Uri Avnery: Ein neuer Guinness-RekordVon Uri Avnery, 17. August 2013 ICH WEISS NICHT, ob das Guinness-Buch der Weltrekorde eine besondere Sparte für Chuzpe hat. Wenn es die noch nicht hat, wird es höchste Zeit dafür. Das wäre eine Disziplin, in der wir einige Goldmedaillen mit nach Hause nehmen könnten. Die erste ginge ganz gewiss an Benjamin Netanyahu. IN DIESER WOCHE, am Vorabend der ersten Runde ernsthafter Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der Palästinensischen Behörde, hat Netanyahu zwei interessante Dinge getan: Er hat Pläne für einige große neue Siedlungsprojekte angekündigt und er beschuldigte die Palästinenser einer bösen Hetze gegen Israel. Wir wollen mit den Siedlungen beginnen. Wie israelische Diplomaten ihren amerikanischen Kollegen erklärten und was alle israelischen Medien dann wiederholt haben: Der arme Netanyahu hatte keine Wahl. John Kerry zwang ihn, 104 palästinensische Gefangene als "vertrauensbildende Maßnahme" freizulassen. Nach derartig folgenschweren Zugeständnissen musste er seine extremistischen Kollegen im Likud und im Kabinett unbedingt besänftigen. Da waren schon tausend neue Wohneinheiten in den besetzten Gebieten (darunter Ostjerusalem) das absolute Minimum. Die Vereinbarung über die Entlassung der Gefangenen setzte einen regelrechten Hexensabbat in Gang. Alle Zeitungen und Nachrichtenprogramme im Fernsehen waren blutgetränkt - dem Blut an den Händen der palästinensischen Mörder. "Mörder" war die schlichte Bezeichnung, weder "Kämpfer" noch "Militante" und noch nicht einmal "Terroristen", sondern ganz einfach: "Mörder". Alle Gefangenen, die entlassen werden sollten, waren vor der Unterzeichnung der Oslo-Vereinbarung verurteilt worden, das bedeutet, dass sie seit wenigstens 20 Jahren im Gefängnis gewesen sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie an künftigen Bluthandlungen teilnehmen würden, muss äußerst gering sein. Einige der Familien der Opfer führten inszenierte stürmische Proteste auf mit blutigen Händen und blutbeschmierten Fahnen. Die Medien wetteiferten miteinander in der Veröffentlichung weinender Mütter (das Fernsehen liebt weinende Frauen), die mit den Fotos ihrer getöteten Söhne und Grauen erregenden Beschreibungen der Angriffe, bei denen sie gestorben waren, winkten. (Einige davon waren tatsächlich schrecklich.) Vor nicht allzu langer Zeit hatte Netanyahu jedoch zugestimmt, mehr als tausend Gefangene im Austausch gegen einen einzigen israelischen Soldaten freizulassen. Das bedeutet, dass ein einziger Soldat zehnmal so viel wert ist wie Friedenschancen. Die tatsächliche Freilassung grenzte ans Groteske. Um die Fotos vom begeisterten Empfang der Gefangenen durch ihre Familien in den Morgenzeitungen zu vermeiden, wurden die ersten 26 Gefangenen tatsächlich unter dem geheimnisvollen Schleier der Dunkelheit nach Mitternacht freigelassen. Das erinnert einen an die Bibelstelle, in der David um Saul trauert, der in der Schlacht gegen die Philister erschlagen wurde: "Sagt’s nicht an in Gat, verkündet’s nicht auf den Gassen in Aschkelon, dass sich nicht freuen die Töchter der Philister, dass nicht frohlocken die Töchter der Unbeschnittenen."