Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Gütekraft: Zur Wirkungsweise gewaltfreier Aktionen

Von Martin Arnold

Wie und unter welchen Grundvoraussetzungen entfaltet gewaltfreies Vorgehen nach den Vorstellungen von Mohandas K. Gandhi, Hildegard Goss-Mayr und Bart de Ligt seine Wirkung? Wodurch wird es stark - und wo liegen seine Grenzen? Alle drei haben wesentlich zur Entwicklung der Streitkunst beigetragen und sie erfolgreich angewendet. Ihre Konzepte, Vorstellungen und Erfahrungen wurden für die Untersuchung ausgewählt, weil sie weltanschaulich-religiös sehr unterschiedlich geprägt sind. Sie stehen damit stellvertretend für viele andere. Die Rekonstruktion ihrer verschiedenen Vorstellungen von der Wirkungsweise des gewaltfreien Vorgehens war die Basis für die Untersuchung von Übereinstimmungen zwischen den Konzepten der Christin, des Hindus und des Atheisten. Die in meiner ArbeitGütekraft: Zur Wirkungsweise erfolgreicher gewaltfreier Konfliktaustragung bei Hildegard Goss-Mayr, Mohandas K. Gandhi und Bart de Ligt. Vergleich und Synthese der Auffassungen von ProtagonistInnen der Gewaltfreiheit aus unterschiedlichen weltanschaulichen Traditionen. Unter diesem Titel wurde die von der Deutschen Stiftung Friedensforschung ermöglichte, hermeneutisch-historisch-systematisch angelegte Arbeit von der Universität Siegen im Herbst 2010 als Dissertation angenommen. Die Veröffentlichung ist in Vorbereitung. im Einzelnen nachgewiesenen Gleichartigkeiten ermöglichten die Entfaltung einer Synthese, eines Wirkungs-ModellsEs handelt sich um ein idealtypisches Verstehensmuster im Sinne Max Webers. der Gütekraft (bzw. der Gewaltfreiheit). Die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Konzepte mögen ein Indiz für breite Gültigkeit und Anwendbarkeit dieses Modells sein, nachvollziehbar für religiöse wie für nichtreligiöse Menschen. Im Folgenden stelle ich das Modell in Umrissen dar.

De Ligt nannte sein Konzept "geistig-sittliche Streitbarkeit", Goss-Mayr spricht von der "Kraft der Gewaltfreiheit" oder "Gütekraft"; dieser Begriff ist m.E. auch eine passende Übertragung von Gandhis Wortschöpfung "Satjagrah".

"Satjagrah" - "non-violence" - "Gewaltfreiheit" - "Gütekraft"

Gandhi schuf für seine Streitkunst das neue indische Wort Satjagrah (engl.: satyagraha). Er erklärte es so: "Wahrheit (Satja) bedeutet auch Liebe, und Festigkeit (agrah) erzeugt und dient als Synonym für Kraft. […] ›Satjagrah‹ bezeichnet also die Kraft, die aus Wahrheit und Liebe geboren wird." (Gandhi 1999, Vol. 34, 93)

Obwohl sich im Westen ähnliche Traditionen bildeten, geht unsere Rede von "Gewaltfreiheit" auf Gandhis Gebrauch von "non-violence" zurück. Das ist die Übersetzung des indischen "Ahimsa", Kernbegriff einer Jahrtausende alten religiös-philosophisch-ethischen Tradition des Nicht-Verletzens, Nicht-Tötens, die in Indien einigermaßen bekannt ist, mit Stärke und Mut assoziiert und hoch geachtet wird. Im Westen hatte sie vor Gandhi keine begriffliche Entsprechung. Im Englischen entwickelte Gandhi für die Streitkunst kein neues Wort, sondern gab beide Begriffe, Satjagrah und Ahimsa, mit "non-violence" wieder. Durch diese Vermischung wurde es im Westen zusätzlich schwierig zu verstehen, wie sich Gandhi seine Streitkunst vorstellte.

