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Auf den Spuren Gandhis: Der Jan Satyagraha 2012

Indien: Der große Marsch für Land - 65.000 Landlose setzen Roadmap zur Landreform durch

Von Brigitte Czyborra (alleweltonair) Der Artikel beruht auf Interviews mit Rajagopal und V. Shiva von alleweltonair in Köln und Bonn sowie ersten Berichten von Martin Bauer und Julius Reubke ( Verein Freunde von Ekta Parishad e.V. , Köln), die in Gwalior vor Ort waren. Bürgerfunksendungen zu Indien unter: www.alleweltonair.de .

Der große Marsch für Land bildet den Höhepunkt einer mehrjährigen gewaltfreien Kampagne der indischen Landlosenorganisation Ekta Parishad für Gerechtigkeit, den Zugang zu Land und Lebensunterhalt, eine nachhaltige Entwicklung und den Schutz der Umwelt. Die Situation ist - hier wie weltweit - derart drastisch, dass der Marsch unter dem Motto "do or die" steht. Am Ende des 350 Kilometer langen Fußmarschs wollten 100.000 Teilnehmer_innen aus ganz Indien am 27. Oktober in Neu Delhi einziehen.Martin Bauer, Bericht zum Jan Satyagraha, 1.10.12. Auf halber Strecke kommt es zu einer Vereinbarung mit der indischen Regierung, die sich dem Druck der Mobilisierung beugt und eine verbindliche Roadmap für ein weitreichendes Landreformgesetz unterzeichnet. - Die Kölner Bürgerfunkgruppe alleweltonair begleitete die Vorbereitungen seit Anfang des Jahres.

Am 2. Oktober, dem Geburtstag Gandhis, hatten sie sich in Gwalior im Bundesstaat Madhya Pradesh versammelt: Mehr als 50.000 Landlose, Kleinbauern und -bäuerinnen, Dalits (Broken People, wie sich die "Unberührbaren" heute selbst bezeichnen) und Adivasi, aus der indigenen Bevölkerung Indiens.

Sie kamen aus allen Teilen Indiens; monatelang hatten sie sich auf den großen Marsch vorbereitet. Mit wenig Geld, auf die "Gandhi-Art", waren sie angereist, dauernd die Züge wechselnd. Aber sie waren gut organisiert und hatten ihr Ziel klar: eine Regierungsstruktur herauszufordern, die nicht im Interesse der Mehrheit der Inder_innen arbeitet, sondern für die einer Minderheit.

Im Vorfeld hatten sich auf einer Konferenz Menschen aus Indien, aber auch aus afrikanischen und europäischen Ländern zu Fragen der gewaltlosen Aktion ausgetauscht (AHIMSA Conference, Dialogue and Cultural Aspects of Non-Violent Action in New Delhi vom 27-29.09. 2012). Jetzt folgte die Praxis: Adivasi, Kleinbäuerinnen und Landlose verlangten von der indischen Regierung ihr Recht auf Land.

Die Lage auf dem Land ist dramatisch

70% der indischen Bevölkerung lebt auf dem Land und vom Land. 8% sind indigene Gemeinschaften, die überwiegend in den Waldgebieten leben, 12% sind Nomaden (Rajagopal 2010). Land Grabbing - legale und illegale Landnahme durch Aufkauf oder Landraub - ist auch in Indien ein massives Problem. Viele der Kleinbauern haben keine verbrieften Landtitel; unklare Besitzverhältnisse erleichtern den Landraub.

Laut indischer Verfassung gehört den Adivasi der Wald, aber immer weniger werden ihre Rechte geachtet.

"Doch der Kampagne geht es längst um mehr als nur die Rechte der Land- und Urbevölkerung Indiens. Deren Forderungen - den Schutz vor Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und Umweltschäden in Verbindung mit aus internationalem Geld betriebenen Bergbauvorhaben, industrieller Produktion von Agrargütern und Agrotreibstoffen, Stauseen, Industrie-, städtebaulichen oder Tourismusprojekten zu verbessern und die kleinbäuerlichen Landwirtschaft zu stärken - sind zentrale Anliegen der weltweiten Landbevölkerung." JanSatyagraha-Agreement-on-Land-Reforms.pdf .

