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Nahost/Nordafrika: Allah macht den Unterschied

Eine ganze Region ist im Umbruch. Der Westen zeigt sich angesichts der Entwicklungen überfordert - und verstrickt sich in Widersprüchen

Von Sabine Kebir

Es war der Autor Peter Scholl-Latour, der während des sowjetischen Afghanistan-Feldzuges (1980-1989) aus seinen Sympathien für Mudschaheddin - für die Kämpfer des Dschihad - kein Hehl machte. Er war mit einer Gruppe Verletzter in einem Hubschrauber geflogen, und es hatte ihn beeindruckt, mit welcher Würde sie Schmerzen ertrugen. Wenn die Mudschaheddin "weit hinter der Türkei" gegen Kommunisten oder - wie heute in Syrien - gegen "Freunde der Russen" kämpfen, erklären wir sie gern zu unseren Helden. Nur bei uns dulden wir sie ungern, weil wir fürchten, dass sie auch bei uns Terrorakte verüben, und wir uns grundsätzlich nicht vorstellen können, dass ihnen die Menschenrechte etwas bedeuten können.

Wir kommen allerdings konservativen Muslimen in Detailfragen durchaus entgegen. Man nehme nur die vielfältigen Kompromisse bezüglich des Kopftuchs bis hin zum Burkini beim Schwimmunterricht. Wir erklären die Rechte der Frau zwar zur elementaren Menschenrechtsfrage - aber letztlich behandeln wir sie als Frage zweiten Ranges. Wie widersprüchlich sich der Westen verhalten kann, zeigt sich auch beim Thema Wahlen - sie spielen für den Westen in Wahrheit keine Rolle. Manchmal rechtfertigen wir unsere Unterstützung für Islamisten, die uns genehm sind, damit, dass sie durch Wahlen an die Macht kamen. Selbst wenn sie nachher die Rechte ihrer Wähler einschränken wollen, wie es die Führer der Islamischen Heilsfront (FIS) in Algerien nach ihrem Wahlsieg 1991 ankündigten. Oder wie es der inzwischen gestürzte Präsident Mohammed Mursi 2012 in Ägypten getan hat.

Nach dem algerischen Militärputsch von 1992 konnten die Fundamentalisten der FIS leichter in Europa Asyl erhalten als die von ihnen tödlich bedrohten säkularen Intellektuellen. Und auch Muslim-Bruder Mohammed Mursi hat sich bei den Legalisten im Westen Sympathien erworben. Sie sagen, dass General Abdel Fattah al-Sisis Staatsstreich nicht richtig sein könne, weil auch der Putsch des algerischen Militärs vor gut 20 Jahren nicht richtig gewesen sei.

Andererseits profitiert die Hamas-Regierung im Gazastreifen nicht davon, dass sie 2006 demokratisch gewählt wurde. Die EU verweigert jede Kooperation, und Israel hat eine Blockade über die palästinensische Enklave verhängt, die kaum wirtschaftlichen Spielraum lässt.

Eine Zukunft ohne westliche Unterstützung

Und wiederum stört es uns kaum, dass bei unserem Hauptverbündeten unter den islamischen Staaten, nämlich Saudi-Arabien, weder Wahlen noch Menschenrechte noch Pressefreiheit auch nur ansatzweise existieren. Wieso sollen dann ausgerechnet die von Riad mit enormen Finanzmitteln unterstützten Dschihadisten in Syrien für Demokratie sorgen? Schließlich wurde der Wille zur Demokratie, wie ihn die schiitische Mehrheit in Bahrain im Sog der Arabellion 2011 artikulierte, von saudischen Panzern niedergewalzt.

Es gibt also gute und schlechte Islamisten. Und ob wir sie als Demokraten sehen oder nicht, hängt von unserer Interessenlage ab, die keine an Menschenrechte oder Demokratie gebundenen Maßstäbe kennt. Dadurch finden in der westlichen Öffentlichkeit die realen Kämpfe um eine Demokratisierung der islamischen Welt - getragen von der in stürmischer Entwicklung begriffenen Mittelklasse - keine objektive Bewertung. Obwohl gerade diese Schichten die zurzeit wohl großartigste Literaturlandschaft der Welt hervorbringen, in der Menschenrechte oder die Emanzipation der Frau keineswegs als "Nebenwidersprüche" behandelt werden. Wir nehmen diese Mittelklasse trotzdem nicht als Wegbereiter eines großen Zivilisationsprozesses zur Kenntnis. Bestenfalls behandeln wir diese laizistischen Gruppen als nicht mehr zum islamischen Kulturkreis gehörig und irgendwie durch den Westen assimiliert. Ein großer Irrtum.

