Wolfgang Sternstein: Mahatma Gandhi und Jesus von Nazareth - Brüder im Geist?Die indische Regierung hat der Stadt Stuttgart eine Gandhi-Büste geschenkt. Die Stadtverwaltung hat sich den Kopf zerbrochen, wo sie das Teil hinstellen soll. Zum Glück gibt es im Stadtteil Burgholzhof eine Mahatma-Gandhi-Straße. Also wurde die Büste dort hingestellt und in Anwesenheit von einem dutzend Bürgern und Bürgerinnen feierlich eingeweiht. Im Zusammenhang damit entstand eine Bürgerinitiative, die eine Vortragsreihe zu Albert Luthuli, Itzchak Rabin und Dietrich Bonhoeffer organisierte, die alle dort mit einem Straßennamen vertreten sind. Wolfgang Sternstein hielt den Eröffnungsvortrag der Reihe, den wir im Folgenden dokumentieren.
Von Wolfgang Sternstein Ich kann Sie zu dem Gandhi-Denkmal, das hier in ihrer Nachbarschaft steht, nur beglückwünschen. Es ist sehr schön. Meines Erachtens wäre es wert gewesen, im Zentrum der Stadt, etwa im Oberen Schlossgarten aufgestellt und von Oberbürgermeister Kuhn eingeweiht zu werden. Das wäre der Bedeutung dieses Mannes angemessen gewesen. Was nun Gandhi selbst anbelangt, so hätte er es nachdrücklich abgelehnt, in Stuttgart oder sonstwo auf der Welt mit einem Denkmal geehrt zu werden. Gandhi wollte nicht geehrt, er wollte gelesen und verstanden werden. Er wollte auch kein Führer sein, dem andere Menschen blind gehorchen und nachfolgen. Er wollte vielmehr, dass jeder Mensch das, was er selbst als wahr erkannt hat, in seinem Leben verwirklicht und auf diese Weise sich und die Welt zum Guten verändert. Ganz Indien ist voll von Gandhi-Denkmälern. Doch von dem, was er gewollt hat, wofür er mit seinen Leben und seinem Tod von der Hand eines Hindu-Fanatikers einstand, ist kaum eine Spur geblieben. Er gilt zwar als "Vater der Nation", weil Indien sich unter seiner Führung vom Joch der britischen Kolonialherrschaft befreite, doch würde er - käme er heute nach Indien zurück - alle seine Denkmäler von den Sockeln stoßen und erklären: Mit dem Indien von heute mit seinen Atombomben, seinen korrupten Eliten und seinem schreienden Gegensatz von Steinreich und Bitterarm, mit seiner Gier nach Wohlstand und Luxus und schließlich seiner Besessenheit vom Fortschrittswahn des Westens habe ich nichts, aber auch gar nichts zu schaffen. Das ist nicht das Indien, das ich geliebt, für das ich gelebt und für dessen Befreiung ich gekämpft habe. Ich schäme mich heute für dieses Land. Der englische Philosoph Bertrand Russell hat es auf den Punkt gebracht als er schrieb: "Das unabhängige Indien hat Gandhi zu einem Heiligen gemacht und all seine Lehren ignoriert." Das erinnert an einen anderen Mann, dem es ähnlich ergangen ist wie Gandhi, der aber knapp zweitausend Jahre früher gelebt hat - Jesus von Nazaret. Von ihm könnte man in Anlehnung an das Wort Bertrand Russells sagen: Die Christen haben Jesus zum Gott gemacht und nahezu all seine Lehren ignoriert. Gestatten Sie mir einen kurzen Ausflug in die Theologiegeschichte. Die Theologie der vergangenen zwei Jahrhunderte ist durch eine heftige Kontroverse zwischen den Verteidigern der christlichen Dogmen und den Vertretern der sogenannten Leben-Jesu-Forschung geprägt. Die Verteidiger der christlichen Dogmen sehen in Jesus von Nazaret den einzigen und eingeborenen Sohn Gottes, d.h. Gott in Menschengestalt, der, wie es im Johannesevangelium heißt, am Anfang bei Gott war und von Gott in die Welt gesandt wurde, um diejenigen zu erlösen, die an ihn glauben. So oder so ähnlich kann man es jeden Sonntag in den katholischen und evangelischen Kirchen von den Kanzeln verkündigt hören. Auf der anderen Seite stehen die Vertreter der Leben-Jesu-Forschung, die sich für den Menschen Jesus von Nazaret