Die Kraftentwicklung war ihm wichtiger als das Nichtanwenden von Gewalt. Gewaltfreiheit war ihm nicht das Höchste. Gandhi: "[Ich] war […] wohl fähig, die Gewaltlosigkeit um der Wahrheit willen zu opfern." (Mirabehn 1983, 117) Die Bezeichnung "Apostel der Gewaltlosigkeit" entspricht seinem Selbstverständnis nicht. Er war viel mehr: Experimentator der Gütekraft. Unter Umständen befürwortete er Gewalt (z.B. Gandhi 1999, Vol. 33, 43; vgl. im vorliegenden Band S. 184). Aber Satjagrah, davon war er - und bin ich - überzeugt, ist eine stärkere Kraft als Gewaltanwendung und wirkt oft schneller.

Es widerspricht völlig Gandhis Vorstellungen, seine Streitkunst mit Schwäche zu assoziieren. Er bildete das neue Wort "Satjagrah" gerade darum, weil er einen Ausdruck ohne die Schwäche-Assoziation suchte, die bei den Berichten von "passive resistance"-Aktionen mitschwang (Gandhi 1999, Vol. 34, 94). Dazu drei Stimmen:

  • "Gewaltlosigkeit oder Gewaltfreiheit […] - immer schwingt die Abwesenheit von etwas Starkem, also Schwäche mit (selbst wenn diese eine negative Konnotation hat), der Begriff drückt […] nichts Positives und Kraftvolles aus." (Hertle 2008)
  • "Tatsächlich ist auch das Wort Gewaltfreiheit […] bereits Teil des Problems!" (Nagler 2008, 16)
  • Hans Schwab hat die Assoziationen zu "non-violence" im Französischen ausführlich sprachlich untersucht. Sein Fazit: "Die Schwächen und Mängel der Lexie ›non-violence‹ haben zur Folge, daß die Kommunikation über die non-violence nur schwer auszuräumenden Mißverständnissen ausgesetzt ist und außerdem die Lautform wie ein Köder wirkt, der Kleinmütige, Schwächlinge und utopische Pazifisten anzieht. Deshalb schlagen wir folgende Gebrauchsanweisung vor: Erstens: In Presseveröffentlichungen, Flugblättern, öffentlichen Diskussionen usw. ist auf den Gebrauch von ›non-violence‹ zu verzichten." (Schwab (1994, 281)

Gandhi-Kenner wissen: Die Bezeichnung nonviolence / Gewaltfreiheit /Gewaltlosigkeit für Gandhis Streitkunst ist im Westen höchst problematisch, ja, irreführend. Seit der "Rosenkranz-Revolution" auf den Philippinen 1986 (vgl. im vorliegenden Band S. 30) wird der Ausdruck "people power" benutzt, so auch in Ägypten 2011. Diese Bezeichnung ist nur halb im Sinne Gandhis, weil darin die Assoziation zu Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit oder Güte fehlt.

Gandhis Meinung über die Stärke von Satjagrah ist empirisch bestätigt: Gewaltfreie Aufstände waren im 20. Jahrhundert doppelt so oft erfolgreich wie gewaltsame und führten oft schneller zum Ziel (Stephan u.a. 2008, 8; Schock 2003, 705f.). Die Aussage "Gütekraft ist stärker als Gewalt" bedeutet zweierlei. Erstens: Im Einsatz für mehr Gerechtigkeit ist gütekräftiges Vorgehen (der eigenen Seite) effektiver und wirkt schneller als ein Vorgehen, das den Gegner schädigt. Zweitens: Mit Gütekraft kann Gewalt (der anderen Seite) effektiver bzw. eher überwunden werden als mit Gewalt.

Gandhis Geschenk an die Menschheit wird in seiner Akzeptanz zur Zeit durch irreführende Bezeichnungen beeinträchtigt. Seine Vorgehensweise dürfte besser begriffen und stärker aufgegriffen werden, wenn sie zutreffend als Kraft bezeichnet wird.