Gerade die gebildeten, unablässig wachsenden Mittelschichten der islamischen Länder in Nordafrika, Arabien und Asien haben das instrumentelle Verhältnis durchschaut, das der Westen ihren Ländern gegenüber eingenommen hat. Hier sind Brücken abgebrochen, die es bis zum "Krieg gegen den Terror" nach 9/11 noch gab. Diese Milieus wissen heute, dass sie kompromissreiche, aber eigene Wege in die Zukunft finden müssen. Besonders deutlich wird das an der häufig geäußerten Auffassung des von den USA einst in Afghanistan eingesetzten Präsidenten Hamid Karzai, der unumwunden erklärt, dass Intervention und Besatzung seinem Land nicht genützt, sondern immens geschadet hätten. Statt seine Militärpräsenz stetig zu erweitern, hätte der Westen mehr zivile Aufbauhilfe leisten sollen. Darauf geantwortet wird Karzai nicht.

Ausweg Drohnenkrieg

Oder nehmen wir den Irak. Dort herrscht praktisch das schiitische Recht der Scharia, das in einem Bürgerkrieg - er steht dem syrischen in nichts nach - von Freischärlern angegriffen wird. Die wollen den schiitischen durch den sunnitischen Kodex ersetzen. Acht Jahre Besatzung haben das Land innerlich zerrissen, weder Demokratie noch Menschenrechte gestärkt, auch ökonomisch nichts gebracht. Sonst wäre etwa die Ölindustrie längst privatisiert.

Präsident Barack Obama scheint ratlos. Er will den arabischen Mittelschichten wohl den Eindruck nehmen, auch künftig mit westlichen Luftschlägen rechnen zu müssen. Deshalb ging er zum Drohnenkrieg über, weil der angeblich nur Terroristenführer allein trifft. Mittlerweile ist erwiesen, dass Drohnen Kollateralschäden verursachen, die unkalkulierbar sind und deshalb international geächtet werden.

Weil der Westen mit seinem Krieg gegen den Terror den Islamismus weltweit nicht schwächte, sondern stärkte, bietet sich als letzter Ausweg derzeit nur noch ein hinter den Kulissen "gelenkter Islamismus" an. Die Steuerungsmöglichkeiten sind aufgrund der geschrumpften Wirtschaftskraft des Westens freilich begrenzt. Einspringen müssten Saudi Arabien oder sein Konkurrent, das Emirat Katar.

Diese beiden extrem reichen arabischen Staaten begegnen sich mit viel Misstrauen und rivalisieren um die Hegemonie in Nahost und Nordafrika. Wer das nicht in Rechnung stellt, dem wird es schwerfallen, auch nur einen der in beiden Regionen existierenden Konfliktherde zu begreifen. Die prekäre Situation in Libyen, dessen Premier Ali Seidan kürzlich für einige Stunden von Milizen gekidnappt wurde, wird davon ebenso bestimmt wie die Kämpfe zwischen dschihadistischen Gruppen in Syrien und im Jemen. Während sich Mursis Muslimbrüder eher auf Katar stützen konnten, wird General al-Sisi als Ägyptens momentan starker Mann von Saudi-Arabien alimentiert. Wer eine Antwort auf die Frage finden will, ob unter seinem Regime die Persönlichkeitsrechte von Aktivisten auf dem Tahrir-Platz besser geschützt sind als unter Präsident Mursi, der hat sich der Quadratur des Kreises verschrieben.

Zielsicher zur Scharia

Der Westen hofft, dass es Rachid al-Ghannouchi, dem Führer der durch demokratische Wahlen an die Macht gekommenen tunesischen Islamisten gelingt, das von seiner Ennahda-Partei geforderte Scharia-Recht mit dem von der Revolution geforderten bürgerlichen Recht irgendwie zu vereinbaren. Die Taktik, die al-Ghannouchi und al-Sisi einschlagen, ist dem Handlungsmuster von Premier Tayyip Erdogan in der Türkei nachempfunden: eine Gangart der kleinen, aber zielsicheren Schritte in Richtung Scharia.

Der Nahe Osten und Teile Nordafrikas sind durch den Krieg gegen den Terrorismus einerseits und durch die in Tunesien, Ägypten und Libyen ausgelösten Umbrüche andererseits in einen schaurigen Dauerbrandherd verwandelt worden. Da es den Islamisten aber in keinem der drei Länder gelungen ist, die ökonomischen Erwartungen ihrer Anhänger zu erfüllen, gibt es Gewinner auf keiner Seite.

Aber auch der Westen hat verloren. Keines der Versprechen, die Barack Obama in seiner Aufsehen erregenden Rede am 4. Juni 2009 in Kairo zu Beginn seiner Amtszeit abgab, konnte er erfüllen. Der Präsident drang damals auf die gegenseitige Anerkennung von Israelis und Palästinensern, denen es zustehe, dass ihr Recht auf den eigenen Staat anerkannt werde. Inzwischen glauben immer weniger Beobachter an die Verwirklichung der Zweistaatenlösung. Obama sagte in Kairo seinerzeit auch, der Westen werde künftig den Muslimen nicht mehr seine Lösungen aufdrängen, sondern mit ihnen auf Augenhöhe verhandeln. Wer hätte damals geahnt, dass damit - wie schon zu Zeiten von Obamas Vorgänger George W. Bush - nur undemokratische Verhandlungspartner am Golf gemeint waren?

Quelle: der FREITAG   vom 30.10.2013. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

30. Oktober 2013

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