(2. Samuel 1,20) Zeugt das alles für eine Atmosphäre des Friedens am Vorabend eines Friedensschlusses? Augenblick mal, es kommt noch mehr. AM TAG, als die neuen Siedlungsprojekte angekündigt wurden, feuerte Netanyahu einen wütenden Protest an John Kerry gegen die andauernde palästinensische "Hetze" gegen Israel ab. Dieser Schrieb könnte die Preisrichter der Guinness-Rekorde für Chuzpe interessieren. Der Hauptbeweis für Mahmoud Abbas’ Niedertracht ist nach Netanyahus Brief ein Text, in dem ein niedriger palästinensischer Beamter einen palästinensischen Staat "von Rosh Hanikra bis Eilat" fordert. Rosh Hanikra (arabisch: Ras Naqura) liegt an der libanesischen Grenze, dieser Staat würde also ganz Israel umfassen. Außerdem seien bei einem Fußballspiel in Ramallah antiisraelische Rufe zu hören gewesen. Schrecklich, einfach schrecklich. Kerry sollte vor Wut aus seinem Sessel springen. Wäre da nicht die Tatsache, dass fast alle führenden Likud-Mitglieder verkünden, dass das ganze historische Palästina Israel gehöre und Naftali Bennett, eine Säule von Netanyahus Regierungskoalition, gerade angekündigt hat, die Palästinenser könnten einen palästinensischen Staat "vergessen". Ganz zu schweigen von einem gewissen Daniel Seaman, dem ehemaligen Direktor des Erklärungs-Ministeriums (das ist der wirkliche Name, ich habe ihn mir nicht ausgedacht. Schließlich machen Israelis keine Propaganda, Gott behüte). Seaman wurde gerade in Netanyahus Privatbüro berufen, um im Internet zu "erklären". In dieser Woche schickte er auf Facebook die Nachricht an Saeb Erekat, den Chef der palästinensischen Delegation in den Friedensgesprächen: "go and f**k yourself". Auf die theologische Erklärung der Kirche von Schottland, die Juden hätten keinen besonderen Anspruch auf Palästina, schickte er die Antwort: "Es kümmert uns einen Scheiß, was ihr sagt." Dieses Genie in Public Relations baut jetzt eine heimliche Gruppe von israelischen Universitätsstudenten auf, die dafür bezahlt werden, dass sie die internationalen sozialen Medien mit "Erklärungs-"Material der Regierung überschwemmen.Anmerkung der Übersetzerin: Hinweis auf https://netzpolitik.org/2013/propaganda-2-0-tweeten-fuers-stipendium-in-israel . Und was die Fußballfans angeht: Das Betar-Stadion, das mit dem Likud in Verbindung steht, erschallt bei jedem Spiel vom Ruf: "Tod den Arabern!" Wem oder was schlägt da die Stunde? Jedenfalls wohl nicht dem Frieden. EINES DER Probleme ist, dass überhaupt niemand weiß, was Netanyahu wirklich will. Vielleicht nicht einmal er selbst. Der Ministerpräsident ist jetzt der einsamste Mensch in Israel. Er hat keine Freunde. Er traut niemandem und niemand in seiner Umgebung traut ihm. Seine Kollegen in der Likud-Führung verachten ihn ganz offen und betrachten ihn als Mann ohne Prinzipien, ohne Rückgrat, einen, der jedem Druck nachgibt. Das war wohl auch die Meinung seines verstorbenen Vaters, der einmal erklärt hat, dass Benjamin ein guter Außenminister, aber sicherlich kein guter Ministerpräsident sein könne. In der Regierung steht er ziemlich allein. Frühere Ministerpräsidenten hatten eine feste Gruppe von Ministern, mit denen sie sich berieten. Golda Meir hatte ein "Küchen-Kabinett". Netanyahu hat niemanden. Er fragt niemanden um Rat. Er verkündet seine Entscheidungen und damit basta. In seiner vorigen Amtszeit hatte er wenigstens in seinem Büro eine Gruppe von Vertrauenspersonen. Diese Beamten wurden einer nach dem anderen von Sarah, seiner Frau, vertrieben. In der letzten Woche erinnerte uns ein Kommentator daran, dass also dieser einsame Mann, dem keine Gruppe zuverlässiger Ratgeber, Experten oder Vertrauenspersonen beisteht, aufgerufen ist, ganz alleine über das Schicksal künftiger Generationen Israels zu entscheiden. DAS WÄRE UNGEFÄHRLICH, wenn Netanyahu ein Charles de Gaulle wäre. Leider ist er das nicht. De Gaulle war eine der überragenden Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Er war kalt, unnahbar, anmaßend, wurde von den übrigen Führern in der Welt verabscheut und doch traf eben dieser extrem rechtsgerichtete General die historische Entscheidung, das riesige Land