Tunesien: Das Land hat die Balance verlorenNach dem Mord an dem Politiker Chokri Belaïd wächst die Gefahr eines Bürgerkrieges. Wie in Ägypten stehen sich säkulare Parteien und ein islamistischer Block gegenüberVon Sabine Kebir Es ist üblich geworden, unter Demokratie nur ein politisches System auf Grundlage des periodisch auszuübenden Wahlrechts zu verstehen und davon bereits gesellschaftliche Heilungsprozesse zu erwarten. In Staaten, die lange autokratischen Verhältnissen ausgesetzt waren, funktioniert ein solcher Automatismus nicht. Wie wir aus der deutschen Geschichte wissen, legen Diktaturen - wenn auch in unterschiedlichem Maße - allen gesellschaftlichen Kräften Fesseln an. Müssen die Diktatoren weichen, fehlt den demokratischen Strömungen oft das organisatorische Potenzial, um wirklich etwas durchzusetzen. Dadurch entstehen schnell neue Frustrationen, was vorzugsweise dann zutrifft, wenn kein Sozialstaat die elementaren Lebensbedürfnisse garantiert und allen Bürgern Entwicklungschancen bietet. Von eben dieser Erfahrung ist die Lage in Tunesien und Ägypten geprägt: Gerade weil es dort zuvor keine Demokratie gab, verfügen diejenigen, denen die Revolution zu verdanken ist, weder über die organisatorischen noch politischen Ressourcen, um ihren Staat zu errichten. Über derartige Möglichkeiten gebieten lediglich die von Saudi-Arabien und anderen Golfmonarchien unterstützten Kräfte, die nun aber selbst jene zivilisatorischen Errungenschaften infrage stellen, die schon unter der Diktatur Ben Alis zustande kamen. In Tunesien waren das ein beachtliches Ausmaß an Laizität und die Gleichberechtigung der Geschlechter. Nur TrittbrettfahrerDiese ideellen Besitzstände zu verteidigen und sich einem Sozialstaat anzunähern, der seinen Bürgern Arbeit und Würde garantiert, war die politische Maxime Chokri Belaïds, des populären Generalsekretärs der Bewegung Patriotischer Demokraten (HWD), der am Morgen des 6. Februar vor seiner Haustür erschossen wurde. Belaïds Tod hat einen mehrtägigen Generalstreik ausgelöst und an seinem Begräbnistag zu einem Trauermarsch Zehntausender geführt, der durch gewalttätige Gegendemonstranten aus der regierenden Ennahda-Partei gestört wurde. Dabei kam ein Polizist ums Leben, über 50 Menschen wurden verletzt. Mehr als nur ein Indiz dafür, wie tief Tunesien heute gespalten ist in ein laizistisch-soziales Bündnis und einen islamistischen Block. Mit einer Wählermehrheit im Rücken stellt sich Letzterer in einem Akt von Diskurs-Piraterie mittlerweile als das allein revolutionäre Zentrum dar, obwohl die Islamisten beim Sturz von Ben Ali im Januar 2011 nur Trittbrettfahrer waren. Noch hofft der Westen, dass Ennahda-Chef Rached Ghannouchi wie auch Ägyptens Präsident Mohammed Mursi möglichst bald das demokratische Handwerk erlernen werden. Ein politischer Mord wie der an Belaïd passt da schlecht ins Bild, zumal dessen Urheber in den Reihen der in ganz Tunesien präsenten islamistischen Milizen vermutet werden, die sich Liga für den Schutz der Revolution nennen dürfen. Diese "Revolutionsgarden" sind - ironischerweise - aus lokalen Selbstverwaltungsorganen hervorgegangen, die sich gegen die ausufernde staatliche Gewalt des alten Regimes gebildet hatten, dann aber schnell von Islamisten infiltriert und finanziert wurden. Heute entsprechen diese Milizen der iranischen oder saudischen Religionspolizei. Ihre Mitglieder betrachten es als ihre Mission, nicht nur das politische, sondern auch das zivile Leben im Sinne fortschreitender Islamisierung zu disziplinieren. Und dies eben auch mit Gewalt. Die gezielte Tötung Chokri Belaïds war nicht das erste politisch motivierte Attentat, das der Liga zum Schutz der Revolution anzulasten ist. Am 18. Oktober 2012 fand am helllichten Tage im südtunesischen Tataouine ein Pogrom von etwa 200 Liga-Anhängern gegen den örtlichen Vorsitzenden des Bauernverbandes, Lotfi Nagued, statt. Der war zugleich lokaler Chef der Bewegung Nida Tounes, einer einflussreichen laizistischen Partei. Lotfi wurde aus seinem Büro auf die Straße gezerrt, mit Eisenstangen bewusstlos geprügelt und starb wenig später im Krankenhaus. Die Polizei sah lange tatenlos zu. Das Szenario des zur Schau gestellten Mordes war auch im algerischen Bürgerkrieg (1991?