Mehr dazu in: Arnold/Egel-Völp (2011)

Ich verwende vorwiegend den Begriff Gütekraft, kombiniere aber gelegentlich mit "gewaltfrei", weil Gütekraft noch wenig geläufig ist. (Die ersten größeren Publikationen dazu erschienen 1999 [Arnold/Knittel] und 2001 [Bläsi].) Insgesamt ist das Modell wie eine "Wenn - dann" bzw. "Je - desto"-Aussage zu verstehen: Wenn die im Folgenden skizzenhaft beschriebenen Elemente, die eine Gesamtheit bilden und sich gegenseitig erläutern, hinreichend gegeben sind, kommt Gütekraft zur Wirkung. Je mehr dies der Fall ist, desto wahrscheinlicher werden bestehende Missstände abgebaut. Das ließe sich auch an den im vorliegenden Band vorgestellten historischen und aktuellen Beispielen zeigen. Häufig sind diese Elemente allerdings nur latent vorhanden, besonders das erste.

Handeln aus der Annahme: Alle Menschen neigen zu Wohlwollen und Gerechtigkeit

Gewaltfrei-gütekräftig Handelnde gehen von der Annahme aus, dass alle Menschen zumindest unbewusst dazu neigen, wohlwollend und gerecht zu handeln - auch brutale Machthaber und andere, denen diese Neigung aufgrund ihrer Taten von vielen nicht zugetraut wird, ebenso wie Zyniker und Menschen, die besonders misstrauisch erscheinen oder sein wollen.

Handeln aus Wohlwollen und Gerechtigkeit kommt im Leben der meisten Familien und unter Freunden häufig vor. Aber diese Neigung zeigt sich, auch wenn sie vielen kaum bewusst ist, ebenso darüber hinaus. Ich habe als Lehrer in unterschiedlichen Berufsschulklassen alle Schüler gebeten aufzuschreiben, was sie einmal für Fremde Gutes getan haben - unter ausdrücklicher Zusicherung, die Antworten nicht für die Zensur auszuwerten. Von kleinen oder größeren Taten aus Wohlwollen oder um der Gerechtigkeit willen berichteten alle - was regelmäßig allgemeines Erstaunen auslöste.Wie die verbreitete, m.E. grob verzerrte Vorstellung "heute hilft ja keiner mehr einem anderen" zustande kommt, kann hier nicht erörtert werden. Auch der Theorie- und Praxisexperte Egon Spiegel (2008, 132) fordert in diesem Sinn mehr Aufmerksamkeit für "Gewaltfreiheit in alltäglichen Beziehungen".

Neben der Neigung zu Wohlwollen und Gerechtigkeit bestehen andere, möglicherweise entgegenstehende Neigungen, die aktuell durchaus stärker sein können. "Böses" soll hier keineswegs verharmlost werden.

Ich führe die Neigung zu Wohlwollen und Gerechtigkeit an erster Stelle an, weil die Überzeugung davon für alles Weitere grundlegend ist. Zwar ist ihre Allgemeingültigkeit, wie so manches andere in den Humanwissenschaften, weder beweisbar noch widerlegbar; aber ob jemand anderen Menschen mit dieser Überzeugung entgegentritt oder nicht, ist in vielen Fällen ausschlaggebend für den weiteren Verlauf dieser Begegnung oder einer politischen Aktion.

Reframing

Ausgangspunkt für gewaltfrei-gütekräftige Aktivitäten ist der Impuls, eine bestimmte Situation nicht akzeptieren, sondern eine Verbesserung herbeiführen zu wollen, z.B. ein Unrecht zu beseitigen. Das ist mehr als nur dagegen zu protestieren. Protest kann jedoch ein wichtiger Schritt zum Abbau von Missständen sein. Wenn der Abbau erfordert, dass andere Personen mitwirken, ist gewaltfrei-gütekräftiges Vorgehen darauf gerichtet, diese Menschen, auch Gegner, dafür zu gewinnen, mitzuwirken. Die folgenden Absätze zeigen, was dabei geschieht.