Auch das "Hunger-Paradox" ist ein nicht auf Indien beschränktes Phänomen. Gerade die Landbevölkerung, die auf Subsistenzwirtschaft angewiesen ist, kann nicht mehr vom Land existieren und wird in die Slums der Städte getrieben.

Auf 250.000 wird die Zahl der Kleinbauern, die die Schuldenspirale in den Tod getrieben hat, inzwischen geschätzt.

"Die 250.000 Selbstmorde von Bauern sind Regierungsdaten", sagt uns die indische Globalisierungskritikerin Vandana Shiva in einem Interview (2012).

"Sie begannen Mitte der 90er Jahre, als der Saatgutmarkt unter dem Druck der WTO für die globalen Konzerne geöffnet wurde.?Sie kauften lokale Saatgutfirmen auf und pushten Hybrid und genmanipuliertes Saatgut, das die Kosten des Saatguts in die Höhe trieb, das jedes Jahr neu gekauft werden musste. So gerieten die Bauern in die Verschuldung." - Der Name Monsanto steht wie kein anderer für das weltweite Geschäft mit dem Saatgut.

Mit Hochdruck arbeitet die Saatgut-Lobby derzeit daran, auch auf dem europäischen Markt endlich freie Bahn für den Anbau gen-manipulierter Lebensmittel zu erhalten. 2013 soll der Durchbruch auch in der EU gelingen.

Eine Versammlung von 50.000 Menschen

Die Menschen auf dem Mela-Ground in Gwalior fordern das Recht auf Land, Wasser, Wald und Mineralstoffe. "Land zum Leben" und die Durchsetzung der Waldnutzungsrechte für die Adivasi sind zentrale Forderungen. Frauen sollen das gleiche Recht auf Land haben wie Männer.

Seit Jahren schon hat die Landlosenbewegung Ekta Parishad (Solidarischer Bund) auf diese Mobilisierung hingearbeitet.

Die soziale Basisbewegung arbeitet seit mehr als 20 Jahren im ländlichen Indien und ist den Prinzipien der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des gewaltfreien Widerstands verpflichtet.

Vor fünf Jahren fand der erste große Marsch statt; im "Janadesh 2007" machten sich 25.000 Landlose auf den Weg nach Delhi und forderten ihr Recht auf Land ein. Die indische Regierung setzte daraufhin eine Kommission ein, die Empfehlungen zur Landreform erarbeiten sollte.

Es wurde ein Papier erarbeitet, das als Diskussionsgrundlage dienen sollte. Bis heute, fünf Jahre später, wurde die Kommission nie einberufen.

Immerhin wurden 700.000 Landtitel verteilt, eine unglaubliche Zahl für uns, ein Tropfen in den Dimensionen Indiens mit 1.2 Milliarden Menschen. (Rajagopal 2010)

Der Gründer und Leiter, P.V. Rajagopal, stellt die Arbeit von Ekta Parishad direkt in die Nachfolge Gandhis. Im Oktober 2011 begann seine Mobilisierungsfahrt durch ganz Indien; ein Jahr später sollten im Jan Satyagraha 100.000 Landlose von Gwalior zu einem 350 km-Fußmarsch in die indische Hauptstadt ziehen, in der Tradition des Salzmarsches, mit dem Indien letztlich in die Unabhängigkeit aufbrach.

"Satyagraha" - mit diesem Begriff bezeichnete Gandhi seinen gewaltfreien Widerstand. "Festhalten an der Wahrheit", so könnte der Begriff übersetzt werden.

"Kooperiere wo du kannst und leiste Widerstand wo du musst!" (Gandhi)

Parallel zu den Mobilisierungen liefen Verhandlungen mit der indischen Regierung. Ende September kam es zu Gesprächen mit dem Landwirtschaftsminister und einem Gespräch zwischen Manmohan Singh, dem Ministerpräsidenten, und P.V. Rajagopal.

Der Marsch in die Hauptstadt soll nicht stattfinden; schließlich kündigen vier Minister ihr Kommen an. In Gwalior wird der Abmarsch verschoben und stattdessen eine Versammlung unter freiem Himmel einberufen. Mehr als 50.000 erwarten mit Spannung die Vorschläge der Regierung, doch Jairam Ramesh, der Minister für ländliche Entwicklung, verliest nichts als einen dürftigen unverbindlichen Brief.