Algerien, das viermal so groß wie das weltstädtische Frankreich war, aufzugeben. Algerien war, daran müssen wir uns erinnern, offiziell keine Kolonie und kein besetztes Gebiet, sondern es gehörte zum eigentlichen Frankreich. Es war seit länger als einem Jahrhundert unter französischer Herrschaft. Mehr als eine Million Siedler betrachteten es als ihr Heimatland. Und doch traf de Gaulle die einsame Entscheidung, es aufzugeben, womit er sein Leben ernstlich in Gefahr brachte. Seitdem sehnen sich die israelischen Linken nach einem "israelischen de Gaulle", der ihre Aufgabe erledigen würde gemäß dem alt-hebräischen Spruch: "Die Arbeit des Rechtschaffenen wird von anderen getan" - mit "andere" sind hier vermutlich Menschen gemeint, die nicht ganz so rechtschaffen sind. Natürlich gibt es da einen wichtigen Unterschied. De Gaulle wurde von seinen konservativen Verbündeten, den Magnaten der französischen Wirtschaft, unterstützt. Diese nüchtern denkenden Kapitalisten sahen, wie Deutschland die Wirtschaft Europas übernahm, das sich gerade im Prozess der Einigung befand, während Frankreich seine Ressourcen für einen teuren und völlig sinnlosen Kolonialkrieg in Nordafrika verschwendete. Sie wollten diesen Krieg so schnell wie möglich loswerden und deshalb war de Gaulle ihr Mann. Netanyahu steht zwar den israelischen Magnaten ebenso nahe wie de Gaulle den seinen, aber unsere Magnaten scheren sich einen Dreck um Frieden. Diese Haltung kann sich ändern, wenn die Entlegitimierung Israels jemals zu einer ernst zu nehmenden wirtschaftlichen Belastung wird. In diesem Zusammenhang kann der Boykott, den die Europäische Union über die Produkte aus den Siedlungen verhängt, ein Vorbote der Zukunft sein. Übrigens wird die Petition gegen das neue Gesetz, nach dem Befürworter des Boykotts gegen die Siedlungen bestraft werden sollen, die ich und Gush Shalom beim Obersten Gerichtshof eingereicht haben, erst im nächsten Februar angehört werden. Das Gericht schreckt offenbar davor zurück, diese heiße Kartoffel anzurühren. Aber es machte uns doch ein einzigartiges Kompliment: "Avnery versus die Knesset" wird von neun obersten Richtern angehört, fast allen, die zum Gericht gehören. IST ALSO dieser "Friedensprozess" ernst gemeint? Was will Netanyahu? Möchte er als "israelischer de Gaulle", als weiser zionistischer Führer, der dem 120-jährigen Konflikt ein Ende macht, in die Geschichte eingehen? Oder ist er nur ein weiterer cleverer Kerl, der eine taktische Wendung vollzieht, um ein Gerangel mit den USA zu vermeiden und den Entlegitimierungs-Prozess wenigstens eine Zeit lang aufzuhalten? Es sieht so aus, als könnte de Gaulle in seinem Himmel ganz ruhig sein: Kein Konkurrent in Sicht. Es gibt nicht den kleinsten Hinweis auf irgendeine Hinwendung zum Frieden. Ganz im Gegenteil. Unsere Regierung benutzt den neuen "Friedensprozess" als künstliche Nebelwand, hinter der die Siedlungs-Planierraupen rund um die Uhr arbeiten. Die Regierung verurteilt den Boykott-Beschluss der EU, weil er "den Friedensprozess schädigt". Sie weist die Forderungen, den Siedlungsbau einzufrieren, zurück, weil das "den Friedensprozess behindern" würde. Es sieht so aus, als wäre es günstig für den Frieden, wenn Hunderte von Millionen in die Siedlungen investiert werden, die bei jeder denkbaren Friedensvereinbarung geräumt werden müssen. Gibt es also Hoffnung? Es wird Zeit, wieder einmal den jiddischen Spruch zu zitieren: "Wenn Gott will, kann sogar ein Besenstiel schießen." Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler Weblinks: FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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