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1943: Gefrorene Blitze

Die britische Luftwaffe versucht, das Testgelände für Hitlers "Wunderwaffen" zu zerstören, nachdem jahrelang Warnungen vor der "V 2" in den Wind geschlagen wurden

Von Lutz Herden

Im Juli 1939 erreicht ein "Oslo-Report" genanntes Dossier über ein deutsches Rüstungsvorhaben das britische Verteidigungsministerium. Detailliert wird der Bau einer mit Überschallgeschwindigkeit fliegenden Rakete beschrieben. Noch seien die strategischen Dimensionen nicht erkennbar, aber möglicherweise ließen sich damit Kriege entscheiden, vermuten die Verfasser, zu denen unter einem Decknamen der deutsche Chemiker Hansheinrich Kummerow gehört.

Und in Europa steht ein Krieg bevor. Über die Herkunft des Materials - es ist den Briten durch eine anonyme Quelle zugespielt worden - besteht Unklarheit. Oppositionelle deutsche Militärs oder Hitler-Gegner mit Zugang zu Rüstungsbetrieben? Der Geheimdienst MI5 wird hinzugezogen, glaubt aber, soweit könne die Raketenforschung nirgendwo sein, um Geschosse hervorzubringen, die mit einer Tonne Sprengstoff in einigen tausend Metern Höhe derart schnell unterwegs seien und über Funk gesteuert würden. Der Oslo-Report sei offenbar eine Fälschung, eine gezielte Irreführung der deutschen Abwehr unter Admiral Canaris, die von anderen Projekten ablenken wolle. Der Report wandert in einen Panzerschrank des Secret Service und wird dort lange, zu lange liegen bleiben.

Etwa zur gleichen Zeit erzählen Küstenfischer an der Ostsee von einem Sommer der unruhigen Sonne. An manchen Tagen gäbe es am Himmel ein nie erlebtes Schauspiel: breite weiße Kondensstreifen, ineinander verschlungen und plötzlich zu Wolkengebirgen geronnen, als seien die Blitze eines Gewitters gefroren. Was sie nicht wissen können: Wenn im Sommer 1939 über der östlichen Ostsee derart apokalyptische Zeichen auftauchen, hat das einen bestimmten Grund. Dann ist vom Gelände der Heeresversuchsanstalt Peenemünde auf der Insel Usedom wieder eine Rakete gestartet und kurz darauf explodiert. Noch bleibt das als A 4 (Aggregat 4) bezeichnete Geschoss den perfekten Jungfernflug schuldig, so fieberhaft auch die Raketenbauer im Norden Usedoms daran arbeiten. Dort nämlich hat die Wehrmacht auf einem hermetisch abgeriegelten 80 Quadratkilometer großen Terrain gut 5.000 Frauen und Männer dienstverpflichtet, vom Physiker über die technische Zeichnerin bis zum Triebwagenführer der Werkbahn, dazu Wachmannschaften und Bautrupps der Organisation Todt. Ab Ende 1939 wird das Personal durch Zwangsarbeiter ergänzt, zunächst sind es Polen, dann Franzosen, Luxemburger und Belgier, ab Mitte 1941 auch Russen, die im Barackenlager Trassenheide unter SS-Aufsicht interniert sind.

Standort Kummersdorf

Begonnen hat die Geschichte der "deutschen Rakete" allerdings deutlich vor den Nazis. Auf dem Schießplatz Kummersdorf südlich von Berlin erprobt seit Ende der zwanziger Jahre eine Gruppe von Physikern unter Hauptmann Walter Dornberger erste Prototypen. Ab Oktober 1932 wird ein junger Techniker hinzu gezogen. Es handelt sich um den erst 20-jährigen Wernher von Braun, dessen Entwürfe für Raketen mit Flüssigkeitstriebwerken als kühn und visionär gelten. Mitte 1935 steigt von Brauns A 2 (Aggregat 2) als Vorläufer der A 4 mehrere tausend Meter hoch in den Himmel über Kummersdorf, interessiert beobachtet von Gästen in schwarzen, braunen und feldgrauen Uniformen. Damit aus der "fliegenden Bombe" eine "schlagkräftige Waffe" wird, wie es der Heeresführung vorschwebt, verlassen die Konstrukteure ihr Versuchsareal im märkischen Sand und ziehen nach Norden.

Im August 1936 wechselt der Peenemünder Forst für zwei Millionen Reichsmark den Besitzer und das Heereswaffenamt erhält seinen Raketenpark an der Ostsee. Wernher von Braun hat es vom Hospitanten zum Technischen Direktor gebracht, ein SS-Ehrenrang und die Ernennung zum Professor werden folgen. Am 4. September 1939 - die Wehrmacht hat gerade Polen überfallen - verschafft das Oberkommando des Heeres dem Spezialkommando auf Usedom die höchste Dringlichkeitsstufe der Waffenentwicklung, selbst wenn noch keine Rakete ohne Crash starten konnte.