Welche Reaktion ist zu erwarten, wenn jemand einen Menschen, der ihn nächtens mit vorgehaltener Pistole zur Herausgabe seines Geldes zwingen will, zum Essen einlädt und dies damit begründet, dass der Räuber offensichtlich hungrig sei? Und wenn er ihm darüber hinaus sogar freiwillig die Hälfte des mitgeführten Geldes anbietet, nachdem er erklärt hat, dass es nicht ihm, sondern einer Armeninitiative gehöre? Zumindest in einem belegten Fall nahm der hungrige Räuber die Einladung zum Essen an und weigerte sich nach dem Essen, auch noch das Geld anzunehmen (vollständiger Bericht in: Riehm-Strammer 1997, 34).Auch zugänglich über: http://www.guetekraft.de/ > Gütekraftberichte > Bewaffneter Raubüberfall (Stand: 17.12.2010)

Wie ist zu verstehen, was sich zwischen den beiden Personen ereignete? Der Überfallene ließ sich erstens nicht ins Bockshorn jagen. Er nahm die Rolle eines Überfall-Opfers, das gegen einen Bewaffneten ohne eigene Rüstung keine Chance hat, nicht an. Zweitens verhielt er sich gegenüber dem Räuber nicht feindlich. Mehr noch, er traute ihm durch seine Erklärung zu, mit Rücksicht auf die (anderen) Armen auf seine Beute teilweise zu verzichten. Obwohl der Räuber dazu nicht bereit war und schärfer drohte, ließ der Bedrohte sich nicht einschüchtern, sondern er sah, wie hungrig der Räuber aussah, und fragte ihn, wann er das letzte Mal gegessen habe. Die Wende wurde möglich, weil das hinter dem Überfall liegende Grundbedürfnis erkannt und ausgesprochen wurde und der Überfallene sich als mitfühlender Mensch mit diesem Menschen in Not verbündete und entsprechend handelte. Das Problem war nicht der Überfall, sondern der Hunger.

Psychologen bezeichnen solche Vorgänge als Reframing. Die Situation und der bestehende Konflikt werden in einem neuen Rahmen (frame) gesehen: Neue Aspekte, übergreifende Gemeinsamkeiten (hier der Abbau der Armut, von der der Räuber selbst betroffen ist) rücken in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Schließlich werden die Aktivitäten auf beiden Seiten nicht mehr von der konfrontativen Ausgangslage bestimmt, sondern von dem gemeinsamen Bemühen um den Abbau des eigentlichen Missstands.

Folgende Bedingungen, die zu diesem Reframing gehörten, sind hier zu erkennen: keine Opferhaltung; selbstbewusstes, nicht feindliches, sondern wohlwollendes und zutrauendes Ansprechen; Wahrnehmung der drohenden Person unabhängig von der Drohung; konstruktiver Vorschlag zum Abbau des eigentlichen Missstands; Bereitschaft des Bedrohten, selbst den ersten Schritt zu tun und Kosten dafür zu tragen.

In anderen Fällen zeigen sich ähnliche Gegebenheiten und Wirkungen. Sie finden sich nicht nur in Konflikten zwischen einzelnen Personen, sondern auch auf der Meso- und der Makro-Ebene bis hin zu zwischenstaatlichen Konflikten, wie z.B. die Geschichte der Entkolonialisierung Indiens und Ghanas zeigt. Aktivitäten nach dem Gütekraft-Konzept führten zu Reframing-Prozessen, aufgrund derer Missstände wie Willkürherrschaft, Unterdrückung, ungerechtes Handeln und Ungerechtigkeit in den Lebensverhältnissen überwunden wurden.

Um die Erfolgs-Wahrscheinlichkeit auf Seiten der Engagierten zu erhöhen, d.h. ihre Kraft und Handlungsfähigkeit zu stärken, werden in vielen Ländern heute "Empowerment"-Workshops durchgeführt (Clark 2005).Auch zugänglich über http://www.c-r.org/ccts/ccts27/review27.pdf (Stand: 4.2.2011) 192

Empowerment

Dabei geht es besonders um den Aufbau von innerer und gemeinschaftlicher Stärke für den Einsatz auch unter widrigen Bedingungen. Vor allem in Unrechts- und Unterdrückungssituationen drohen oft Ohnmachtsgefühle das Voranschreiten zum Abbau des Missstands zu lähmen.

