Uri Avnery: Schmetterlinge in DamaskusVon Uri Avnery, 8. Juni 2013 WÄHREND DES Spanischen Bürgerkriegs von 1936 berichtete eine Geschichte über den Tod von 82 Marokkanern, 53 Italienern, 48 Russen, 34 Deutschen, 17 Engländern, 13 Amerikanern und acht Franzosen. Auch einein Spanier. "Geschieht ihm recht", kommentierten die Leute in Madrid, "warum mischte er sich da ein?" Ähnliches könnte jetzt über den Bürgerkrieg in Syrien gesagt werden. Schiiten aus der ganzen muslimischen Welt strömen nach Syrien, um Bashar al-Assads Regime beim Überleben zu helfen, während Sunniten aus vielen Ländern dorthin eilen, um die Rebellen zu unterstützen. Die Verwicklungen gehen weit über den blutigen syrischen Kampf hinaus. Es ist eine historische Revolution in der ganzen Region, vielleicht sogar mit weltweiter Dimension. NACH DEM 1. Weltkrieg teilten die siegreichen Kolonialmächte die Gebiete des ottomanischen Reiches unter sich auf. Da der Kolonialismus nicht mehr zeitgemäß und Selbstbestimmung in war, wurden ihre neuen Kolonien (wie der Irak) als unabhängige Nationen kaschiert oder als Nationen im Werden (wie Syrien). Die neuen arabischen Nationen bemächtigten sich des europäischen Nationalismus. Die alte Idee einer pan-muslimischen "Umma" wurde verstoßen. Die Idee eines pan-arabischen Superstaates, die von der Baathpartei und Ägyptens Gamal Abd-al Nasser propagiert worden war, hatte man versucht, war aber misslungen. Der arabische Nationalstaat siegte. Es war ein zweifelhafter Sieg. Ein typisch syrischer Nationalist in Damaskus war auch Teil der arabischen Region, der muslimischen Welt und der sunnitischen Gemeinschaft - und die Reihenfolge dieser verschiedenen Loyalitäten war nie ganz sortiert worden. In Europa war es anders. Die nationale Loyalität war unangefochten. Ein moderner Deutscher konnte Bayer und Katholik sein, aber er war vor allem ein Deutscher. Während der letzten Jahrzehnte schien der Sieg des lokalen Nationalismus in der arabischen Welt sicher zu sein. Nachdem die kurzlebige Vereinigte Arabische Republik 1961 aus einander gebrochen war und die Syrier stolz ihre neuen Pässe zeigten, sah die Zukunft der arabischen Nationalstaaten rosig aus. Nun nicht mehr. UM DIE immense Bedeutung des gegenwärtigen Aufruhrs zu verstehen, muss man in der Geschichte zurückgehen. Vor zweitausend Jahren war die Idee einer "Nation" noch undenkbar. Die vorherrschende kollektive Struktur bestand aus der ethnisch-religiösen Gemeinschaft. Man gehörte zu einer Gemeinschaft, die nicht territorial definiert war. Ein Jude in Alexandria konnte eine Jüdin in Babylon heiraten, aber nicht eine hellenische oder christliche Frau aus der Nachbarschaft. Unter römischen, byzantinischen und ottomanischen Herrschern erfreuten sich diese Dutzende von Gruppierungen großer Autonomie, die von Imamen, Priestern und Rabbinen beherrscht wurden. Dies ist teilweise in den meisten früheren ottomanischen Gebieten noch heute der Fall, einschließlich Israel. Die Türken nannten diese sich selbst regierenden Gruppierungen "Millets". Der deutsche Historiker und Kulturphilosoph Oswald Spengler behauptete in seinem monumentalen Werk "Der Untergang des Abendlandes", dass große Kulturen wie Menschen seien - sie werden geboren, wachsen auf und sterben im Alter innerhalb eines Jahrtausends. Die Kultur des Orients wurde - nach ihm - um 500 v. Chr. geboren und starb mit dem Niedergang des mittelalterlichen muslimischen Kalifats. Das Judentum, das im babylonischen Exil um 500 v. Chr. geboren wurde, war nur eine