Uri Avnery: Menschlicher FrühlingVon Uri Avnery, 6. Juli 2013 Ich komme noch einmal auf eine Geschichte des Führers der Kommunistischen Partei Chinas Zhou Enlai zurück. Als er einmal gefragt wurde, was er über die Französische Revolution denke, antwortete er bekanntermaßen: "Es ist zu früh, etwas darüber zu sagen." Man betrachtete diese Antwort als ein Beispiel alter chinesischer Weisheit - bis irgendjemand darauf hinwies, dass Zhou nicht die Revolution von 1789, sondern die Ereignisse vom Mai 1968 gemeint hatte, die tatsächlich zur Zeit des Interviews noch nicht lange zurücklagen. Selbst heute ist es vielleicht noch zu früh, diesen Aufstand zu beurteilen, als Studenten Steine aus dem Pariser Pflaster rissen, der brutalen Polizei die Stirn boten und ein neues Zeitalter verkündeten. Das war ein Vorläufer von dem, was heute in der ganzen Welt geschieht. DIE FRAGEN HÄUFEN SICH: Warum? Warum jetzt? Warum in so vielen völlig verschiedenen Ländern? Warum gleichzeitig in Brasilien, der Türkei und Ägypten? Wir wissen, wie es anfing. Der Souk von Sidi Baouzid war der allererste Ort. Dort muss es ähnlich zugegangen sein und noch zugehen wie im Souk von Tunis. Als Jassir Arafat in der Stadt wohnte, war ich viele Male dort. Der Markt fiel mir immer als besonders glücklicher Ort auf: Er war voller Lärm, eifriger Ladenbesitzer, feilschender Touristen und Einwohner mit Jasmin-Blühten hinterm Ohr. Im Souk von Sidi Baouzid stellte eine Polizistin einen Obstverkäufer zur Rede und warf seinen Karren um. Er war tödlich beleidigt, zündete sich selbst an und setzte damit einen Prozess in Gang, der jetzt viele Millionen Menschen in der ganzen Welt umfasst. Die ägyptischen Massen griffen das Beispiel von Tunesien auf. Sie versammelten sich auf dem Tachrir-Platz und setzten ihren Diktator ab. Dann waren wir an der Reihe und fast eine halbe Million Israelis gingen auf die Straße, um gegen den Preis für Quark zu protestieren. Dann gab es Aufstände in Syrien, dem Jemen, Bahrain und anderen arabischen Staaten, diese Aufstände werden alle zusammen Arabischer Frühling genannt. In den USA inszenierte die Occupy-Wall-Street-Bewegung ihren eigenen Tachrir-Platz in New York. Und jetzt demonstrieren Millionen in der Türkei und in Brasilien und Ägypten steht auch wieder in Flammen. Man kann noch den Iran und weitere Länder hinzufügen. Wie ist das passiert? Wie funktioniert es? Welcher verborgene Mechanismus liegt dem allen zugrunde? Und insbesondere: Warum geschieht es gerade jetzt? VORSTELLBAR ist, dass zwei miteinander verbundene Phänomene unseres Lebens in der Gegenwart die Aufstände möglich und wahrscheinlich gemacht haben: Fernsehen und die sozialen Medien. Das Fernsehen informiert die Zuschauer in Kamtschatka innerhalb von Minuten über die Ereignisse in Timbuktu. Die Menschen in Rio de Janeiro konnten die riesigen Demonstrationen auf Istanbuls Taksim-Platz in Echtzeit verfolgen. Früher dauerte es Wochen, ehe die Menschen auf dem Piccadilly Circus in London etwas von den Ereignissen auf der Place de la Concorde in Paris hörten. Nach der Schlacht von Waterloo machten die Rothschilds einen Riesengewinn damit, dass sie Brieftauben einsetzten. Auch 1848 dauerte es eine Weile, bis sich die Revolution von Paris nach ganz Europa ausbreitete. So ist es nun nicht mehr. Die brasilianischen Jugendlichen konnten sehen, was sich im Gezi-Park in Istanbul abspielte, und sie fragten sich: Warum nicht auch hier? Sie sahen zu, wie entschlossene junge Männer und Frauen Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken standhalten konnten, und sie hatten das Gefühl: Das können wir auch! Das andere Werkzeug sind facebook, Twitter und weitere "soziale Medien". Fünf junge Männer, die in einem Café in Kairo saßen und über die