Der erste Schritt

Goss-Mayr betont, dass es zunächst wichtig sei, "die innere Kraft, die Philosophie und geistige Kraft der Gewaltfreiheit zu entdecken"Interview mit dem Verfasser am 2.8.2004 in Wien, unveröffentlicht und "die oft verborgene, verschüttete Kraft aufzudecken, zu neuem, bewusstem Leben zu erwecken" (Goss-Mayr 1996, 16). Gütekraft (der Gewaltfreiheit) im Eigenen entdecken bedeutet: Im Leben und Erleben des Einzelnen oder der Gruppe eigene Freiheit, innere Neigung und Kraft wahrzunehmen, sich tätig für Gutes einzusetzen, d.h. wohlwollend und gerecht zu handeln - auch wenn ein Preis dafür gezahlt werden muss. Hilfreich ist, sich an derartiges eigenes Handeln in der Vergangenheit zu erinnern, auch an Geschichte und Tradition einer Gruppe oder eines Bevölkerungsteils.Die Anregung dazu ist fester Bestandteil in den Kursen des "Projekts Alternativen zur Gewalt", einer Art Empowerment für Gewalttäter, vgl. http://www.pag.de/ (Stand: 25.11.2010)

Sich die Kraft im Eigenen bewusst zu machen, kann Einzelnen und Gruppen helfen, für den Abbau des aktuellen Missstands Kosten und, wenn unvermeidbar, Risiken in Kauf zu nehmen und lähmende Angst davor zu überwinden. Das Bewusstsein, damit einen positiven Beitrag zum Abbau des Missstands zu leisten, kann ebenso stärken wie die Gewissheit, bei erlittenen Schädigungen während einer gemeinsamen Aktion nachher nicht im Stich gelassen zu werden.

Gütekraft, die Kraft der Gewaltfreiheit, im Eigenen zu entdecken, ist nicht nur wichtig, um sich für die Überwindung von Ängsten zu stärken, sondern vor allem deshalb, weil sie sich in der Regel auf das Interaktions- und Kommunikations-Verhalten auswirkt, das stets einen hohen Anteil am Zustandekommen eines Erfolges hat. Es ist stark geprägt von dem meist wenig bewussten Bild, das die Engagierten von sich selbst und von ihrer Beziehung zu den anderen Personen oder Personengruppen haben, die auf irgendeine Weise für den betreffenden Missstand mitverantwortlich sind.In der Psychologie werden so beeinflusste Vorgänge unter der Überschrift self-fulfilling prophecy untersucht, vgl. Ludwig, Peter H. (1991): Sich selbst erfüllende Prophezeiungen im Alltagsleben. Theorie und empirische Basis von Erwartungseffekten und Konsequenzen für die Pädagogik, insbesondere für die Gerontagogik. Stuttgart: Verlag für Angewandte Psychologie. Wer sich der eigenen Gütekraft (der Gewaltfreiheit) bewusst ist, kann sie auch anderen zutrauen und auf deren Neigung zu Wohlwollen und Gerechtigkeit vertrauen. Die Gütekraft im Eigenen zu entdecken gehört zur Persönlichkeitsentwicklung, zur Entwicklung eines realistischen Selbstbildes.

Beziehungszentrisches Selbstbild entwickeln

Hildegard Goss-Mayr war zusammen mit ihrem Mann Mitte der 1980er Jahre auf die Philippinen eingeladen worden, um zu helfen, die Marcos-Diktatur zu beenden. Sie berichtet, die beiden hätten im Stadium der Situationsanalyse zunächst gefragt: "Was macht das Unrecht aus?" Auf die Antwort: "Die Diktatur! " hätten sie entgegnet, eine Diktatur könne nur so lange bestehen, wie das Volk sie unterstütze, also die Intellektuellen, die Industrie, die Banken, die Arbeiter usw. "Wir alle [gemeint war sicherlich auch: wir anwesenden Europäer] sind mitverantwortlich, dass diese Situation bestehen kann." Dies einzusehen, sei eine enorme Herausforderung für die Leute gewesen (Goss-Mayr 2004, 9).