ethnisch-religiöse Gemeinschaft unter vielen. Arnold Toynbee, der britische Historiker, der eine ähnliche Theorie entwickelte, behauptete, dass die Juden von heute ein "Fossil" dieser überholten Kultur seien. Was später geschah, war, dass die europäischen Gesellschaften durch viele Stadien gingen, das letzte Stadium war die "Nation". In Europa wurden die Juden eine unheimliche und gehasste Anomalität, weil sie an ihrer früheren Existenz als Menschen ohne Vaterland, einer zerstreuten ethno-religiösen Gruppe festhielten. Dies wurde ganz bewusst getan: die Rabbiner errichteten einen "Zaun um die Torah", trennten die Juden von allen anderen und machten es für sie unmöglich, mit Nichtjuden zu essen oder sie zu heiraten. Juden versammelten sich in Ghettos, weil sie in der Nähe einer Synagoge, einer Mikvah (Bad) u.a. sein mussten, (um sie an Schabbat zu Fuß zu erreichen.) Als die Situation für die ohne Heimatland lebenden Juden im nationalistischen Europa zunehmend schwierig wurde, wurde der Zionismus geboren. Durch einen Trick postulierte er, dass Juden nicht nur eine ethno-religiöse Gemeinschaft, sondern gleichzeitig auch eine "Nation wie andere Nationen" sei. Dies war eine notwendige Fiktion, bis es dem Zionismus gelang, eine wirkliche Nation zu bilden - die Israelis. Mit der Gründung des israelischen Staates verlor die zionistische Doktrin ihren Sinn und sollte wie das Gerüst um ein fertig gebautes Gebäude abgebaut werden. Viele erwarteten, dass dies nach entsprechender Zeit geschehen würde - hebräische Israelis würden eine "normale" Nation sein, und ihre Verbindung mit der jüdischen Welt würde sekundär werden. HEUTE WERDEN wir Zeugen einer jüdischen Gegenrevolution. In Israel gibt es ein Comeback zum Weltjudentum, während die separate israelische Nation geleugnet wird. Es ist das Gegenteil des Zionismus. Die Ereignisse in Syrien weisen auf einen ähnlichen Prozess hin. In der ganzen Region kommt die ethnisch-religiöse Gemeinschaft zurück. Der nationale Staat im europäischen Stil löst sich auf. Die kolonialen Mächte schufen "künstliche" Staaten, ohne die ethnisch-religiösen Realitäten zu berücksichtigen. Im Irak wurden arabische Sunniten, Schiiten und nicht-arabische Kurden willkürlich zusammen gelegt. In Syrien wurden Sunniten, Schiiten, Alawiten (ein Nebenzweig der Schiiten), Drusen (auch ein Nebenzweig), Kurden und verschiedene christlichen Konfessionen in einen "nationalen" Topf gesteckt und man ließ sie schmoren. Im Libanon wurde dasselbe getan mit sogar noch schlechteren Ergebnissen. In Marokko und Algerien wurden Araber und Berber zusammen gelegt. Jetzt vereinigen sich die ethno-religiösen Gruppen - gegen einander. Der syrische Bürgerkrieg hat die Schiiten - vom Libanon bis zum Iran - in der Verteidigung des alawitischen Regimes vereint. Die Sunniten aus der ganzen Region versammeln sich um die Sache der sunnitischen Mehrheit. Die syrischen Kurden haben schon de facto einen gemeinsamen Staat mit den Kurden des Irak geschaffen. Die weiter zerstreuten Drusen sind gewöhnlich vorsichtiger und warten auf ihre Runde. IN DER westlichen Welt ist der anachronistisch werdende Nationalstaat von übernationalen Regional-Konföderationen wie die EU abgelöst worden. In unserer Region könnte es eine Rückkehr zu den ethno-religiösen Gruppierungen geben. Es ist schwierig, vorauszusehen, wie sich dies entwickeln wird. Das ottomanische Millet-System konnte funktionieren, weil es unter der imperialen Herrschaft des Sultans stand. Aber wie will der schiitische Iran