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Uri Avnery: Ein Geschenk Europas

Von Uri Averny, 20. Juli 2013

ZU MEINEM 70. Geburtstag bekam ich ein Geschenk von Jitzhak Rabin: Er unterzeichnete das Dokument, das nach jahrzehntelanger Leugnung die Existenz des palästinensischen Volkes anerkannte. Und er erkannte die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als Vertretung dieses Volkes an. Viele Jahre lang hatte ich das, fast als Einziger, gefordert.

Drei Tage danach wurde die Oslo-Vereinbarung auf dem Rasen des Weißen Hauses unterzeichnet.

In dieser Woche bekam ich ein weiteres Geschenk von ähnlichem Ausmaß, offensichtlich eine Vorwegnahme meines 90. Geburtstages in nicht ganz zwei Monaten.

Keine Geringere als die Europäische Union hat etwas erklärt, das dem vollkommenen Boykott der Siedlungen gleichkommt, 15 Jahre nachdem die Friedensorganisation Gush Shalom, zu der ich gehöre, einen Aufruf zu einem derartigen Bokott herausgebracht hat.

Die Entscheidung der Union besagt, dass keine israelische Institution und kein israelisches Unternehmen, das eine direkte oder indirekte Verbindung mit den israelischen Siedlungen in der Westbank, Ostjerusalem oder den Golanhöhen unterhält, irgendeinen Vertrag, irgendeine Subvention oder irgendeinen Preis oder dergleichen von der EU oder irgendeinem ihrer Mitgliedstaaten bekommen wird. Um die Einhaltung sicherzustellen, wird jeder Vertrag zwischen Israelis und der EU einen Paragrafen enthalten, in dem es heißt, dass die Siedlungen kein Teil Israels seien.

Einer meiner Freunde schickte mir eine Botschaft, die aus dem einzigen Wort Mabrouk (arabisch: Glückwünsche) bestand.

Wenn all das ein bisschen größenwahnsinnig klingt, bitte ich, es mir nicht übelzunehmen. Ich bin einfach froh.

ALS WIR uns 1998 entschlossen, einen Boykott zu organisieren, hatten wir dabei einige miteinander verbundene Ziele im Sinn.

Ein Boykott ist ein ausgesprochen demokratisches Instrument, eine Form gewaltfreien Widerstandes.

Jede/r Einzelne kann für sich selbst entscheiden, ob sie/er an einem Boykott teilnehmen möchte oder nicht.

Jeder Einzelne kann auch entscheiden, ob er alle Unternehmen auf der Empfehlungsliste boykottieren oder einige vom Boykott ausnehmen will. Einige unserer Unterstützer wollten die Siedlungen auf den Golanhöhen nicht boykottieren, denn sie meinten, mit ihnen verhalte es sich anders, und einige wollten die in Ostjerusalem nicht boykottieren. Ein berühmter Künstler erklärte, er könne ganz und gar nicht ohne die ausgezeichneten Weine von den Golanhöhen leben.

Viele der Unternehmen in den Siedlungen sind nicht aus ideologischen Gründen dorthin gegangen - Kapitalisten sind im Allgemeinen nicht gerade für ihren ideologischen Eifer bekannt -, sondern weil die israelische Regierung ihnen das (gestohlene) Land umsonst gab, dazu noch alle möglichen Subventionen, Steuerbefreiung und andere Anreize. Es war für ein Unternehmen wirtschaftlich sinnvoll, ihr außerordentlich teures Gelände in Tel Aviv zu verkaufen und in Ariel Land umsonst zu bekommen. Ein Boykott kann als Gegengewicht zu diesen Gewinnen dienen.

Im Gegensatz dazu, dass einer auf die Straße geht und an einer Demonstration teilnimmt, ist es Privatsache, ob man etwas im Supermarkt kauft oder nicht. Bei einer Demonstration kann man mit Tränengas besprüht, mit Wasserwerfern beschossen oder zusammengeschlagen werden. Man exponiert sich und wird vielleicht in irgendeine Liste eingetragen oder sogar aus einer Beschäftigung bei der Regierung entlassen.

Boykottieren kann jeder. Man muss keiner Organisation beitreten, keine Petition unterschreiben oder sich zu erkennen geben. Man kann jedoch die Befriedigung erleben, in Übereinstimmung mit seinen Überzeugungen etwas Nützliches zu tun.

Unser Hauptziel war jedoch konzeptionell. Seit Jahrzehnten bemühen sich die aufeinander folgenden israelischen Regierungen darum, die Grüne Linie von der Landkarte und aus dem Bewusstsein der Menschen zu tilgen. Das Hauptziel des Boykotts war es, den israelischen Bürgern die tatsächlichen Grenzen wieder ins Bewusstsein zu bringen.