interessieren, jenem Mann, der wahrscheinlich zu Beginn unserer Zeitrechnung in dem Flecken Nazaret als armer Leute Kind geboren wurde, der mit zahlreichen Geschwistern auffwuchs und als junger Mann eine kleine Jüngerschar um sich versammelte, als Prediger und Heiler durch Galiläa wanderte und schließlich um das Jahr 30 unserer Zeitrechnung nach Jerusalem hinaufzog, um dort das Evangelium zu predigen. In Jerusalem forderte er die Tempelpriesterschaft durch seine harsche Kritik am religiösen Rummel um den Tempel heraus. Es kam wohl auch zu einem Tumult im Tempel, als er die Tische der Geldwechsler umstieß und sie aus dem Gotteshaus wies. Die Tempelpriester reagierten prompt. Sie denunzierten ihn als Aufrührer beim römischen Prokurator Pontius Pilatus, der ihn in einem kurzen Prozess zum Tode durch Kreuzigung verurteilte und hinrichten ließ. Dieser Jesus von Nazaret, ein Mensch aus Fleisch und Blut wie wir, ist der Gegenstand der Leben-Jesu-Forschung. Sie versucht, sein Leben und seine Lehre aus den überlieferten Texten des Neuen Testaments, namentlich den Evangelien, zu rekonstruieren. Das stößt aufgrund der lückenhaften Überlieferung auf erhebliche Probleme und ist letztlich nur bruchstückhaft möglich. Nun muss man wissen, dass die Worte Jesu und der Bericht über seine Taten in der Jerusalemer Urgemeinde, die sich nach seinem Tod bildete, zunächst mündlich überliefert wurde. Wie bei jeder mündlichen Überlieferung wurden seine Worte zum Teil verändert und entstellt, seine Biographie durch Wundererzählungen und Legenden ergänzt und angereichert. Die schriftlichen Zeugnisse in Gestalt der Evangelien stammen aus den siebziger und achtziger Jahren des ersten Jahrhunderts, sind also erst 40 bis 50 Jahre nach seinem Tod entstanden, das Johannes-Evangelium sogar erst 80 Jahre nach seinem Tod. Es bedurfte der Forschungsarbeit ganzer Theologengenerationen, um sozusagen die Spreu der Mythen und Legenden vom Korn der authentischen Worte und Taten Jesu zu trennen. Selbst heute ist diese Forschung, die vor über 200 Jahren mit dem Werk "Apologie" des Orientalisten Hermann Samuel Reimarus begann, noch nicht abgeschlossen, denn manche ihrer Ergebnisse werden auch heute noch kontrovers diskutiert. Die Schrift des Reimarus wurde in Form von Fragmenten erst zehn Jahre nach seinem Tod von Gotthold Ephraim Lessing veröffentlicht und löste sogleich eine lebhafte Debatte, den sogenannten Fragmentenstreit, aus. Albert Schweitzer hat die Forschung der ersten 100 Jahre in dem monumentalen Werk "Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" zusammengefasst. Die Forschung ist aber seitdem mit immer neuen Entdeckungen und Interpretationen weiter fortgeschritten. Es gibt folglich zwei einander diametral gegenüberstehende Ansichten über die Person Jesu von Nazaret. Die Verfechter des dogmatischen Christentums sehen in Jesus den einzigen und eingeborenen Sohn Gottes, das heißt den Gott in Menschengestalt, wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich, was so viel bedeutet wie ganz Gott und ganz Mensch. Die Vertreter der Leben-Jesu-Forschung sehen dagegen in ihm einen Menschen mit herausragenden Verdiensten als religöser Lehrer und Heiler. Was mich betrifft, so kann ich mir keine dieser beiden Standpunkte zu Eigen machen. Ich nehme vielmehr einen dritten Standpunkt ein. Für mich ist Jesus ein Mensch wie wir, der jedoch in dem Maße, wie er den Willen Gottes zu seinem eigenen machte, Gott ähnlich wurde, nicht aber Gott gleich, wie es das Dogma behauptet. Dasselbe ließe sich von anderen bedeutenden religiösen Lehrern wie Gotama Buddha, Lao Tse, Sokrates, Franz von Assisi und nicht zuletzt Gandhi sagen. Ja, mehr noch, es lässt sich von