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Ullrich Hahn: Was heißt “politisch handeln” unter der Bedingung des Gewaltverzichts?

Thesen und Texte

Von Ullrich Hahn

A.

Mit dem nicht nur teilweisen sondern generellen Verzicht auf Gewalt ist eine grundsätzliche Abkehr vom herrschenden Politikverständnis verbunden:

a.) Verantwortung für die öffentlichen Angelegenheiten übernehmen weitestgehend gewählte Vertreter, die in ihrer Zusammensetzung den Mehrheitswillen der Vertretenen repräsentieren sollen.

Abgesehen von Anhörungen auf kommunaler Ebene gibt es keine öffentlichen Bereiche mehr, in denen die von einer Entscheidung Betroffenen in gemeinsamer Willensbildung über sich und ihre Angelegenheiten selbst bestimmen können.

Martin Buber: "Liegt nicht am Ende gerade in dem allzu weitgehenden sich Vertretenlassen die schlimmste Fehlerhaftigkeit der modernen Gesellschaft?… Je mehr aber eine Menschenschar in der Bestimmung ihrer gemeinsamen Sachen sich vertreten lässt und je mehr von außen her, umso weniger Gemeinschaftsleben gibt es in ihr, umso gemeinschaftsärmer wird sie. Denn Gemeinschaft… bekundet sich zunächst in der gemeinsamen aktiven Behandlung des Gemeinsamen und kann ohne sie nicht bestehen. ("Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung.")

b.) Auch wenn staatliche Politik den Anspruch erhebt, für die Menschen zu wirken, so wird sie doch erlebt als eine Politik über Menschen. Sie beruht letztlich auf der Fähigkeit überlegene Gewalt ausüben zu können, sowohl im Einsatz direkter Formen (Militär u. Polizei) als auch auf indirekte Weise (Gesetze, Bürokratie und Justiz).

Was sinnvoll und notwendig erscheint, wird regelmäßig nicht auf dem Weg von Überzeugung, Einsicht und Freiwilligkeit umgesetzt, sondern durch gesetzlichen Zwang.

Max Weber: "Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes … das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich mit Erfolg beansprucht… Der Staat… gilt als alleinige Quelle des Rechts auf Gewaltsamkeit. Politik würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt… Der Staat ist … ein auf das Mittel der legitimen (d.h.: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen…

Das evangelische Gebot ist unbedingt und eindeutig: Gib her, was du hast - alles, schlechthin. Der Politiker wird sagen: Eine sozial sinnlose Zumutung, so lange es nicht für alle durchgesetzt wird." ("Politik als Beruf.")

c.) Dabei dominieren die jeweils verfolgten Ziele die dabei eingesetzten Mittel. Es gilt (auch im Rechtsstaat mit abnehmenden Einschränkungen): "Der Zweck heiligt die Mittel".

Wenn ethische Bedenken auftauchen, werden sie quantifiziert und mit der Wahl des "kleineren Übels" beiseite gerückt.

Max Weber: "Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, dass die Erreichung "guter" Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, dass man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben: Wann und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel und Nebenerfolge "heiligt".

Wer Politik… betreiben will, lässt sich mit den diabolischen Mächten ein, die in jeder Gewaltsamkeit lauern…

Macchiavelli … (lässt) jene Bürger preisen, denen die Größe der Vaterstadt höher stand als das Heil ihrer Seele." (a.a.O)

Hannah Arendt: "Es gab im Dritten Reich nur wenige Menschen, die die späteren Verbrechen des Regimes aus vollem Herzen bejahten, dafür aber eine große Zahl, die absolut bereit waren sie dennoch auszuführen… Bei ihrer moralischen Rechtfertigung hat vornehmlich das Argument des kleineren Übels eine Rolle gespielt. Wenn man mit zwei Übeln konfrontiert werde, so lautet das Argument, dann sei man verpflichtet, das kleinere von beiden zu wählen, wo hingegen es unverantwortlich sei, die Wahl rundweg abzulehnen. Die Schwäche dieses Argumentes bestand schon immer darin, dass diejenigen, die das kleinere Übel wählen, rasch vergessen, dass sie sich für ein Übel entscheiden…

Die Hinnahme des kleineren Übels wird bewusst dazu benutzt, die Beamten wie auch die Bevölkerung im allgemeinen daran zu gewöhnen, das Übel an sich zu akzeptieren." ("Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur?")

d.) Verantwortung in der offiziellen Politik ist begrenzt auf die Interessen und das Wohl der eigenen Nation.

Art.56 GG: "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohl des deutschen Volkes widme, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden… werde…" (Amtseid des Bundespräsidenten, des Kanzlers und der Minister)

Unterteilt in der Realität entwickelt sich das Wohl des Volkes unterschiedlich für Arm und Reich. Verantwortlich dafür sind die "Gesetze" des freien Marktes, die dafür sorgen, dass die aktuelle Politik eher den Reichen als den Armen dient.

