Von den Anfängen der Erforschung des gewaltfreien Widerstands - Ein Wiedersehen mit Gene SharpBeitrag zu: Bund für Soziale Verteidigung (Hg.): Begegnungen und Weggefährten. Lasst uns den Frieden in die eigenen Hände nehmen. Festschrift für Helga und Konrad Tempel zu deren 70. Geburtstagen, Minden Mai 2002, S. 19-43Von Theodor Ebert Vorbemerkung: Unser erstes Training kurz vor dem MauerbauAm Anfang der Entwicklung der modernen, angelsächsisch orientierten Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion stand in der Bundesrepublik Deutschland der Hamburger Aktionskreis für Gewaltlosigkeit. Seine Initiatoren waren Hans-Konrad Tempel und Helga Stolle und Heinz Duwe; letzterer wird als Mitherausgeber der "Texte zur Gewaltlosigkeit" genannt.Siehe auch Karl A. Otto: Vom Ostermarsch zur APO. Geschichte der außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik 1960-1970, 1977, S. 68 ff. Auf ihre Initiative ging dann auch der erste deutsche Sternmarsch der Atomwaffengegner zum Raketenstandort Bergen-Hohne zurück. Zusammen mit meinen Bruder Manfred, einem Medizinstudenten, der sich an Albert Schweitzer orientierte, habe ich Konrad Tempel kurz vor dem Mauerbau in Berlin, an Pfingsten, im Quäkerzentrum Mittelhof kennen gelernt. Die Stuttgarter Quäkerin Ruth Oechslin hatte Manfred bei seiner Kriegsdienstverweigerung beraten und ihn auf das gesamtdeutsche Berliner Treffen junger Quäker aufmerksam gemacht. Konrad Tempel bot dort ein Training in gewaltfreiem Handeln an. Ich erinnere mich noch daran, dass ich in einem Streitgespräch einen Rechtsextremisten zu mimen hatte. Ich tat dies ungern, steigerte mich dann aber in meine Aufgabe hinein und nutzte Sprüche, die ich aus dem Studium von Hitlers "Mein Kampf" parat hatte. Mit meiner total bescheuerten, antisemitischen Argumentation verleitete ich den gewaltlosen Konrad zu einem Wutausbruch, worüber wir uns alle - auf seine Kosten - amüsierten. Unser beider Verhältnis war also von Anfang an nicht spannungsfrei, auch wenn wir uns in der Sache eigentlich immer einig waren. Von Konrad Tempel habe ich in Berlin auch zum ersten Mal von Martin Luther King gehört. Ich kannte den ‘Neger’ nicht - und negroe war damals noch die politisch korrekte Bezeichnung -, der auf der Titelseite des Time-Magazin abgebildet war, und fragte Konrad, wer dies denn sei. So erfuhr ich vom Busboykott in Montgomery im Jahre 1956. Kings Fallstudie "Stride toward Freedom", die ich bei Housmans in London kaufte, wurde durch mein weiteres Studium und während meiner ganzen Lehrtätigkeit zum Modell mustergültigen gewaltfreien Handelns. Ein Ergebnis des Berliner Treffens - von dem ich schwer beladen mit Klassikern des Marxismus und einer Ost-Berliner Ausgabe von Clausewitz "Vom Kriege" nach Tübingen zurückkehrte - war jedoch vor allem, dass wir beiden Stuttgarter uns mit den jungen Quäkern auf eine gemeinsame Aktion zugunsten eines Dorfentwicklungsprojektes in Südindien geeinigt hatte. Betreut wurde dies von dem amerikanischen Gandhisten Ralph Keithan. Die "Aktion Samstag 24" bestand aus einem ganztägigen Solidaritätsfasten, dessen Ersparnisse nach Indien überwiesen wurden. Als Gandhi-Adept war ich von Konrads Vorschlag so begeistert gewesen, dass ich in der Beratungsrunde ziemlich rasch den Antrag gestellt hatte, über den Vorschlag abzustimmen - ganz demokratisch, wie ich dachte. Doch ich erntete für dieses Ansinnen allgemeine Missbilligung. Abstimmungen gäbe es bei den Quäkern überhaupt nicht, nur Beratungen bis zum allgemeinen Konsens. Ach, der verflixte Konsens! Ich habe es damals und seitdem immer wieder eingesehen, dass es wirklich besser ist, sich geduldig um einen Konsens zu bemühen, aber gelegentlich war auch schon mal der Stoßseufzer eines Studenten bei einer Besetzung unseres Otto Suhr Instituts mir aus dem Herzen gesprochen. Der hatte an die Wand des besetzten Hörsaals gesprüht: Make Love not Konsens! Aus einem Freundeskreis von Stuttgarter Mitgliedern des Verbandes der Kriegsdienstverweigerer, die sich auf Gandhi und die Bergpredigt beriefen und deren Gewährsmann in der Evangelischen Kirche Martin Niemöller war, ist im Winter 