jedem Menschen sagen, der sich darum bemüht, Wahrheit und Liebe, Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Schöpfungserhalt in seinem Leben und durch sein Leben zu verwirklichen. Sie oder er wird in dem Maße Gott ähnlich, wie das ihr oder ihm gelingt, doch niemand wird jemals Gott gleich, solange er lebt. So furchtbar neu ist das freilich nicht, denn vor siebzehnhundert Jahren gab es in der Christenheit bereits einen heftigen Streit zwischen dem Presbyter (Gemeindeältesten, Kirchengemeinderat) Arius und dem Presbyter Athanasius, dem nachmaligen Bischof von Alexandria. In diesem Streit vertrat Arius die von mir eingenommene Position, Athanasius aber die Position des dogmatischen Christentums. Der Streit zog sich über mehrere Jahrzehnte hin und führte die Kirche bis hart an den Rand einer Spaltung. Er endete schließlich mit dem Sieg der Partei des Athanasius. Die christlichen Kirchen halten bis zum heutigen Tag an der Lehre des Athansius fest, ich aber glaube, dass Arius Recht hatte. Folglich sehe ich im Sieg der Dogmatiker um Athanasius eine falsche Weichenstellung, die die Kirche auf einen verhängnisvollen Irrweg führte. Der jüdische Gelehrte Martin Buber hat den sogenannten arianischen Streit einmal auf den Punkt gebracht mit den Worten: Ich glaube mit Jesus, aber nicht an Jesus. Damit ist gemeint: Ich glaube mit Jesus an Gott, nicht aber an den inkarnierten Gott mit Namen Jesus Christus. Den historischen Jesus, den Menschen aus Fleisch und Blut, dessen Leben und Lehre die Leben-Jesu-Forschung zu rekonstruieren sucht, habe ich im Sinn, wenn ich von Gandhi und Jesus als "Brüdern im Geist" spreche. Sie haben in der Tat vieles gemeinsam, ungeachtet der großen Entfernung in Raum, Zeit und Kulturkreis, die sie trennt. Im Folgenden werde ich versuchen, diese Gemeinsamkeiten anhand einiger ausgewählter Texte zu belegen. Zunächst einige Texte, die Ihnen sicherlich bekannt sind. Die Leben-Jesu-Forschung ist nämlich zu dem Ergebnis gelangt, dass wir in der Bergpredigt, den Gleichnissen und einigen markanten Jesusworten die Texte vor uns haben, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf den historischen Jesus zurückgehen. Hören Sie zunächst die Seligpreisungen aus der Bergpredigt: "Selig sind die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich. Mir leuchtet diese Interpretation ein. Sie lässt sich mit vielen Bibelstellen belegen. Es gibt nur eine Bibelstelle, die ihr zu widersprechen scheint. Es ist Joh 18, 36 "Mein Reich ist nicht von dieser Welt". Es ist fraglich, ob der historische Jesus diese Worte überhaupt gesprochen hat. Das Johannesevangelium entstand erst 80 Jahre nach Jesu Tod, ist als historische Quelle folglich höchst problematisch. Das Wort kann aber auch so verstanden werden: Mein Reich bzw. das Gottesreich ist nicht von dieser Welt, d.h. es unterscheidet sich fundamental von den Reichen dieser Welt, dem römischen Reich, dem alexandrinischen, babylonischen, assyrischen, ägyptischen und persischen Reich. Es ist das Reich, in dem Gott "herrscht". Mit anderen Worten, in dem die Menschen sich bemühen, Wahrheit und Liebe (truth und ahimsa), Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung soweit als irgend möglich zu verwirklichen. Unter diesem Aspekt betrachtet, erscheint die ganze christliche Jenseitsideologie als ein folgenschweres, ja verhängnisvolles Missverständnis, das mit Recht von der marxistischen Kritik als Herrschaftsideologie entlarvt wurde. Mit der Uminterpretation des im Hier und Jetzt angesiedelten Gottesreiches in ein im Jenseits angesiedeltes Himmelreich wurde der jesuanischen Botschaft gleichsam der sozialrevolutionäre Zahn gezogen. Wer mehr darüber erfahren will, sei