Uri Avnery: Noch ein überflüssiger KriegVon Uri Avnery, 17.11.12 WIE HAT er angefangen? Eine dumme Frage! Auseinandersetzungen entlang des Gazastreifens beginnen nicht. Sie sind nur eine anhaltende Kette von Vorfällen, von denen behauptet wird, sie seien nur "Vergeltungen" für den letzten Vorfall. Einer Aktion folgt eine Re-Aktion, der wieder eine Vergeltung folgt, usw., usw. Dieser besondere Vorfall "begann" mit dem erfolgreichen Abfeuern einer Antipanzerrakete aus Gaza auf ein gepanzertes Militärpatrouillenfahrzeug auf der israelischen Seite des Grenzzauns. Es wurde behauptet, es sei die Vergeltung für das Töten eines Fußball spielenden Jungs ein paar Tage zuvor. Aber wahrscheinlich war das Timing der Aktion zufällig - die Gelegenheit hat sich so ergeben. Der Erfolg führte in Gaza zu Demonstrationen der Freude und des Stolzes. Wieder einmal haben Palästinenser ihre Fähigkeit gezeigt, den gehassten Feind zu schlagen. DOCH SIND die Palästinenser tatsächlich in eine sorgfältig gelegte Falle geraten. Ob der Befehl von der Hamas gegeben worden war oder von einer kleineren extremeren Organisation - es war nicht klug, dies zu tun. Über die Grenze auf ein Armeefahrzeug zu schießen, war wie das Überschreiten einer roten Linie (der Nahe Osten ist voll roter Linien). Eine größere israelische Reaktion folgte bestimmt. Es war eher Routine. Israelische Panzer schossen wie gewöhnlich Granaten in den Gazastreifen. Hamas feuerte Raketen auf israelische Städte und Dörfer. Hundert Tausende Israelis eilten in ihre Schutzkeller. Schulen wurden geschlossen. Wie üblich traten Ägypter und andere Vermittler in Aktion. Hinter den Kulissen wurde eine neue Feuerpause arrangiert. Sie schien vorbei zu sein. Noch so eine Runde. Die israelische Seite tat alles, um zur Normalität zurückzukehren - so schien es wenigstens. Der Ministerpräsident und der Verteidigungsminister gingen ihren Weg (zur syrischen Grenze), um zu zeigen, dass sie nicht an Gaza dachten. Auch im Gazastreifen atmete man auf. Menschen verließen ihren Schutzraum. Ihr oberster militärischer Kommandeur Ahmad Ja’abari stieg in seinen Wagen und fuhr die Hauptstraße entlang. Und dann schnappte die Falle zu. Der Wagen des Kommandeurs wurde von einer Rakete aus der Luft getroffen. SOLCH EIN Anschlag geschieht nicht spontan. Er ist der Höhepunkt von monatelangen Vorbereitungen, während denen man Informationen sammelt und auf den rechten Augenblick wartet, wann er ausgeführt werden kann, ohne viele Umstehende zu töten und einen internationalen Skandal auszulösen. Eigentlich sollte er einen Tag früher stattfinden, wurde dann wegen schlechten Wetters verschoben. Ja’abari war der führende Kopf hinter allen militärischen Aktivitäten der Hamas in Gaza, einschließlich der Gefangennahme von Gilat Shalit und dem fünf Jahre langen Geheimnis seines Verstecks. Er wurde bei der Entlassung Shalits an die Ägypter fotografiert. Dieses Mal waren es die Israelis, die jubilierten. So wie die Amerikaner nach dem Anschlag an Osama bin-Laden. DAS TÖTEN von Ja’abari war der Startschuss für die geplante Operation. Der Gazastreifen ist voller Raketen aller Arten, einige von ihnen sind in der Lage, Tel Aviv zu erreichen, das etwa 40 Kilometer weit weg liegt. Das israelische Militär hat seit längerem eine größere Operation geplant, um aus der Luft so viele Raketen wie möglich zu zerstören. Der Nachrichtendienst hat geduldig Informationen über ihre Bleibe gesammelt. Dies ist der Zweck der "Wolkensäule-Operation ("Und der Herr ging vor ihnen her am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen" - Exodus 13,21). Ich weiß noch nicht, während ich dies schreibe, wie