Aristoteles irrte, als er sich bei der Herrschaftsform der Demokratie Sorgen um die Minderheit der Reichen machte, die er der erdrückenden Mehrheit der Armen ausgeliefert sah.

B.

Macciavelli am Beginn der Neuzeit im 15.Jahrhundert und Max Weber zu Beginn der ersten Deutschen Republik 1919 haben aufgezeigt, wie eine "moderne" Politik aussieht und welche Regeln in ihr an die Stelle von Tradition, Religion und Moral treten.

In gleicher Weise liest sich die 2000 Jahre vor Macciavelli gehaltene Rede von Samuel an die Israeliten, die einen König haben wollten, "wie alle Heiden, dass uns unser König richte und vor uns her ausziehe und unsere Kriege führe" (1.Samuel 8).

Den Gegenentwurf einer Politik Jesu fasst Lukas in 2 kurzen Versen zusammen: "Die Könige herrschen über ihre Völker und ihre Machthaber lassen sich Wohltäter nennen. Ihr aber nicht so. Sondern der Größte unter euch sollte sein wie der Jüngste und der Vornehmste wie ein Diener (Lukas 22, 25; Ausgeführt von John Howard Yoder, "Die Politik Jesu - der Weg des Kreuzes").

Politisches Handeln unter der Bedingung des Gewaltverzichts ist nicht irreal, sondern geschieht in dieser Welt unter den gleichen Umständen, wie sie sich auch den "Realpolitikern" bieten. Aus dem Gewaltverzicht oder zugleich mit ihm ergeben sich aber andere Handlungsgrundsätze und -formen:

a.) Verzicht auf Gewalt bedeutet auch Verzicht auf Macht über andere Menschen im Sinne von Zwang, der ihren eigenen Willen bricht.

Politisches Handeln unter der Bedingung des Gewaltverzichts kann nicht anders als auf Einsicht und Freiwilligkeit bauen.

Das schließt nicht aus, uns selbst und andere zu "ermächtigen", im Sinne von ermutigen und befähigen, gegen Unterdrückung und Fremdbestimmung Widerstand zu leisten und allein oder zusammen mit anderen die eigenen Angelegenheiten selbst zu bestimmen und zu gestalten.

Hannah Arendt: "Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammen zu schließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.

Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur so lange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemandem sagen, er habe die Macht, heißt das in Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln.

In dem Augenblick, in dem die Gruppe, die den Machthaber ermächtigte und ihm ihre Macht verlieh… auseinander geht, vergeht auch seine Macht." ("Macht und Gewalt").

b.) Diese Art, politisch zu handeln, setzt das Wissen um die eigene Verantwortung voraus, die wir für das eigene Leben und für die Belange der Menschheit im Sinne von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung haben, und will diese Eigenverantwortung stärken und entfalten.

Immanuel Kant: "Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." (Grundlegung der Metaphysik der Sitten).

Dies bedeutet gleichzeitig auch, die Eigenverantwortung und die Selbstbestimmung anderer Menschen zu respektieren, für deren Belange wir uns einsetzen wollen.

c.) Politisches Handeln ist damit ein offener Prozess, der um aller Menschen willen, die neu geboren werden, nie abgeschlossen sein und deshalb keine endgültigen Ergebnisse zeitigen kann. Die Gestaltung eines menschlichen Gemeinwesens ist etwas anderes, als die zeitlich befristete Herstellung einer Sache.

Hannah Arendt: "Was den Menschen zu einem politischen Wesen macht, ist seine Fähigkeit zu handeln; sie befähigt ihn, sich mit seinesgleichen zusammen zu tun, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, sich Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden, die ihm nie in den Sinn hätten kommen können, wäre ihm nicht diese Gabe zuteil geworden: Etwas Neues zu beginnen. Philosophisch gesprochen ist Handeln die Antwort des Menschen auf das Geborenwerden als eine der Grundbedingungen seiner Existenz: Da wir alle durch Geburt, als Neuankömmlinge und als Neuanfänge auf die Welt kommen, sind wir fähig, etwas Neues zu beginnen; ohne die Tatsache der Geburt wüssten wir nicht einmal was das ist: etwas Neues;…" ("Macht und Gewalt").

Für den Strafverteidiger bedeutet das z.B., den "kurzen Prozess" zu verhindern, den wohlgemuten Griff nach der (vermeintlichen) Wahrheit zu stören.

Dabei gilt: Auf das rechte Handeln zu achten, nicht auf den Erfolg. Der Erfolg gibt nicht Recht.