1961/62 das Pilotprojekt "Gewaltfreie Zivilarmee" hervorgegangen. Wir wollten - in Erinnerung an Gandhis Shanti Sena - durch unsere Präsenz demonstrieren, dass der gewaltfreie Widerstand an die Stelle militärischer Verteidigung treten könne. Praktisch beteiligten wir uns weiterhin an den Ostermärschen und der Förderung der Kriegsdienstverweigerung, agitierten mit der Parole "Der Tierschutz ist für alle Viecher, der Luftschutz für die Katz" und demonstrierten beim de Gaulle-Besuch in Ludwigsburg auch ohne Genehmigung für die Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung und eines Zivildienstes in Frankreich. Bei der Vorbereitung des Ostermarsches 1962 sah ich Konrad Tempel im Freundschaftsheim in Bückeburg wieder und er besuchte dann auch die "Gewaltfreie Zivilarmee" zu einem Training. Ich erinnere mich noch an Übungen zum schnellen Entscheiden und zur Zusammenarbeit in der Kleingruppe. In einem Vortrag setzte sich Konrad kritisch mit der Manipulation der öffentlichen Meinung durch die Massenmedien, insbesondere durch die Bild-Zeitung, auseinander, hatte diese doch zum ersten Ostermarsch getitelt "Sie küssten und sie schlugen sich", womit die Atmosphäre beim (harmlosen, aber kühlen!) Übernachten in Scheunen auf Marsch nach Bergen-Hohne charakterisiert werden sollte. Aus diesen Jahren habe ich Tagebücher, Briefe, Protokolle von Gruppentreffen, Flugblätter und Zeitungsausschnitte aufbewahrt, genügend Quellenmaterial für eine persönliche Geschichte der Frühzeit der gewaltfreien Aktion in der Bundesrepublik. Dies gründlich und anschaulich aufzuarbeiten, habe ich mir für die Zeit nach meiner Pensionierung vorgenommen. Vorweg nehmen lässt sich hier und jetzt ein bestimmter Aspekt der Vermittlungstätigkeit Helga und Konrad Tempels. Sie hatten es Ende der 50er Jahre verstanden, Verbindungen herzustellen zu den Theoretikern und Praktikern der gewaltfreien Aktion im Umkreis der Londoner pazifistischen Wochenzeitung "Peace News". Der wegweisende Denker unter den Redakteuren war Gene Sharp, der in Oslo bei Professor Arne Naess auch Philosophie studiert und in dieser Zeit mehrere norwegische Lehrer über ihren Widerstand gegen das Quisling-Regime befragt hatte.Aus diesen Interviews entstand die Fallstudie "Tyranny could not quell them", die in Fortsetzungen in Peace News erschien. Diese Fallstudie widerlegte die herrschende Lehre, dass gewaltloser Widerstand gegen totalitäre Regime nicht möglich sei. Sie ist auch in Buchform erschienen in Mulford Q. Sibley (ed.): The Quiet Battle. Writings in the Theory and Practice of Non-violent Resistance, New York 1963, S. 170-186. Der Hamburger Aktionskreis für Gewaltlosigkeit hat im ersten Heft seiner Reihe von Texten zur Gewaltlosigkeit einen grundlegenden Aufsatz Gene Sharps über die Erscheinungsformen und die Wirkung gewaltlosen Handelns publiziert.Wer die Argumentation Sharps zur damaligen Zeit in auch heute noch zugänglicher Form kennen lernen will, sei verwiesen auf seinen Aufsatz "Das politische Äquivalent des Krieges - die gewaltlose Aktion. In: Ekkehart Krippendorff (Hg.): Friedensforschung, Köln - Berlin, 1968, S. 477-513. Der zweite Band war dann Thoreaus berühmter Aufsatz "Über den Widerstand gegen den Staat", der klassische Text zum Zivilen Ungehorsam. Zum Abschluss einer dreiwöchigen Studienreise auf den Spuren Martin Luther Kings hat im Juli/August 2001 eine 16-köpfige Gruppe deutscher Pazifisten Professor Sharp in dem von ihm gegründeten Albert Einstein Institut in Boston besucht. Da Helga und Konrad Tempel diesen Wissenschaftler früh für den deutschen Pazifismus entdeckt haben, soll von diesem Wiedersehen mit Gene Sharp und von seinen jungen Jahren, in denen er Helga Stolle und Konrad Tempel besonders nahe stand, berichtet werden. Der gesamte Artikel von Theodor Ebert einschließlich des ausführlichen Berichts zum Wiedersehen mit Gene Sharp während der Studienreise sowie ein frühes Interview mit Sharp kann hier heruntergeladen werden:
Von den Anfängen der Erforschung des gewaltfreien Widerstands - Ein Wiedersehen mit Gene Sharp
(PDF-Datei, 143 KB)
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