Wir haben viele tausend Exemplare der Liste der Unternehmungen in den Siedlungen verteilt, alle auf Anfrage.

Die israelische Regierung erwies uns die einzigartige Ehre, ein besonderes Gesetz zu erlassen, das alle Aufrufe zum Boykott der Produkte der Siedler unter Strafe stellt. Jeder, der sich durch einen derartigen Aufruf geschädigt fühlt, kann unbegrenzt Schadensersatz verlangen, ohne dass er den tatsächlichen Schaden nachweisen muss. Das könnte einige Millionen Dollar teuer werden.

Wir haben den Obersten Gerichtshof angerufen, dieses Gesetz aufzuheben, aber der Gerichtshof schiebt das schon seit Jahren auf die lange Bank, offensichtlich fürchtet er sich, ein Urteil zu fällen.

WÄHREND WIR alles das getan haben, tat die Europäische Union das Gegenteil.

Praktisch trug sie zur Finanzierung der Siedlungen bei - eben der Siedlungen, die sie gleichzeitig für illegal erklärte.

Tatsächlich sind die neuen Maßnahmen alles andere als neu. Die Vereinbarung zwischen der EU und Israel nimmt israelische Produkte vom Zoll aus, als wäre Israel ein europäisches Land. Israel ist auch schon Teilnehmer an der europäischen Fußballliga, dem Eurovision-Song-Contest und an anderen Veranstaltungen und Organisationen. Israelische Universitäten bekommen riesige Mengen Forschungsgelder von Europa und beteiligen sich an europäischen Wissenschaftsprojekten.

Alle diese Vereinbarungen sind im Prinzip auf das eigentliche Israel beschränkt und gelten nicht für die Siedlungen. Die Super-Regierung in Brüssel hat jedoch jahrzehntelang bewusst in dieser Hinsicht beide Augen zugedrückt.

Ich weiß Bescheid, denn ich bin selbst vor Jahren nach Brüssel gereist, um gegen diese Praxis zu protestieren. Ich habe den Kommissaren, Beamten und Parlamentariern erklärt, dass sie praktisch die Siedlungen ermutigen und Firmen dazu verleiten, sich dort anzusiedeln. Die Angesprochenen gaben mir zu verstehen, dass sie durchaus mit unserem Standpunkt sympathisierten, dass ihnen jedoch die Hände gebunden seien, weil einige europäische Länder, darunter Deutschland und die Niederlande, alle Bemühungen der Union blockierten, die gegen scheinbare israelische Interessen verstießen.

Es sieht so aus, als wäre dieses Hindernis überwunden. Darüber bin ich sehr froh.

DIE ISRAELISCHE Regierung nahm diese Nachricht mit Bestürzung auf. Noch wenige Tage zuvor hätte sie sich nicht träumen lassen, dass das möglich wäre.

In Israel macht man sich über die europäische Union lustig. Da wir mit Sicherheit wissen, dass wir die Politik der USA vollkommen beherrschen, können wir die EU mit Verachtung behandeln, obwohl sie unser Haupthandelspartner ist. Ein großer Teil der israeilischen Exporte, darunter Militärausrüstung, geht dorthin.

Regierungsführer geifern jetzt vor Zorn. Kein einziger Politiker hat gewagt, zugunsten der europäischen Entscheidung zu sprechen. Rechts und Links sind sich darin einig, sie zu verdammen. Benjamin Netanyahu erklärte, Israel allein entscheide, wo seine Grenzen seien, und das ausschließlich in direkten Verhandlungen. Ungeachtet dessen, dass er seit Jahren bedeutsame direkte Verhandlungen verhindert.

Wirtschaftsminister Naftali Bennett, der zufällig auch der Hauptvertreter der Siedler ist, wies die Entscheidung kurzerhand zurück. Erst wenige Tage zuvor hatte das politische Genie (und der selbsternannte "Bruder" von Ja’ir Lapid) verkündet, auf Israel werde ganz und gar kein Druck ausgeübt.

Lapid äußerte die Meinung, der europäische Schritt sei eine "miserable Entscheidung".

Bennett schlägt nun vor, Europa damit zu bestrafen, dass alle humanitären Projekte der EU in der Westbank angehalten würden. (Das erinnrt an den
Witz über den polnischen Adligen, dessen Jude von einem anderen Adligen durchgeprügelt worden war, und der drohte: "Wenn du nicht aufhörst, meinen Juden zu prügeln, prügele ich deinen Juden!")

