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Gütekraft. Ein Wirkungsmodell aktiver Gewaltfreiheit nach Hildegard Goss-Mayr, Mohandas K. Gandhi und Bart de Ligt

Von Konrad Raiser, Berlin, August 2012

Das hier vorzustellende Buch ist die konzentrierte Summe eines breit angelegten Forschungsprojektes und an der Universität Siegen als Dissertation angenommen worden. Der Autor, Martin Arnold, war bis 2010 Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland und wurde für seine von der Deutschen Stiftung Friedensforschung geförderte Forschungsarbeit von seinem Lehrauftrag an einer Berufsschule in Essen beurlaubt. Der vorliegende Band umfasst die Gesamteinleitung und die Gesamtergebnisse seines Forschungsprojektes zur Erkundung der Wirkungsweise aktiver Gewaltfreiheit; daneben liegen als eigenständige Veröffentlichungen die Einzelstudien zu den Konzeptionen der drei ausgewählten Protagonisten Hildegard Goss-Mayr, Mohandas K. Gandhi und Bart de Ligt vor. (Alle drei Studien sind veröffentlicht in digitaler Fassung in: http://www.martin-arnold.eu , sowie gedruckt im Bücken&Sulzer Verlag, Overath 2011; für Einzelheiten s. S. 281ff).

Das Forschungsprojekt war von einem theoretischen Interesse geleitet und das bestimmt daher auch den Charakter der vorliegenden, zusammenfassenden Studie. Es ging und geht dem Verfasser weder darum, einen weiteren Beitrag zur Praxis und Technik der gewaltfreien Aktion zu leisten, noch um den empirischen Nachweis der Wirksamkeit gewaltfreier Konfliktbearbeitung. Seine Leitfrage war vielmehr: "Wie ist gewaltfreies Vorgehen zu konzipieren, damit es (auch und gerade in politischen und gesellschaftlichen Konflikten) gegen gewaltbereite Gegner wirksam werden kann?"(31; im Orig. gesperrt). Er suchte nach einem Handlungskonzept für die Wirkungsweise gewaltfreier Konfliktbearbeitung und damit nach den grundlegenden Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen dem angestrebten Ziel, d.h. einem Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde für alle, und der spezifischen Handlungsweise.

Im Zentrum des Forschungsprojektes stand die Analyse der leitenden Konzepte der drei genannten Protagonisten aktiver Gewaltfreiheit. Alle drei hatten in konkreten Zusammenhängen den "Beweis" von der Wirksamkeit ihrer Vorstellungen erbracht. Aber das Interesse des Verf. galt nicht einer Wirkungsanalyse ihrer gelungenen Aktionen, sondern vielmehr den Konzepten, nach denen die entsprechenden Aktionen geplant und durchgeführt wurden (37). Dabei zeigte sich, dass es zwischen den drei Protagonisten trotz ihrer unterschiedlichen weltanschaulichen Hintergründe wesentliche Gemeinsamkeiten in den Leitvorstellungen gewaltfreien Vorgehens gibt. Für den Verfasser kommen sie prägnant im Konzept der "Gütekraft" zum Ausdruck, das seit den 90er Jahren als Übersetzung des Gandhischen Leitbegriffes "satyagraha" eine gewisse Akzeptanz findet. An zwei Stellen des Buches geht der Verf. ausführlicher auf das sprachliche Umfeld ein (45ff, 86ff) und begründet die Wahl des "positiven" Begriffs der Gütekraft in kritischer Abgrenzung von den häufigeren "negativen" Formulierungen wie "Gewaltfreiheit", "Gewaltlosigkeit". Güte bezeichnet die durch Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit bestimmte Haltung; Gütekraft ist die von dieser Haltung ausgehende Wirkung. Gandhi sprach von der "Kraft, die aus Wahrheit und Liebe geboren wird". Der Verf. erkennt bei den beiden anderen Protagonisten die gleiche Grundvorstellung und die gemeinsame Ausrichtung auf das Ziel der Mehrung von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit (92f).

Der erste Teil (23-80) des Buches gibt die Einleitung zu dem gesamten Forschungsprojekt wieder. Wie bei wissenschaftlichen Arbeiten üblich wird der Forschungsansatz skizziert und eine erste Arbeitshypothese formuliert. Es folgen Hinweise auf den weiteren Kontext und den Stand der Forschung sowie Begründungen für die Wahl des Leitbegriffs Gütekraft. Die Einleitung schließt mit einem Abschnitt über die angewandten Forschungsmethoden und der Betonung, dass es dem Verf. mit dem Konzept der Gütekraft um ein idealtypisches Modell der Wirkungsweise aktiver Gewaltfreiheit geht und nicht um eine Anleitung zum Handeln mit Erfolgsgarantie.

Der längere zweite Teil (81-236) bietet die konzentrierte Zusammenfassung der Ergebnisse des Forschungsprojekts. Am Anfang (85-111) steht die vergleichende Zusammenführung der Einzelstudien. Die Auswertung einer tabellarischen Synopse zeigt bei allen drei Protagonisten die gleiche Grundüberzeugung, dass alle Menschen die Potenz zu "konstruktivem Handeln mit der Haltung der Güte" haben und dass sie zu gegenseitigem Wohlwollen sowie dem Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheit neigen. Die entsprechende Potenz oder Kraft, die in jedem Menschen schlummert, könne durch bewusste Arbeit der Selbstverbesserung entwickelt und gestärkt werden (113ff). Das Konzept der Gütekraft "ist für den Abbau erheblicher Missstände gedacht; damit sind Verhältnisse gemeint, in denen es an Freiheit, Gerechtigkeit oder Menschlichkeit mangelt. Es bezieht sich also nicht nur auf Konfliktfälle" (115).