sich mit der schiitischen Mehrheit im Irak, die schiitische Gemeinschaft im südlichen Libanon und andere schiitische Gemeinschaften in einer vereinigten Entität verbinden? Was mit dem Dutzend christlicher Gruppierungen in vielen Ländern? Einige Leute glauben, dass die einzige lebensfähige Lösung für das eigentliche Syrien die Auflösung des Landes in verschiedene konfessionelle Staaten ist - einen zentral sunnitischen Staat, einen alawitischen Staat, einen kurdischen Staat, einen drusischen Staat etc. Der Libanon war auch ein Teil Syriens, bis die Franzosen sie aus einander rissen, um einen christlichen Staat zu errichten. Die Franzosen schufen in Syrien mehrere solche kleine Staaten, um den Rücken des syrischen Nationalismus zu brechen. Das funktionierte nicht. Die Schwierigkeit solch einer "Lösung" wird durch die Situation der Drusen illustriert, die in zwei nicht verbundenen Gebieten leben - im Süden des Libanon und im Gebiet des "Drusischen Berges" im südlichen Syrien. Eine kleine drusische Gemeinde lebt in Israel. (Im Sinne einer defensiven Strategie sind sie in jedem Land - auch in Israel - Patrioten.) Das Auseinanderfallen der bestehenden Staaten kann von großen Massakern und ethnischer Säuberung begleitet sein, wie es in Indien geschah, als es auseinanderbrach und als Palästina geteilt wurde. Das ist keine schöne Aussicht. Toynbee hat übrigens die Juden nicht nur als ein Fossil der Vergangenheit angesehen, sondern auch als Vorboten der Zukunft. In einem Interview, das er meinem Magazin Haolam Hazeh gewährte, drückte er auch seine Hoffnung aus, dass der Nationalstaat von den weltweiten ideologischen Gemeinschaften wie die der Juden abgelöst werden würde. Er mag dabei an die Kommunisten gedacht haben, die sich in jener Zeit in eine weltweite über-nationale Gemeinschaft verwandelten. Auch dieses Experiment scheiterte. GEGENWÄRTIG wütet unter Israels Historikern ein Krieg. Prof. Shlomo Sand behauptet, dass die jüdische Nation erfunden worden sei (wie alle Nationen, nur noch mehr), und dass das Konzept von Erez Israel (das Land Israel) auch eine zionistische Erfindung sei. Jetzt behauptet er auch, dass er kein Jude sei, sondern ein Israeli. Gegen diese Häresien schreit eine ganze Phalanx zionistischer Professoren auf. Da ich nicht einmal die Grundschule beendete, würde ich es nicht wagen, meinen Kopf dazwischen zu stecken und bei der Schlacht der Professoren zu intervenieren. Ich will jedoch bemerken, dass auch ich gegen das Zurückrutschen in eine weltweite jüdische Gemeinschaft wäre und dass die neue israelische Nation in Israel anerkannt wird. JA. WIR sind eine israelische Nation, eine Nation, deren Existenz an das Schicksal des Staates Israel gebunden ist. Das heißt nicht, dass diejenigen von uns, die Juden sind, unsere jüdische Vergangenheit, ihre Traditionen und Werte ablehnen sollen und auch unsere Verbindung zur weltweiten ethno-religiösen jüdischen Gemeinschaft. Aber wir haben ein neues Stadium in unserer Entwicklung erreicht. So geht es vielleicht den arabischen Völkern um uns. Neue Entwicklungen sind im Gange. Die Geschichte zeigt, dass menschliche Gesellschaften sich die ganze Zeit verändern, so wie sich ein Schmetterling vom Ei in eine Raupe, von da in eine Puppe und von da in einen wunderschön bunten Schmetterling entwickelt. Für den Schmetterling ist dies das Ende. Für uns - so hoffe ich - ist dies nur der Anfang. Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert. Weblinks: Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|