Situation sprachen, konnten beschließen, eine Online-Petition zur Ablösung des amtierenden Präsidenten auf den Weg zu bringen, und innerhalb weniger Tage unterzeichneten Millionen Bürger. Nie zuvor in der Geschichte war etwas Derartiges möglich oder auch nur vorstellbar gewesen! Das ist eine neue Form direkter Demokratie. Die Menschen müssen nicht mehr auf die nächsten Wahlen warten, die vielleicht erst ein paar Jahre später stattfinden werden. Sie können unmittelbar handeln, und wenn die Grundströmung stark genug ist, kann sie sich zu einem Tsunami entwickeln. REVOLUTIONEN werden jedoch nicht von der Technik, sondern von Menschen gemacht. Was bringt so viele verschiedene Menschen in so vielen verschiedenen Kulturen dazu, zur selben Zeit dasselbe zu tun? Zum Beispiel die Zunahme des religiösen Fundamentalismus. In den letzten Jahrzehnten ist das in verschiedenen Ländern und mit verschiedenen Religionen geschehen. Der jüdische Fundamentalismus errichtet Siedlungen in der besetzten Westbank und bedroht die israelische Demokratie. Überall in der arabischen Welt und in vielen anderen muslimischen Ländern erhebt der islamische Fundamentalismus sein Haupt und richtet Chaos an. In den USA hat der evangelikale Fundamentalismus die Tea Party geschaffen und bringt die Republikanische Partei gegen ihr eigenes Interesse dazu, zur extremen Rechten zu werden. Ich verstehe nicht viel von anderen Religionen, aber es wundert mich doch: Da gibt es neue Geschichten über Buddhisten, die in verschiedenen Ländern Muslime angreifen. Buddhisten? Ich dachte immer, der Buddhismus sei ein außergewöhnlich friedlicher Glaube! Wie kann man diese gleichzeitigen und parallelen Symptome erklären? Kommentatoren benutzen - auch außerhalb des deutschen Sprachraums - den philosophischen Ausdruck "Zeitgeist". Der erklärt alles und nichts. Darin ist er wie die andere große Erfindung des Menschen: Gott. Also steckt der Zeitgeist hinter den jetzt stattfindenden Aufständen? Fragen Sie mich das lieber nicht! ES GIBT VIELE bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen den Massenrevolten in den verschiedenen Ländern. Alle werden von jungen Leuten der sogenannten Mittelschicht gemacht. Weder von den Armen noch von den Reichen. Arme machen keine Revolutionen - sie haben zu viel damit zu tun, ihre Kinder zu ernähren. Die Bolschewikische Revolution von 1917 wurde nicht von Arbeitern und Bauern gemacht. Sie wurde von unzufriedenen Intellektuellen gemacht, viele von ihnen waren Juden. Wenn Sie ein Zeitungsfoto von einer Demonstranten-Gruppe sehen, können Sie auf den ersten Blick nicht erkennen, ob dies Ägypter, Israelis, Türken, Iraner oder Amerikaner sind. Sie gehören alle zur selben sozialen Schicht. Es sind junge Leute, die sich durch herzlose Globalisierung entfremdet fühlen, die einem Arbeitsmarkt ausgesetzt sind, der ihnen nicht mehr die rosigen Aussichten bietet, die sie erwarten, es sind Universitätsstudenten, für deren Fähigkeiten wenig Nachfrage besteht, und Menschen mit Arbeit, denen es schwerfällt, über die Runden zu kommen. Die unmittelbaren Ursachen dafür sind unterschiedlich. Israelis demonstrieren gegen den Preis für Quark und neue Wohnungen. Türken protestieren gegen den Plan, den beliebten Istanbuler Park zu einem Einkaufszentrum zu machen, Brasilianer erheben sich gegen eine kleine Anhebung der Busfahrpreise, Ägypter protestieren jetzt gegen die Versuche der politisierten Religion, den Staat zu übernehmen. Aber im Grunde drücken alle Proteste allgemeine Empörung über die Politik und die Politiker aus, über Politiker, die als von den Menschen weit entfernte Machtelite gesehen werden, über die enorme Macht einer winzigen Gruppe von Ultra-Reichen und über die kaum verstandene Globalisierung. DERSELBE