Das ändert sich mit dem 3. Oktober 1942, als gegen 16.00 Uhr Ortszeit eine A 4 kerzengerade abhebt und in den Wolken verschwindet. Kein Detonationsknall, kein Feuerball, keine gefrorenen Blitze. Rüstungsminister Albert Speer unterrichtet sofort SS-Führer Himmler, der Peenemünde Ende 1942 einen ersten Besuch abstattet, im Juni 1943 einen zweiten folgen lässt und Wernher von Braun den fälligen Vortrag im Führerhauptquartier ankündigt.

Bis Nordamerika

Keine zwei Wochen später, am 7. Juli 1943, fliegt der in die Wolfsschanze bei Rastenburg (Ostpreußen) und bringt Hitlers Phantasie zum Rasen. Schon ohne Sprengkopf - trägt von Braun vor - habe der Aufschlagtrichter einer A 4 einen Durchmesser von 40 und eine Tiefe von 15 Metern. Wenn man die Rakete im französischen Calais abschieße, fliege sie mühelos die 750 Kilometer bis ins schottische Glasgow, zweistufig sogar bis Nordamerika. Hitler ist begeistert. Diese "Wunderwaffe" dürfe ab sofort nicht mehr A 4 heißen, sondern V 2, denn Vergeltung aus Dynamit und Stahl solle es regnen auf Briten und Amerikaner. Sie werde den Gegner "wie ein zorniger Blitz des Allmächtigen treffen" und so den Krieg entscheiden. Wernher von Braun ist auf dem Zenit seines Erfolges im III. Reich angelangt.

Seit Juli 1939 haben das britische Verteidigungsministerium gelegentlich Anfragen erreicht, was mit dem Oslo-Report geschehen sei. Die Résistance-Gruppe Marco Polo in Paris liefert neues Material. Es gibt Nachrichten aus dem deutschen Widerstand: Hitler will die Rakete spätestens Anfang 1944 einsetzen! Doch erst, als im Mai 1943 ein Spitfire-Aufklärer rein zufällig entstandene Aufnahmen einer Peenemünder Abschussrampe und eines Waggons mit einer startklaren Rakete mitbringt, wird das britische Oberkommando unruhig und der Oslo-Report wieder hervor geholt. Weitere Maschinen der Royal Air Force starten zu Aufklärungsmissionen.

Nach ihrer Rückkehr sind letzte Zweifel ausgeräumt. Jetzt soll, jetzt muss gehandelt werden. So starten in der Nacht vom 17. zum 18. August 1943 von mehreren britischen Fliegerhorsten aus fast 600 Maschinen zur "Operation Hydra - Target Peenemünde", die Stunde Null des Angriffs ist auf 01.15 Uhr festgelegt. Eine erste Welle gilt dem Wohnsektor der Techniker, mit der zweiten und dritten sollen die Fabrikationshallen und das Entwicklungswerk getroffen werden, doch kommt es beim Anflug zu einem verheerenden Fehler. Einige Ziele werden zu weit südlich markiert, so dass Spreng- und Brandbomben auch auf das Lager Trassenheide fallen und 213 Zwangsarbeiter töten.

Zwar ist durch das Unternehmen Hydra das Gelände Peenemünde schwer getroffen, doch ausgelöscht sind die gefrorenen Blitze keineswegs, zumal eine Fertigungshalle und die Sauerstofffabrik, die den Raketentreibstoff produziert, nahezu unversehrt geblieben sind. Himmler überzeugt Hitler, künftig keinesfalls der Wehrmacht, sondern der SS die Verantwortung für eine Serienfertigung der V 2 zu übertragen.

KZ Mittelbau-Dora

Um vor erneuten Luftschlägen sicher zu sein, soll die in eine unterirdische Fabrik im Harz verlegt und von 16.000 KZ-Häftlingen, größtenteils aus dem Konzentrationslager Buchenwald, betrieben werden. Das Kommando über die Stollen des neuen Lagers Mittelbau-Dora bei Nordhausen hat der Himmler-Vertraute Hans Kammler, der dem Stab um Wernher von Braun bedeutet, es werde keine Spionage geben. Wer in diesem Lager die V 2 zusammenbaue, sei dazu bestimmt, "früher oder später durch den Kamin" zu gehen. Bestellt werden 12.000 Raketen, um die Alliierten vernichtend zu schlagen, nur die Hälfte davon verlässt die Katakomben im Berg Kohnstein.

Dieses Arsenal aber reicht, um die V 2 ab September 1944 zunächst auf London und - da die Abschussrampen an der französischen Atlantikküste verloren gehen - auf Städte in Belgien sowie Frankreich abzufeuern und mehr als 23.000 Menschen zu töten. Auch wenn der Zweite Weltkrieg längst entschieden ist, hinterlässt dieser Luftterror eine Ahnung davon, wie fatal es war, den Oslo-Report zu ignorieren.

Hansheinrich Kummerow starb am 4. Februar 1944 unter dem Fallbeil, ohne preisgegeben zu haben, wem er seine Informationen zur V 2 zugespielt hatte.

Quelle: der FREITAG vom 24.07.2013. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

24. Juli 2013

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