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Enteignung - Über den Verlust von Öffentlichkeit und Privatsphäre

Von Thomas Gebauer

Die katastrophale Tendenz der Gegenwart hat viele Facetten. Sie zeigt sich vielerorts in Ereignissen, die oftmals nur von lokaler Bedeutung zu sein scheinen. Im Herzen Istanbuls beispielsweise, wo ein traditionsreicher und bei den Menschen beliebter Park einem Einkaufszentrum Platz machen soll; in brasilianischen Fußballstadien, wo die populäre Fan-Kultur nun teuren Business-Seats weichen musste; im deutschen Gesundheitswesen, wo gesetzliche Krankenkassen chronisch Kranke systematisch vergraulen, um "teure Risiken" loszuwerden; in Barcelona, wo im Zuge der Umwandlung des alten Fischereihafens Port Vell in eine abgesicherte Marina für Superreiche nun die Bewohner der angrenzenden Wohnvierteln von Vertreibung bedroht sind; oder in Venedig, wo der von Touristen aus aller Welt geschätzte Markusplatz künftig nur noch einer zahlungskräftigen Klientel vorbehalten sein wird. Acht Euro und mehr kostet ein Espresso in den dortigen Cafés bereits: der Markt gebe es her, so die Kaffeehausbetreiber, man müsse sich nur noch von der irrigen Idee verabschieden, dass solche Plätze allen zugänglich sein müssen.

Mit großem Tempo schreitet die Enteignung der Öffentlichkeit voran und werden heute Orte, Institutionen und Werte, die früher das Gemeinwohl gestanden haben, dem öffentlichen Leben entzogen, privatisiert oder dem Produktionsprozess untergeordnet. Die Enteignung des Öffentlichen ist aber nur die eine Seite der Medaille; die andere ist die Enteignung des Privaten.

Seit den Enthüllungen von Edward Snowden ist für alle zur Gewissheit geworden, was letztlich schon lange bekannt war: dass in der heutigen Zeit von Privatsphäre in einem emphatischen Sinne nicht eigentlich mehr die Rede sein kann. Ohne Frage ist das Ausmaß des Abfischens, der Speicherung und der Auswertung von persönlichen Daten, das nun bekannt geworden ist, ein Skandal. Ausgerechnet die USA, die vielen noch immer als Inbegriff von Liberalität und Privatheit galten, haben sich zu einer endemischem Überwachungsgesellschaft entwickelt. Dabei macht die NSA-Affäre auch deutlich, dass technische Entwicklungen, die zur repressiven Kontrolle von Menschen genutzt werden können, irgendwann auch tatsächlich dazu genutzt werden. Mit den Möglichkeiten, die das World Wide Web inzwischen bietet, ist eine neue höchst prekäre "Öffentlichkeit" entstanden, die prinzipiell alle, die im Netz unterwegs sind, zum Objekt von Ausspähung und Überwachung macht.

"Wir haben nichts zu verbergen", so versuchen sich viele Nutzer zu beruhigen. Sie übersehen dabei, wie viel sie zu geben haben. Denn Kontrolle und Disziplinierung sind nur die eine Seite von Überwachung und Datenerfassung. Die andere ist eine gleichermaßen beängstigende: Die Standardisierung und Lenkung von menschlichem Verhalten, um es dem herrschenden Wirtschaftsgeschehen profitabel verfügbar zu machen. Dabei verwandelt sich die Sphäre des Privaten in eine Sphäre des Konsums, die, so Adorno, als bloßer "Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz, mitgeschleift wird". Weltweit tätige IT-Firmen speichern persönliche Daten, oft in Kooperation mit der NSA: sie spähen private Vorlieben aus, beobachten individuelles Kaufverhalten und erstellen Konsumentenprofile - alles mit dem Ziel, die Effizienz von Produktion und Konsum zu steigern. Auf bemerkenswerte Weise korrespondiert die Begrenzung von Öffentlichkeit mit der Entgrenzung des Privaten. Privates wird "öffentlich", Öffentliches "privat". Es gehört keine sonderliche Phantasie dazu, um sich vorzustellen, wie künftig weniger betuchte Besucher Venedigs per Smartphone zu "Plätzen" gelotst werden, wo es zu erschwinglichen Preisen das gibt, was sie gewöhnlich konsumieren. Und wer einmal eine der großen Malls in den USA besucht hat, weiß, dass es längst die Einkaufszentren sind, wo Familien ihre Freizeit verbringen, Jugendliche sich verabreden, aber kein mobiler Eisverkäufer mehr seinen Stand aufschlagen kann, sondern weltweit operierende Ketten weltweit standardisiertes Fast Food anbieten.