Mechanismus, der diese Revolutionen ermöglicht, bringt auch ihre besondere Schwäche hervor. Das Muster war schon bei den Ereignissen in Paris im Mai 1968 zu erkennen. Diese fingen mit einem Studentenprotest an, dem sich Millionen Arbeiter anschlossen. Es gab keine Organisation, keine gemeinsame Ideologie, keinen Plan, keine übergeordnete Führung. Aktivisten versammelten sich in einem Theater, debattierten endlos und drückten allerlei mögliche und unmögliche Ideen aus. Am Ende gab es keine konkreten Ergebnisse. Es herrschte ein gewisser Geist. Der Drehbuchautor und Regisseur des Monumentalfilms Shoah Claude Lanzmann beschrieb ihn mir einmal auf diese Weise: "Die Studenten zündeten Autos an. Also verbrachte ich jeden Abend eine Menge Zeit damit, einen sicheren Platz für mein Auto zu finden, bis ich mir schließlich sagte: Zum Teufel, wofür brauche ich überhaupt ein Auto? Sollen sie es ruhig anzünden!" Dieser Geist blieb eine Weile bestehen. Aber das Leben ging weiter und die großen Ereignisse waren bald nur noch Erinnerung. Das kann jetzt wieder geschehen. Wieder ereignet sich überall dasselbe: keine Organisation, keine Führung, kein Programm, keine Ideologie. Die bloße Tatsache, dass jeder seine Meinung auf facebook ausdrücken kann, scheint es leichter zu machen, sich auf ein "Gegen" als auf ein "Für" zu einigen. Die jungen Protestierenden sind ihrem Wesen nach Anarchisten. Sie verabscheuen Führer, Organisationen, politische Parteien, Hierarchien, Programme und Ideologien. Zwar kann man auf facebook zu einer Demonstration aufrufen, aber man kann dort keine gemeinsame Ideologie schmieden. Aber, so sagte einst Lenin, ohne revolutionäre Ideologie gibt es keine revolutionäre Aktion. Und er war nun wirklich ein Fachmann in der Kunst der Revolution! Es besteht die große Gefahr, dass alle diese riesigen Demonstrationen eines Tages immer schwächer werden - wieder ist es der Zeitgeist -, und dass sie nicht mehr als Erinnerungen zurücklassen. In Israel ist es schon so weit gekommen. Die Massendemonstrationen hatten ein wenig Einfluss auf die Wahlen in diesem Jahr, aber die neuen Parteien unterscheiden sich in nichts von den alten. Neue Politiker haben den Platz der alten Politiker eingenommen. Aber nichts hat sich wirklich verändert, weder auf nationaler noch auf sozialer Ebene. IN JEDER Demokratie können Veränderungen nur durch neue politische Parteien erreicht werden, die ins Parlament einziehen und neue Gesetze verabschieden. Dafür braucht man politische Führer - jetzt, im Fernsehzeitalter mehr denn je. Es genügt nicht, viel Dampf zu machen - man braucht auch eine Maschine, die den Dampf sinnvoll nutzen kann. Die Tragödie in Ägypten, einem Land, das ich liebe, zeigt das äußerst deutlich. Die Revolution hat zwar die Diktatur beseitigt, aber in den darauf folgenden Wahlen konnten die Revolutionäre sich nicht vereinigen, sie konnten keine gemeinsame politische Macht schaffen und Führer wählen. Die Muslimbruderschaft hat ihnen den Sieg weggeschnappt, denn sie war gut organisiert und hatte eine feste Führung. Die Muslimbrüder haben versagt. Die Macht ist ihnen nach Jahrzehnten der Verfolgung zu Kopf gestiegen. Sie ließen alle Vorsicht beiseite. Statt einen neuen Staat auf Mäßigung, Kompromiss und Einschluss zu gründen, konnten sie es nicht abwarten. Deshalb verlieren sie nun vielleicht alles. Die demokratischen Revolutionäre müssen erst noch beweisen, dass sie zur Führung eines Landes fähig sind - in Ägypten und an allen anderen Orten. Sie können einen weltweiten Menschlichen Frühling in Gang bringen. Oder aber sie lassen nichts als eine unbestimmte Sehnsucht zurück. Es liegt an ihnen. Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler Weblinks:
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