Die aus der Synopse erhobenen Vorstellungen bezüglich des wirksamen Vorgehens zum Abbau eines Missstandes lassen sich in einem sechsstufigen Modell zusammenfassen. Die ersten drei Stufen konzentrieren sich auf die Weckung der Gütekraft in der eigenen Person, auf die Erkenntnis der eigenen Anteile am Missstand und den Versuch, den Missstand zusammen mit anderen abzubauen. Dabei wird den Personen der anderen Seite zugetraut, dass sie ebenfalls zu gerechtem und wahrhaftigen Handeln fähig sind (116-119). Die folgenden drei Stufen folgen - bei schwierigeren Missständen - einem Prozess zunehmender Eskalation in der Entschlossenheit, der Erhöhung des Einsatzes und der Mobilisierung weiterer Kräfte bis hin zum massenhaften Handeln, der Aufkündigung der Unterstützung des Missstand-Systems und dem Aufbau von Alternativen (120-126; vgl. auch die graphische Darstellung der Wirkungsweise des Gütekraft 127f).

Der Verf. fasst das in der Auswertung des Vergleichs gewonnene erste Ergebnis seiner Forschungen in der folgenden Kurzformel zusammen: "Die Verwirklichung von mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit wird nach dem Gütekraft-Konzept dadurch erreicht, dass diese Ziele als Wege verstanden werden… Bis hin zur Fülle des Lebens für alle, die die Menschwürde einschließt, wird die Vorgehensweise also ganz von den Zielen her gestaltet - in einer Kurzformel ausgedrückt: Das Ziel ist der Weg - gut vereinbar mit "Der Weg ist das Ziel" (134). Das so erhobene Modell-Konzept wird kritisch überprüft im Blick auf verschiedene Arten von Missständen und mögliche Grenzen seiner Gültigkeit.

Diese Überprüfung wird dann zum Ausgangspunkt einer zweifachen, systematischen Weiterentwicklung des Modells. Während es in den üblichen Formen der gewaltfreien Aktion um die Bearbeitung von Konflikten und daher um die Auseinandersetzung mit Gegnern geht, konzentriert sich das Gütekraft-Modell auf den Abbau von Missständen. Dabei werden Konflikte nicht geleugnet, sondern sie werden in einen weiteren Rahmen gestellt, sodass der hinter dem jeweiligen Konflikt liegende Missstand sichtbar wird. Der Verf. nennt dieses zweite Forschungsergebnis "Reframing". Zielpunkt des gütekräftigen Einsatzes ist dann nicht der "Konfliktgegner", sondern die Bemühung, zusammen mit den "Gegnern" Missstände
abzubauen. "Das Loslassen von eigener Fixierung auf Gegner, bzw. auf Gegnerschaft gehört zum Konzept und ist eine Erfolgsbedingung" (163).

Damit unmittelbar verbunden ist die andere Weiterentwicklung des Modells im Sinne nicht nur des Loslassens der Fixierung auf den oder die Gegner sondern einer Umorientierung, die wegführt von der eigenen Person, den eigenen Interessen, und den Blick öffnet auf die konstitutive Verbundenheit mit anderen. "Die Wahrnehmung des eigenen Standortes (formal) oder Standpunktes (inhaltlich) als absolut und fest wird korrigiert, um zum Wahr- und Wichtignehmen der vielfältigen Beziehungen zu anderen Menschen zu gelangen, vor allem der Beziehungen, die im gütekräftigen Verbundensein wurzeln, die damit zur Grundlage dialogischen, kommunikativen Handelns werden" (180). Der Verf. nennt dieses dritte Forschungsergebnis die Umorientierung hin auf ein "beziehungszentrisches Selbstbild" (179).

Damit sind die wichtigsten Aspekte der Gütekraft als Wirkungsmodell aktiver Gewaltfreiheit genannt. Sie werden am Ende des Buches in einem abschließenden Kapitel unter dem Titel "Mit Gütekraft Missstände abbauen" noch einmal zusammengefasst (199-235). Diese knappe Rezension musste notgedrungen noch konzentrierter und abstrakter formulieren als der Verf. in seinem komplexen Projekt der Entwicklung einer umfassenden Theorie der konstruktiven Bearbeitung von Missständen und Transformation von Konflikten. Johan Galtung sagt in seinem Geleitwort: "Es ist sicher die umfassendste Arbeit über Theorie und Politik der Nonviolence in einem Buch!"(9). Wer die Geduld aufbringt, sich durch die stellenweise schwerfällige und abstrakte Sprache einer wissenschaftlichen Grundlagenstudie durchzuarbeiten, wird reich belohnt. Für alle, die sich im Rahmen der ökumenischen Dekade mit Wegen zur Überwindung von Gewalt auseinandergesetzt haben, bietet das Buch eine entscheidende Weitung und Korrektur des Blicks. Vor allem kann es dazu helfen, der auf das Leitbild des gerechten Friedens ausgerichteten Praxis eine breitere Grundlage zu vermitteln.

Rezension zu: Martin Arnold, Gütekraft. Ein Wirkungsmodell aktiver Gewaltfreiheit
nach Hildegard Goss-Mayr, Mohandas K. Gandhi und Bart de Ligt. Mit einem Geleitwort von Johan Galtung. Band 4 der Schriftenreihe Religion-Konflikt-Frieden. Nomos Verlag, Baden-Baden 2011, 283 Seiten, 19 Euro.

Das Buch kann beim Bund für Soziale Verteidigung online bestellt werden (keine Versandkosten, obwohl zunächst Kosten angegeben werden)

Quelle:  www.martin-arnold.eu .

Veröffentlicht am

22. Mai 2013

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