-?1999) ein übliches Mittel, auf das eine islamistische Guerilla zurückgriff, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Da die Liga als bewaffneter Arm der Ennahda-Partei gilt, ist für die Regierung eine äußerst schwierige Lage entstanden. Vier Oppositionsparteien weigern sich, weiter in der Verfassungskommission zu bleiben, die eine neue Magna Charta erarbeitet. Premier Hamadi Jebali hielt es unter diesen Umständen für eine gute Idee, ein neues Kabinett in Aussicht zu stellen, das nicht mehr aus Ministern der Koalitionsparteien, sondern aus "Spezialisten" bestehen sollte. Eine Flucht nach vorn, die zumindest im Ausland hätte Anklang finden können. Tunesien braucht nichts dringender als Investoren, die aber nur dann auf der Bildfläche erscheinen, wenn endlich Stabilität einzieht. Doch Jebali ist vorerst gescheitert. Seine Ennahda-Partei, die bislang die Mehrheit der Minister stellte, ist strikt gegen den Vorschlag. Auch Präsident Moncef Marzouki, aus dessen Kongress für die Republik (CPR) ebenfalls einige Minister kommen, hat sich gegen ein Kabinett der Technokraten ausgesprochen. Seine Begründung: dank einer solchen Konstellation würde Repräsentanten des Ben-Ali-Regimes wieder nach der Macht greifen können. Hinter diesem wenig stichhaltigen Argument verbirgt sich in Wirklichkeit die Sorge, dass mit einer Verdrängung der Islamisten aus der Regierung die extralegale Gewalt zunimmt und das Land endgültig in einen Bürgerkrieg taumelt. Aber hat der nicht längst begonnen? Die politische Klasse Tunesiens besteht nur noch aus Getriebenen. Niemand scheint mehr zu wissen, wie es weitergehen könnte. Der "Sittliche Staat"Der Krieg in Mali erschwert die Situation zusätzlich, denn potenzielle Investoren kämen traditionsgemäß aus Frankreich. Die alte Kolonialmacht hat sich aber in Tunesien schon durch ihr allzu langes Festhalten an Ben Ali unbeliebt gemacht. Die Bombardierung Nordmalis, wo jahrelang islamistische Netzwerke das Sagen hatten, führt in Tunis und anderen Städten täglich zu öffentlichen Protesten gegen den "französischen Imperialismus". Eher als bei Ägypten sind in Tunesien die Weichen für eine die gesellschaftliche Balance umstürzende Lösung gestellt. Dennoch bleibt dieser Ausweg wegen fehlender Akteure, die ihn einschlagen könnten, graue Theorie. Ihr materielle Gewalt zu verleihen, würde auf eine radikale Umverteilung innerhalb der tunesischen Gesellschaft hinauslaufen, wie sie einst der Philosoph Hegel mit seinem Konzept des "Sittlichen Staates" skizziert hat. Das daraus hervorgehende System respektiert durchaus ein Privateigentum an Produktionsmitteln. Aber es zieht so viele Steuern ein, dass davon die Bedürfnisse der Kinder, der Alten, der Kranken und all jener befriedigt werden, die keine Arbeit finden. Hegel wollte, dass die Bedürfnisse nicht am absoluten Existenzminimum gemessen werden, sondern am gesellschaftlich erreichten mittleren Standard. Eine solche Lösung brächte in Tunesien nicht nur die Gerechtigkeit, sondern eben auch die Demokratie ein gutes Stück voran. Doch werden die Islamisten sie wohl schuldig bleiben. Ihr Gesellschaftsmodell ist mit dem neoliberalen Muster kompatibel, in dem der Wohlhabende steuerlich geschont wird. Bei Islamisten genügt der Sakkat, die freiwillig entrichtete Armensteuer, deren Höhe einem politischen Kalkül entspringt - dies gilt sowohl bei lokalen Potentaten wie der islamischen Hegemonialmacht Saudi-Arabien. Quelle: der FREITAG vom 28.02.2013. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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