die ganze Sache enden wird. Doch können einige Schlüsse schon gezogen werden. ZUNÄCHST: dies ist keine "Cast-Lead" II Operation. Weit davon entfernt. Die israelische Armee hat aus ihren Misserfolgen gelernt. Cast Lead wurde als großer Erfolg gefeiert; in Wirklichkeit war es eine Katastrophe. Soldaten in ein dicht bevölkertes Gebiet zu schicken, bedeutet große Verluste unter der Zivilbevölkerung zu verursachen. Kriegsverbrechen sind kaum zu vermeiden. Die Reaktion der Welt war katastrophal. Der politische Schaden immens. Der damalige Generalstabschef Gabi Ashkenazi wurde weithin gelobt, doch in Wirklichkeit war er ein ziemlich primitiver Militärtyp. Sein jetziger Nachfolger ist von anderem Kaliber. Es sind dieses Mal auch grandiose Statements vermieden worden: man wolle die Hamas zerstören und den Gazastreifen der Führung in Ramallah überlassen u.a. Das israelische Ziel sei - so wurde diesmal gesagt - der Hamas einen Maximalschaden zuzufügen mit einem Minimum an zivilen Opfern. Man hoffte, dies könnte erreicht werden, indem fast nur die Luftwaffe benutzt wurde. In der ersten Phase der Operation schien dies zu gelingen. Nun ist die Frage, ob dies durchgehalten werden kann, wenn der Krieg weitergeht. WIE WIRD er enden? Es wäre kühn, dies zu erraten. Kriege haben ihre eigene Logik. "Sachen passieren" - wie der Amerikaner sagt. Benjamin Netanjahu und Ehud Barak, die beiden Männer, die den Oberbefehl haben, hoffen, der Krieg wird auslaufen, wenn die Hauptziele erreicht sind. Es wird also keinen Grund geben, die Armee vor Ort zu bringen und den Gazastreifen zu betreten, Leute zu töten und Soldaten zu verlieren. Die Abschreckung wird wieder hergestellt sein. Eine weitere Waffenruhe wird in Kraft treten. Die israelische Bevölkerung rund um den Gazastreifen wird nachts wieder einige Monate in Ruhe schlafen können. Die Hamas wird wieder auf ihren Platz verwiesen. Aber wird diese ganze Operation die Grundsituation verändern? Das ist unwahrscheinlich. Ja’abari wird ersetzt werden. Israel hat Dutzende von arabischen politischen und militärischen Führern umgebracht. Tatsächlich ist es Weltmeister solcher Anschläge, höflich spricht man von "gezielten Vorbeugungen" oder "gezielten Eliminierungen". Falls dies ein olympischer Sport wäre, würden die Wände des Verteidigungsministeriums, des Mossad und Shin Bet mit Goldmedaillen dekoriert werden. Manchmal hat man den Eindruck, die Anschläge seien ein Ziel für sich, und was danach geschieht, sei Nebensache. Künstler sind nun mal stolz auf ihre Arbeit. Was waren die Folgen der Anschläge? Im Ganzen gesehen, keine. Israel tötete den Hisbollahführer Abbas al-Moussawi und erhielt an seiner Stelle den weit intelligenteren Hassan Nasrallah. Sie töteten den Hamasgründer Sheik Ahmad Yassin, und er wurde von fähigeren Männern ersetzt. Ja’abris Nachfolger wird mehr oder weniger fähig sein. Es wird keinen großen Unterschied machen. Wird er den stetigen Fortschritt der Hamas stoppen? Ich bezweifle es. Vielleicht das Gegenteil. Erst vor kurzem hat Hamas einen bedeutenden Durchbruch erreicht, als der Emir von Qatar (Besitzer von Aljazeera) ihr einen Besuch abstattete, er war das erste Staatsoberhaupt, der dies tat. Andere werden folgen. Jetzt hat der ägyptische Ministerpräsident mitten im Krieg Gaza besucht. Die Operation "Wolkensäule" wird alle arabischen Länder zwingen, sich mit Hamas zu identifizieren oder wenigstens so zu tun, als ob. Sie wird die Behauptung der extremeren Organisationen im Gazastreifen diskreditieren, dass Hamas gemäßigt und faul geworden sei und sich an den Früchten des Regierens erfreut. In der Schlacht um die palästinensische