auf mein Buch "Gandhi und Jesus. Das Ende des Fundamentalismus" verwiesen. Eine Bemerkung noch: Während für die Juden das Gottesreich als Messiasreich in der Zukunft liegt, als die von Gott neu erschaffene Welt nach der Vernichtung der Alten Welt in der Endzeitkatastrophe der Apokalypse, liegt es für die Christen im Jenseits, im "Himmel". Für Jesus von Nazaret aber lag es in dieser Welt. Es war keimhaft gegenwärtig in seiner Person und der kleinen Gemeinde, mit der er durch Galiläa wanderte. Er sagte ihr eine großen Zukunft voraus als dem "Senfkorn", das zu einem mächtigen Baum heranwachsen werde, in dessen Zweigen die Vögel nisten, oder der kleinen Portion Sauerteig, die, dem Teig beigemischt, den ganzen Teig (d.h. die ganze Gesellschaft) durchsäuert. So ist ja am Ende auch gekommen, doch leider ganz anders, als Jesus es sich vorgestellt hatte, nämlich in der fast völlig pervertierten Form der christlichen Kirchen. Doch nun zurück zu den Seligpreisungen: "Selig sind die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich. Ich schließe daran die beiden Abschnitte an Von der Vergeltung und Von der Liebe zu den Feinden, die meines Erachtens zum Kern der Botschaft Jesu gehören. "Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge, Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn euch einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm. Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab." "Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Nun ein Text von Gandhi, aus dem m.E. derselbe Geist spricht: "Immer und immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Gute Gutes hervorruft, das Böse aber Böses erzeugt. Wenn daher dem Ruf des Bösen kein Echo wird, so büßt es aus Mangel an Nahrung seine Kraft ein und geht zugrunde. Das Übel nährt sich nur von seinesgleichen. Weise Menschen, denen diese Tatsache klar geworden ist, vergalten daher nicht Böses mit Bösem, sondern immer nur mit Gutem und brachten dadurch das Böse zu Fall. Gleichwohl lebt das Böse weiter. Denn nicht viele befolgen diese Lehre, obwohl das Gesetz, das ihr zugrunde liegt, mit wissenschaftlicher Genauigkeit arbeitet." (Ausgewählte Werke, Band 4, 115) Die meisten Christen haben Jesu Lehre so verstanden, dass wir wählen müssen zwischen einem aktiven gewaltsamen Widerstand gegen das Böse oder dem passiven Erleiden der Gewalt bzw. des Bösen, das heißt in letzter Konsequenz Sich-widerstandslos-abschlachten-Lassen, um seine Seele zu retten. Davon kann selbstverständlich keine Rede sein. Es geht Jesus und Gandhi um einen höchst aktiven Widerstand, aber um einen Widerstand ohne Gewalt, mit anderen Worten um einen gewaltfreien Widerstand, der die Gewalt und das Böse in der Welt überwindet, es gleichsam neutralisiert und wieder aus der Welt schafft, indem Menschen sich bereit finden, die Gewalt hinzunehmen, ohne zurückzuschlagen, aber auch ohne zurückzuweichen. Die frühen Christen wussten das noch. Sie unterwarfen sich gerade nicht widerstandslos dem Gebot des Kaisers, ihn als Gott zu verehren, sondern leisteten gewaltfreien Widerstand. Sie waren bereit, dafür den Märtyrertod zu sterben, um auf diese Weise die Gewalt des Römischen Reiches zu überwinden. Heißt das: Also doch sterben um des Glaubens willen. Ja, gewiss! Doch im Unterschied zum Soldaten, der bereit ist zu töten und zu sterben, waren viele Christen der Frühzeit bereit zu sterben, nicht aber zu töten. Während der Soldat durch seine Bereitschaft zu töten und zu sterben die Gewalt in der Welt nur vermehrt, vermindert sie der christliche Märtyrer oder der gewaltfreie Aktivist. Er überwindet die Gewalt, indem er sie erleidet, er schafft sie auf diese Weise gewissermaßen wieder aus der