Die Einsicht in die eigene Mitverantwortung gehört als wichtiger Schritt zur ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung des Empowerment. Diese bezeichne ich als Entwicklung vom egozentrischen zum beziehungszentrischen Selbstbild. Sie kann im Folgenden nur angedeutet werden.

Das Eigene (das Ich, das Selbst, als Gruppe: das Wir) wird dabei umfassend bestätigt (Fundierung), seine Bezogenheit auf anderes und andere Menschen wird konkret erkannt (Relationierung) und zugleich die Absolutheit des Eigenen in Frage gestellt (Relativierung).Vgl. Antoch (1999, 75): "Sinn für das Selbstsein im Bezogensein". So wird die Selbst-Wahrnehmung realistischer, und es werden Schritte zum Abbau von Missständen möglich, die angemessener sind als bei starker Ich- oder Wir-Befangenheit. Diese Umorientierung fördert die Bereitschaft zu fragen, wo wir (bis dahin meist unbewusst) nicht nur "Teil der Lösung", sondern auch "Teil des Problems" sind. Diese Einsicht kann schmerzlich sein - und heilsam! Sie kann zum Erkennen konkreter eigener Anteile an einem Missstand führen (z.B. unnötiges Autofahren aus Bequemlichkeit, statt um der Mitwelt und der Zukunft willen Fahrrad, Bus oder Bahn zu benutzen; oder in einer Diktatur die Angst vor Unterdrückungsmaßnahmen und daraus folgende Untätigkeit). Daher gehört die Frage nach den eigenen Anteilen am Unrecht zum festen Bestandteil der weltweit praktizierten Analyse-Methode von Hildegard Goss-Mayr für gewaltfreies Handeln, bei der die "Stützen des Unrechts" benannt werden. Wer eigene Anteile an einem beklagten Missstand erkannt hat, kann daraus mögliche eigene Beiträge zu seiner Beseitigung ableiten. Damit kommt auch eigene Macht in den Blick.

Macht entfalten

Gütekräftig Handelnde nutzen zuerst die eigenen Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation bzw. zum Abbau eines Missstandes. Sie tun unabhängig von anderen, was bereits in ihrer Macht steht. Die beiden fundamentalen Schritte sind erstens selbst tätig werden und zweitens "Selbstverbesserung" (de Ligt), um die Fähigkeiten für dieses Tätigwerden zu steigern. Zu diesen Fähigkeiten gehören Persönlichkeitsentwicklung und Methoden-Lernen. Diese beiden Schritte sind die Grundvoraussetzung für das Wirksamwerden der Gütekraft (der Gewaltfreiheit). Die aktive Verringerung eigener Anteile an einem Missstand oder auch konstruktives Handeln (wie zum Beispiel der von Danilo Dolci eingeführte "umgekehrte Streik", etwa der Bau einer dringend benötigten Straße aus eigener Kraft, siehe im vorliegenden Band S. 25f.) kann in manchen Fällen zum Abbau eines Missstandes führen. Selbst wenn das nicht oder nicht ganz möglich ist, ist Eigentätigkeit auch gerade in schwierigen Fällen grundlegend. Denn damit "ermächtigen" sich die Engagierten.

"Macht" wird oft als die Fähigkeit angesehen, andere gegen ihren Willen zu etwas zu zwingen. Dieses nenne ich Herrschaft. Sie ist nicht gemeint, wenn von "Empowerment" die Rede ist. Vielmehr geht es darum, die potentielle, verborgene eigene Kraft zur Gestaltung der Lebensverhältnisse bewusst und stark zu machen, die Kraft und die Entschlossenheit, sich persönlich einzusetzen.