Meinungsbildung hat die Hamas einen weiteren Sieg über Mahmoud Abbas errungen, dessen Sicherheits-Kooperation mit Israel sogar widerwärtiger aussieht. Alles in Allem: es wird sich nichts Grundlegendes ändern. Nur ein weiterer überflüssiger Krieg. ER IST natürlich ein hoch politisches Ereignis. Wie Cast Lead findet er am Vorabend der israelischen Wahlen statt (so auch der Yom Kippur-Krieg - doch der wurde von der anderen Seite begonnen). Einer der erbärmlicheren Anblicke der letzten paar Tage ist die TV-Show mit Shelly Yachimovich und Yair Lapid gewesen. Die beiden neu aufgehenden Sterne an Israels politischem Firmament sahen wie unbedeutende Politiker aus, die Netanyahus Propaganda nachplappern …. Beide hatten auf den sozialen Protest gesetzt und erwarteten, dass die sozialen Probleme Krieg, Besatzung und Siedlungen von der Agenda wegwischen würden. Wenn die Öffentlichkeit mit dem Preis des Hüttenkäses beschäftigt ist, wer wird sich dann um die nationale Politik kümmern? Ich sagte damals, dass ein Hauch militärischer Aktion in der Luft genüge, um alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme als frivol und irrelevant wegzublasen. Netanjahu und Barak sieht man täglich unzählige Male auf dem Fernsehschirm. Sie erscheinen verantwortlich, ernst, entschieden, erfahren. Wie Männer, die Soldaten kommandieren und Ereignisse gestalten, die Nation retten, die Feinde Israels und des ganzen jüdischen Volkes in die Flucht schlagen. Wie Lapid live im TV sagte: "Die Hamas ist eine antisemitische Terrororganisation, die vernichtet werden muss." Netanjahu tut es. Adieu Lapid. Adieu Shely. Adieu Olmert, Adieu Zipi - es war nett, euch zu sehen. GAB ES eine Alternative? Offensichtlich, die Situation im Süden Israels war immer unerträglicher geworden. Man kann doch keine ganze Bevölkerung alle zwei, drei Wochen in die Schutzkeller schicken. Außer Hamas auf den Kopf zu schlagen, was könnte man sonst noch tun? Eine Menge. Zunächst kann man sich vom "Re-agieren" zurückhalten. Nur diese Kette durchschneiden. Dann kann man mit der Hamas reden, als der de facto-Regierung des Gazastreifens. Man tat es, als man wegen der Entlassung von Shalit verhandelte. Warum nicht - zusammen mit Ägypten - nach einem permanenten Modus vivendi suchen. Eine Hudna (Waffenstand) kann erreicht werden. In der arabischen Kultur ist die Hudna ein verbindlicher, von Allah geheiligter Waffenstillstand, der viele Jahre halten kann. Eine Hudna kann nicht verletzt werden. Sogar die Kreuzfahrer schlossen mehrmals Hudnas mit ihren muslimischen Feinden. Ein Tag nach dem Anschlag berichtete der israelische Friedensaktivist Gershon Baskin, der an den Verhandlungen zur Befreiung Shalits beteiligt war, dass er bis zum letzten Tag in Kontakt mit Ja’abari war. Ja’abari war an einem langfristigen Waffenstillstand interessiert. Die israelischen Behörden waren darüber informiert. Aber die wirkliche Medizin ist Frieden. Frieden mit dem palästinensischen Volk. Die Hamas hat schon offiziell erklärt, sie würde ein mit der PLO - d.h. mit Mahmoud Abbas - abgeschlossenes Friedensabkommen respektieren, das einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 errichten würde, vorausgesetzt, dieses Abkommen würde in einem palästinensischen Referendum bestätigt. Ohne dies wird das Blutvergießen weitergehen, eine Runde nach der anderen - immer wieder. Frieden ist die Antwort. Aber wenn die Augen von einer Wolkensäule verdeckt sind, wer kann da noch sehen? Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert. Weblinks: Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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