Welt. Doch ist der Märtyrertod nur die letzte und äußerste Konsequenz aus dieser Haltung, eine Konsequenz, die hinzunehmen nur selten von uns gefordert wird. Weit wichtiger und häufiger geht es darum, Menschen, die uns, ohne dass wir ihnen Anlass dazu gegeben haben, feindselig und hasserfüllt begegnen, durch gewaltfreies Verhalten zu überwinden und von ihren bösen Gefühlen zu befreien. Vielleicht fragen Sie nun: Und was wird aus den Schutzbefohlenen und Schutzbedürftigen, den Frauen, Kindern, Alten, Schwachen und Kranken? Liefern die Gewaltfreien sie nicht der Gewalt der Verbrecher und Übeltäter aus? Davon kann selbstverständlich keine Rede sein. Wer sich bemüht, gewaltfrei zu leben und zu handeln, mit anderen Worten, wem die Gewaltfreiheit zur zweiten Natur geworden ist, der wird selbst bewaffneten Tätern waffenlos entgegentreten, um die Schwachen zu schützen. - Vielleicht sagen Sie: Das wird wenig nützen. Dann bringt der Täter eben beide um. - Das ist möglich, aber keineswegs gewiss. Es kann sogar sein, dass der Täter von seinem bösen Tun Abstand nimmt. Doch das Risiko, bei diesem Verhalten verletzt oder gar getötet zu werden, bleibt selbstverständlich bestehen. Gewaltfreie brauchen also mindestens so viel Mut wie Soldaten. Wie aber sieht die Alternative aus? Schützen Soldaten die Schutzbedürftigen wirklich? In den modernen Kriegen werden vor allem Zivilisten getötet. Wenn wir nach Syrien schauen, so erfahren wir, dass in diesem Bürgerkrieg bereits 100.000 Zivilisten - Männer, Frauen, Kinder, Alte und Kranke - getötet wurden. Das Militär schützt die Schwachen folglich nicht, es bedroht sie vielmehr mit Verletzung und Tod! Seit Beginn der Geschichte haben die Menschen versucht, Gewalt durch größere Gewalt zu überwinden oder durch die Androhung von Gewalt in Schranken zu halten. Und was ist dabei herausgekommen? Eine schrankenlose Vermehrung von Krieg und Gewalt! Dieser Weg ist total gescheitert. Er hat die Menschheit an den Abgrund der Selbstvernichtung durch einen atomaren Weltkrieg geführt, einen Krieg, der nicht nur die Menschheit vernichten wird, sondern alles höhere Leben auf diesem Planeten auszulöschen droht. Hören Sie noch einen Text, der eine Art Glaubensbekenntnis Gandhis darstellt: "Gewaltfreiheit ist die größte Macht, die der Menschheit zur Verfügung steht. Sie ist machtvoller als die schlimmste Zerstörungswaffe, die der menschliche Erfindergeist je hervorbringen wird. Denn Zerstörung ist nicht das Gesetz der Menschen. Der Mensch lebt nur dann in Freiheit, wenn er notfalls bereit ist, von der Hand seines Bruders zu sterben, niemals aber dann, wenn er seinen Bruder tötet. Jeder Mord und jede andere Gewalttätigkeit, egal aus welcher Ursache man sie begeht, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit." (Die Religion der Wahrheit 128) Ich könnte die Reihe der Gemeinsamkeiten Gandhis und Jesu nahezu endlos fortsetzen. Ich lasse es jedoch dabei bewenden und verweise auf mein Buch "Gandhi und Jesus. Das Ende des Fundamentalismus". Zum Schluss möchte ich noch einen längeren Text zitieren, in dem Gandhi seine Einstellung zum Leben und Wirken Jesu sowie zum Christentum darlegt: "Die Botschaft Jesu ist in der Bergpredigt enthalten, ganz und unverfälscht, und selbst was die Bergpredigt anbelangt, weicht meine bescheidene Interpretation dieser Botschaft in vieler Hinsicht von der orthodoxen ab. Die Botschaft ist im Westen verzerrt worden. Aus meinem Munde mag das anmaßend klingen, doch als ein Anhänger der Wahrheit darf ich nicht zögern auszusprechen, was ich empfinde. Ich weiß, die Welt wartet nicht darauf, meine Meinung über das Christentum kennen zu lernen. … Wenn es nur um die Bergpredigt und meine eigene Auslegung davon ginge, würde ich nicht zögern zu sagen: ‚Ja, ich bin ein Christ.’ Aber ich weiß, dass ich mich in dem Augenblick, in dem ich so etwas sage, den gröbsten Missverständnissen aussetzen würde. Negativ kann ich euch sagen, dass meiner Meinung nach vieles, was als Christentum gilt, eine Verleugnung der Bergpredigt ist. Bitte achtet sorgfältig auf meine Worte. Ich spreche in diesem Augenblick nicht vom christlichen Verhalten; ich spreche vom christlichen Glauben, vom Christentum, wie es im Westen verstanden wird. Ich bin mir schmerzlich der Tatsache bewusst, dass das Verhalten überall weit hinter dem Glauben zurückbleibt. Ich kritisiere darum nicht. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass mein Verhalten weit hinter meinen Prinzipien zurückbleibt, obwohl ich mich jeden Augenblick bemühe, nach meinen Grundsätzen zu leben. Aber ich lege euch meine grundlegenden Probleme vor im Hinblick auf die Erscheinung des Christentums in der Welt und die Formulierung des christlichen Glaubens. … Ich behaupte, ein Mann des Glaubens und des Gebets zu sein, und wenn ich auch in Stücke gehackt würde, würde Gott mir, glaube ich, die Stärke verleihen, Ihn nicht zu verleugnen, sondern zu sagen, dass Er ist. Der Muslim sagt: Er allein ist und es ist niemand außer Ihm. Der Christ sagt dasselbe und ebenso der Hindu, und selbst der Buddhist, wenn ich das sagen darf, sagt dasselbe mit anderen Worten. Es ist wahr, dass jeder von uns seine eigene Interpretation des Wortes "Gott" hat. Das ist notwendig so, da Gott nicht nur diesen unseren winzigen Erdball umfasst, sondern Millionen und Milliarden solcher Erdkugeln und Welten über Welten. Wie können wir kleinen Geschöpfe, die wir in dieser ungeheuren Hilflosigkeit, in der er uns erschaffen hat, auf der Erde herumkriechen, seine Größe ermessen, seine unendliche Liebe und sein unendliches Mitleid? So groß sind seine unendliche Liebe und sein Mitleid, dass er den Menschen erlaubt, ihn unverschämt zu verleugnen, über ihn zu streiten und ihren Mitmenschen die Kehle durchzuschneiden. Wie können wir die Größe eines Gottes ermessen, der so verzeihend und so heilig ist? Obgleich wir also dieselben Worte gebrauchen, haben sie doch nicht dieselbe Bedeutung für uns. Und daher sage ich, wir brauchen niemanden zu bekehren, weder durch unser Reden noch durch unser Schreiben. Wir können es nur durch unser Leben tun. Unser Leben sollte ein offenes Buch sein, für alle zum Lesen aufgeschlagen. Wenn ich nur meine Missionarsfreunde überreden könnte, ihre Mission so anzusehen. Dann gäbe es kein Misstrauen, keinen Verdacht, keine Eifersucht und keine Unstimmigkeit zwischen uns in diesen religiösen Angelegenheiten, sondern nur Harmonie und Frieden. … Trinkt tief von dem Brunnen, der euch in der Bergpredigt gegeben ist - aber dann müsst ihr auch in Sack und Asche Buße tun für euer Versagen bei der Ausführung dessen, was in der Predigt Jesu gelehrt wird. Die Lehre der Bergpredigt ist für uns alle: Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon dienen." (Ausgewählte Werke IV, 155 ff) Dr. Wolfgang Sternstein (Stuttgart), ist Friedens- und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion. Seit 1975 ist er in der Bürgerinitiativen-, Ökologie- und Friedensbewegung aktiv. Er hat an zahlreichen gewaltlosen Aktionen teilgenommen, stand deswegen mehr als ein Dutzend Mal vor Gericht und war neunmal für sein gewaltfreies Engagement im Gefängnis. Er ist Vorsitzender und Mitarbeiter des Instituts für Umweltwissenschaft und Lebensrechte (UWI) und unter anderem Mitglied von Lebenshaus Schwäbische Alb. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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