Das aufschlussreichste Argument, das die Führer von Israel geäußert haben, war, dass die europäische Entscheidug die heldenhaften Bemühungen John Kerrys, Verhandlungen zwischen Israel und der Palästinensischen Behörde in Gang zu bringen, untergraben hätte.

Das ist der Gipfel an Chuzpe. Seit Monaten tun jetzt Netanyahu und seine Regierung ihr Möglichstes, um zu verhindern, dass der unglückselige Kerry sein Ziel erreicht. Jetzt benutzen sie seine Bemühungen als Feigenblatt für die Siedlungen.

Shelly Yachimovich von der Arbeitspartei, die offizielle "Oppositionsführerin", begnügt sich damit, dass sie den Ruf nach Verhandlungen wiederholt. Keine Spur von Kritik an den Siedlern, im Gegenteil: Sie erklärt öffentlich ihre Sympathie für sie.

WIE IN DERARTIGEN Situationen üblich, sucht die öffentliche Meinung in Israel nach den Schuldigen. Aber sie findet keine.

Israel hat keinen Außenminister, sondern nur einen Vertreter. Der ist zufällig einer der extremsten Rechten in der Knesset. Der letzte Minister, Avigdor Ivet Lieberman, hat ein Verfahren wegen Korruption vor sich und sein Amt wird für ihn offengehalten. Netanyahu glaubt offenbar, dass kein Richter wagen würde, "Ivet den Schrecklichen" zu verurteilen, nachdem der Generalstaatsanwalt schon davor zurückgeschreckt ist, ihn für die schwersten Anklagepunkte anzuklagen.

Da es keinen Außenminister gibt (offiziell füllt der Ministerpräsident das Vakuum) und der Auslandsdienst zersetzt ist, konnte es keine Vorwarnung geben.

Einige behaupten, die Entscheidung Europas sei in Wirklichkeit eine pro-israelische Geste, da sie einem generellen Boykott Israels vorbeugt, den eine immer größere Anzahl Persönlichkeiten und NGOs in aller Welt befürworten. Ein Boykott der Siedlungen sei das Minimum.

Auch in dieser Hinsicht nehmen die Europäer einen Standpunkt ein, den meine Freunde und ich seit Jahren befürworten.

Anders als einige israelische Linke glaube ich, dass ein allgemeiner Boykott Israels kontraproduktiv wäre. Während unsere Art von Boykott dazu gedacht ist, die Siedler zu isolieren und einen Keil zwischen sie und den Großteil der israelischen Bevölkerung zu treiben, würde ein allgemeiner Boykott (BDS genannt) fast alle Israelis den Siedlern in die Arme treiben, und zwar unter dem altehrwürdigen jüdischen Spruch: "Die ganze Welt ist gegen uns!" Er würde das Argument stärken, dass das wahre Ziel nicht die Veränderung der Politik Israels, sondern die völlige Vernichtung Israels sei.

Stimmt schon, es gibt einige gute Gründe für einen allgemeinen Boykott, darunter das historische Beispiel des Boykotts gegen das Südafrika der Apartheid. Die Situation in Israel ist jedoch eine ganz andere.

DER BEGRIFF "Boykott" wurde 1888 in einer Situation geprägt, die unserer jetzigen Situation nicht ganz unähnlich ist. Es ging auch damals um Fremdherrschaft, Land und "Siedler".

Im damals von den Briten besetzten Irland herrschte eine Hungersnot. Charles Boycott, der Beauftragte eines abwesenden britischen Grundherren, vertrieb irische Pächter, die die Pacht nicht zahlen konnten, mit Gewalt. Ein irischer nationalistischer Führer rief seine Landsleute dazu auf, Boycott nicht körperlich anzugreifen, sondern ihm aus dem Weg zu gehen. Keiner seiner Nachbarn verkehrte mehr mit ihm, keiner arbeitete mehr für ihn und niemand sprach mehr mit ihm. Der Name Boycott bekam die Bedeutung Verfemung.

Der EU-Boykott der Siedlungen und ihrer Unterstützer wird starken Einfluss auf die Wirtschaft haben. Bisher weiß noch niemand, wie stark der sein wird. Aber noch wichtiger ist die moralische Wirkung.

Selbst wenn der massive israelisch-amerikanische Druck die europäische Aktion verhindert oder wenigstens verzögert, ist der moralische Schlag bereits verheerend.

Das sagt uns Folgendes: Die Siedungen sind illegal. Sie sind unmoralisch. Sie erlegen dem palästinensischen Volk eine riesengroße Ungerechtigkeit auf. Sie verhindern den Frieden. Sie gefährden die bloße Zukunft Israels.

Danke, Europa!

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

Weblinks:

Veröffentlicht am

21. Juli 2013

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