Die Welt der "Bytes and Bites" ermöglicht nicht nur eine effiziente politische Kontrolle des menschlichen Lebens, sondern auch dessen Unterwerfung unter das Diktat von Ökonomie. Mit den neuen Technologien ist der Ökonomisierung des Lebens heute kaum noch Grenzen gesetzt. Längst geht es nicht mehr nur um die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, sondern um die Kapitalisierung aller Bereiche menschlicher Existenz: der Ernährung, der Bildung, der Freizeitgestaltung, des solidarischen Miteinanders. Kostenpflichtige Online-Dating Angebote drängen sich in die Gefühlswelt. Soziale Medien profitieren vom Bedürfnis nach Freundschaft und Anerkennung. Und "shared economy", auf der diesjährigen CeBIT als Geschäftsmodel der Zukunft gepriesen, zielt darauf, selbst noch aus der Bereitschaft zu Nachbarschaftshilfe und zum Teilen Profit zu schlagen. Unerbittlich frisst sich das ökonomische Kalkül durch die Körper, die Affekte, die Institutionen, das Sozialgefüge, die Welt.

Primäres Ziel ist nicht die Gestaltung menschlicher Lebenswelten, sondern deren Kolonisierung zum Zwecke des Profits. Freizeit, Freundschaften, gegenseitige Unterstützung - all das gibt es künftig immer weniger als solches und selbstbestimmt, sondern nur noch vermittelt über den Konsum. Das gilt leider auch für das Helfen. Kürzlich schrieb Peter Buffett, der Sohn der milliardenschweren Finanzspekulanten Warron Buffett in der New York Times, dass all das Bemühen, die Armut über Mikrokredite zu bekämpfen, nur dazu geführt hat, selbst noch diejenigen, die nichts haben, in das herrschende System aus Schulden und Zinszahlungen hineinzuziehen. Einen "Charitable-Industrial Complex" sieht Buffett am Werk, der - angetrieben von einem "philanthropischen Kolonialismus" - darauf zielt, auch die Armen zu miteinander konkurrierenden Geschäftsleuten zu machen. Der Eintritt in die Welt der Waren und Dienstleistungen geht einher mit dem Verlust eines solidarischen Miteinanders. Die Idee der Assoziation freier Individuen löst sich auf in der Gegnerschaft von Schuldsklaven, die untereinander in Konkurrenz treten müssen, um den Zinsforderungen entsprechen zu können.

Die Vorstellung eines allgemeinen Rechts auf Privatsphäre, eines Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit entstand in seiner heutigen Form in den Aufständen gegen den Feudalismus, der zuvor dafür gesorgt hatte, dass sich nur eine kleine Elite dieses Recht sichern konnte. Seitdem ringen Gesellschaften um das richtige Maß zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl, zwischen den Interessen der Einzelnen und denen der Gesellschaft. Es zeichnet demokratisch verfasste Gemeinwesen aus, dass sie darum bemüht sind, das Spannungsverhältnis zwischen Privatem und Öffentlichem offen zu halten. Mit der gegenwärtigen Enteignung von beiden kommt dieser Prozess zu einem Ende; zum Schaden von Demokratie, die in ihren Grundfesten ausgehebelt wird; zum Wohle einer kleinen Elite, die sich auch künftig beides leisten kann, den Luxus öffentlicher Plätze und eines privaten Lebens, in das niemand Einblicke hat.

Es ist gut, dass diese Entwicklung nicht unwidersprochen bleibt. Das Aufbegehren gegen die Zerstörung des Gezi Parks in Istanbul, die sozialen Massenproteste in Brasilien, die Verteidigung des Rechts auf Stadt und Nachbarschaft in Barcelona, der Widerstand gegen die Privatisierung öffentlicher Gesundheitsdienste in aller Welt, die Proteste gegen "Prism", aber natürlich auch und gerade der Widerstand gegen die autoritären Regime in der arabischen Welt, - all das ist Ausdruck eines unstillbaren Drängens auf demokratische Verhältnisse, in denen Freiheit und Gemeinwesen nicht zu euphemistischem Umschreibungen für Rendite und Kontrolle verkommen sind.

Thomas Gebauer ist Geschäftsführer von medico international

Quelle: medico international - medico-rundschreiben 03/2013.

Veröffentlicht am

26. Oktober 2013

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