Nach dreistündiger Beratung - neben Ekta Parishad sind um die 2000 weitere Organisationen an der Kampagne beteiligt - tritt Rajagopal vor die Versammlung. Er erläutert die Lage, erklärt, dass Benzin und Essen nicht reichten für den Weg bis nach Delhi, und fragt, ob die Menschen trotzdem bereit sind loszumarschieren. Sie sind es.

Am 3. Oktober machen sich 65.000 Landlose auf den Weg.

Martin Bauer als europäischer Begleiter schreibt: "Alles ist basisdemokratisch organisiert - auf eine indische Art. Aber es funktioniert sehr gut und die Leute haben Spaß - auch mit uns. Überall wird diskutiert, sich versammelt und besprochen, gesungen, getanzt oder einfach das disziplinierte Marschieren geübt. Die einzelnen Regionalgruppen versorgen sich selbst. Jeder hat seine eigene Musik-, Organisations- und Kochgruppe. Dieses System wird den ganzen Marsch beibehalten. - Es ist geplant die Marschierer auszutauschen und zu ergänzen, so dass in Delhi am 28.Oktober 100.000 Menschen erwartet werden. Die Nationalstraße 3 wird ihr Lebensraum, Restaurant, Schlaf- und Kommunikationsstelle."

Im Gänsemarsch geht es voran, in langen Reihen, oft 20 km am Tag, durch glühende Hitze, oft barfuß. Die Menschen schlafen auf der Straße oder den Plätzen der Stadt. Das Tempo ist straff.

Agra - der Durchbruch

Am 10. Oktober erreicht der Marsch Agra, nach einem Drittel der Strecke Richtung Delhi. Auf Initiative des Ministers für ländliche Entwicklung waren die Verhandlungen wieder aufgenommen worden. Erneut besucht er die Marschierenden, aber diesmal hält er mehr in den Händen. Am 11.10. unterzeichnen in Agra vor allen Marschierenden Jairam Ramesh und Rajagopal eine 10-Punkte-Vereinbarung, eine konkrete Roadmap mit Eckpunkten zu einer umfassenden Landrechtsreform, inklusive Verantwortliche und Fristen. Pressemitteilung von Ekta Parishad zum Marsch .

"Im Zentrum der vorliegenden Vereinbarung steht die unverzügliche Einberufung einer ‚Task-Force’, bestehend aus Vertretern von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Vertretern der Gliedstaatenregierungen mit dem Ziel, die ‚Roadmap’ einer neuen Landpolitik zu spezifizieren und umzusetzen.?Ein wichtiger Aspekt der neuen Landrechtspolitik ist der grundlegende Anspruch jeder armen landlosen Familie auf ein Stück Land, um sich darauf eine Unterkunft zu bauen. Dieses Recht soll, ähnlich wie das Recht auf Bildung oder das Recht auf Information, als ein grundlegendes Sozialrecht festgelegt werden. Im Weiteren sollen Landgerichte auf Bundesstaatsebene etabliert werden, um die Tausenden von anhängigen Klagen gegen Landbesetzung durch arme Menschen zügig zu erledigen. Die Betroffenen sollen in diesem Prozess durch Rechtshilfe unterstützt werden. Weitere Empfehlungen werden heute angekündigt." (CESCI u. Freunde von EP 11.10.12)

50.000 Kopien der Vereinbarung werden verteilt, so dass alle ein Exemplar mit zurück in ihr Dorf nehmen können. Die erste Sitzung der Task-Force hat am 17. Oktober stattgefunden.

Die Unterzeichnung ist ein beachtlicher Erfolg; für ihre Umsetzung wird auch weiterhin Druck in Indien und transnational erforderlich sein. Wünschen wir, dass die Marschierenden nicht in sechs Monaten dann doch von Agra nach Delhi ziehen müssen.

Quelle: graswurzelrevolution 374 dezember 2012.

Fußnoten

Veröffentlicht am

11. Dezember 2012

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