Leonard Ragaz: "Schiele nicht nach dem Erfolg. Arbeite. Der Erfolg ist Gottes." ("Die Gleichnisse Jesu")

d.) Die Rechtmäßigkeit der eingesetzten Mittel haben im politischen Handeln Vorrang vor ihrer Zweckmäßigkeit, d.h. der Weg bestimmt das Ziel.

Hannah Arendt: "Jede gute Tat für einen bösen Zweck macht die Welt faktisch besser, jede böse Tat für einen guten Zweck macht die Welt faktisch schlechter ("Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken")

Das Denken der Mehrheit ist für das eigene Handeln nicht entscheidend, sie ist auch kein Argument für seine Richtigkeit.

Wesentlich ist es dagegen, die Wahrheit bzw. das Recht, zu suchen - im Dialog mit anderen, insbesondere mit allen, die im konkreten Fall von einem Ergebnis betroffen sind.

Hannah Arendt: "Zwar ist Wahrheit ohnmächtig und wird in unmittelbarem Zusammenprall mit den bestehenden Mächten und Interessen immer den kürzeren ziehen, aber sie hat eine Kraft eigener Art: Es gibt nichts, was sie ersetzen könnte." ("Wahrheit und Politik")

e.) Im Verzicht auf Gewalt erfahren wir im politischen Handeln auch die eigene Ohnmacht als Teil der Wahrheit über uns. Wir haben nicht alles im Griff, können nicht alles machen und deshalb nicht jedes eigene oder fremde Leid verhindern. Der Ohnmacht entspricht das Schweigen, auch als Schutz vor dem "Getriebe" (Dorothee Sölle, Mystik und Widerstand).

f.) Politisches Handeln besteht nicht nur im Tun sondern auch - und sogar vorrangig - im Unterlassen.

Durch die Wahl unserer Geldanlagen, den Konsum und Energieverbrauch sowie die Art der Verkehrsmittel sind wir - juristisch gesehen - Mittäter, Gehilfen oder gar Anstifter zur Ausbeutung von Mensch und Natur oder ermöglichen neues Leben.

Gegenüber struktureller Gewalt ist das Lassen das Mittel der Wahl, auch das verbale Unterlassen jeglicher Legitimation von Gewalt und Unrecht; wir hören damit auf "Stützen der Gesellschaft" (Hendrik Ibsen) zu sein.

Insbesondere das Geld ist die Macht, andere für sich arbeiten zu lassen. "Weiße Hände lieben fremde Mühe" (Leo Tolstoi).

Gewaltverzicht heißt in diesem Sinne auch Verzicht auf Reichtum, besonders auf Zinsen, d.h. den Ertrag fremder Arbeit.

Das Lassen entspricht der Ruhe des Sabbats, bedeutet Ausatmen, Abstand gewinnen und Gelassenheit, hilft uns Aufmerksamkeit und Achtsamkeit einzuüben, die im Getriebe des Machens oft vergessen werden.

g.) Politisches Handeln geschieht nicht nur im Unterlassen des Unrechts, im Widerstand und der Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung, sondern auch im Aufbau und Leben dessen, was wir anstreben.

Gegenüber dem egoistischen Lebenskampf der Starken gilt es, Gemeinschaft zu stiften und in Gemeinschaft zu leben.

Das Modell ("als Stadt auf dem Berg") ist das wohl wichtigste Mittel der Minderheit, ihre Anliegen anderen zu vermitteln.

Im Bemühen um Gemeinschaft erhalten unsere unterschiedlichen Gaben gleiches Gewicht, werden wir barmherzig gegenüber der eigenen Unvollkommenheit und der der anderen.

Im Versuch, die eigenen politischen Ideale im Miteinander zu leben, vollziehen wir auch den Schritt vom politischen Handeln zum politischen Sein.

Dorothee Sölle: "Vielleicht ist ein Mensch am freiesten dann, wenn er… nur sagen kann: Ich bin, was ich tue" (Mystik und Widerstand).

Martin Buber: "Landauer betonte gerne, er sei antipolitisch gesinnt; das bedeutete natürlich ganz und gar nicht: Einer, der sich aus der Öffentlichkeit in die private oder intellektuelle Existenz zurückzieht; es bedeutete: Einer der gegen eine falsche Öffentlichkeit für eine künftige rechtmäßige, gegen eine zerfallende Gesellschaft für den Bau einer Gemeinschaft mit seiner Person eintritt; aber eben nicht "politisch" eintritt, wie für etwas, was man nur durchsetzen will, sondern mit den Mitteln des Lebens selber, im Leben selber, im eigenen Leben, mit dem eigenen Leben." (Pfade in Utopia).
 

Veröffentlicht am

02. Juli 2007

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