karitativen als auch unter strategischen Gesichtspunkten sinnvoll.

Vor allem aber: Die herkömmlichen sozialstaatlichen "Lösungen" verlieren den Nimbus der "Alternativlosigkeit". Man hört viele Einwände gegen das Bedingungslose Grundeinkommen. Viele von ihnen klingen in der Theorie auch einleuchtend. Gegner schaffen es immer wieder, die "Mittelschicht" gegen die "Unterschicht" aufzuhetzen: das Grundeinkommen sei eine Form der Enteignung der anständig Arbeitenden u.ä. Solchen Argumenten kann man mit Blick auf die Experimente von Namibia und Brasilien entgegnen: "Schau dir die Praxis an: Menschen geht es besser. Sie haben etwas aus ihrem Leben gemacht. Sie haben jetzt Geld für Bewerbungen und Fahrten zum Arbeitsplatz. Sie geben Geld aus und schaffen damit auch für anderen Menschen Einkommen." Es wird ja zu wenig beachtet, dass man nicht nur Arbeit braucht, um Geld zu erhalten, sondern auch Geld, um zu arbeiten. Denn Geld ist nötig, um den Körper arbeitsfähig zu halten, vorzeigbare Kleidung zu kaufen oder den Weg zum Arbeitsplatz zurückzulegen.

Eine weitere, sehr erfreuliche Entwicklung hat sich in Quatinga Velho gezeigt: Wie Bruna und Marcus berichten, haben einzelne Bürger, die durch das Grundeinkommen sozial aufgestiegen sind, ihrerseits Geld in den Fonds eingezahlt und so dazu beigetragen, dass das Projekt weiter laufen kann. Ihre Motivation ist klar: "Mir wurde geholfen, als es mir schlecht ging. Jetzt geht es mir besser, also helfe ich anderen." Wenn ausreichend viele Empfänger so verantwortungsbewusst handeln, könnte dies die Finanzierung und Ausweitung solcher Projekte erheblich erleichtern. Diese könnten sich irgendwann selbst tragen, ohne dass eine Dauerabhängigkeit von externen Geldgebern entsteht.

Dennoch ist jede Unterstützung - auch aus dem Ausland - natürlich derzeit willkommen. Die Kölner Initiative Grundeinkommen www.bgekoeln.de hat eine Partnerschaft mit der brasilianischen Trägergruppe gegründet, sammelt Spenden und wirbt Dauersponsoren, vergleichbar mit Kinder-Patenschaften zugunsten von Ländern des Südens. Die grundlegende Erkenntnis dahinter ist: Ein gelungenes Experiment - egal wo auf der Welt - hilft auch der deutschen Bewegung für ein Grundeinkommen, langfristig sogar der ganzen "Menschheitsfamilie".

Literatur:

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 29.06.2012. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Roland Rottenfußer.

Veröffentlicht am

31. Juli 2012

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