Die Beteiligung an der Aufrechterhaltung eines Missstandes zu beenden, bedeutet in bestimmten Fällen, die Zusammenarbeit mit dem Unrecht, an dem auch andere beteiligt sind, aufzukündigen. Taten wirken auf andere, die davon erfahren, und regen zum "Mitschwingen" an. Praktizieren Menschen Nichtzusammenarbeit, so wirkt dieses Vorbild daher auf andere am Unrecht Beteiligte als innerer Druck, ebenfalls ihre Anteile daran abzubauen. Wenn dies Menschen tun, die bis dahin wichtige "Stützen des Unrechts" waren, oder wenn viele Menschen es tun, so entsteht dadurch ein neues Element, nämlich zusätzlich äußerer Druck auf die für das Weiterbestehen des Unrechts Verantwortlichen, z.B. durch eine neue Stimmung in der Gesellschaft oder unter gewissen Umständen durch drohenden Machtverlust, wie ich unten näher ausführe.

Der Impuls zum Abbau eines Missstands wird auf diese Weise stärker, die Tat macht die Engagierten schon im Vorgriff auf größere Machtentwicklung mächtig, denn Taten rufen Resonanz hervor. Gandhi (1999, Vol. 28, 47): "Meine Stärke liegt darin, dass ich von den Menschen nichts verlange, was ich nicht selbst immer wieder in meinem Leben ausprobiert hätte."

Resonanz und Dynamik

Eine Verbesserung der Situation ist in vielen Fällen nur erreichbar, wenn auch noch andere Personen mitwirken. Sie können dazu von sich aus bereit sein oder auch gebeten oder umgestimmt werden. Dies geschieht im Wesentlichen durch Resonanz, durch Anregung zum "Mitschwingen" mit dem Handeln der bereits Engagierten.

Resonanz ist möglich, weil Menschen erkennen, wenn jemand wohlwollend und gerecht (oder übelwollend und ungerecht) handelt oder wenn jemand so behandelt wird. Die Wahrnehmung einer Tat, die aus der Neigung zu Wohlwollen und Gerechtigkeit kommt, bzw. die Wahrnehmung der entsprechenden, glaubwürdig eingenommenen Haltung regt zum "Mitschwingen" an. Die Resonanz auf wohlwollend-gerechtes Handeln kann spontane Mitwirkung, die Bildung einer Gruppe oder auch die Entstehung einer Bewegung zur Folge haben und eine Dynamik in Gang setzen, die sich aufgrund jener in allen Menschen vorhandenen Neigung selbst verstärkt. In welchen Fällen aus dem "Mitschwingen" ein Handeln wird, hängt von vielen Faktoren ab, von äußeren Umständen wie auch von inneren Voraussetzungen. Gewaltfrei-gütekräftiges Handeln ist darauf gerichtet, diese Faktoren so zu beeinflussen, dass ein entsprechendes Handeln wahrscheinlicher wird. Das wichtigste Mittel, das zu erreichen, ist der Dialog.

Dialog

Ist ein Zustand der Ungerechtigkeit nur unter Mitwirkung von Menschen zu verändern, die bisher nicht dazu bereit oder gegen die Änderung eingestellt oder gar bereits dagegen tätig geworden sind, so wird - auch und gerade, wenn sie die Engagierten zu schädigen versuchen und ihnen zu Gegnern geworden sind - der Dialog mit ihnen gesucht: als "Einladung zur gewaltfreien Lösung des Problems" (Goss-Mayr und Goss 2004, 1267).

Für den gewaltfrei-gütekräftigen Dialog sind persönliche und methodische Vorbereitungen wichtig. Dabei wird nach Handlungen oder Eigenschaften der anderen Beteiligten, auch der Gegner, gesucht, in denen ihre Neigung zu Wohlwollen und Gerechtigkeit konkret und klar zum Ausdruck gekommen ist ("die Wahrheit des anderen erkennen", Goss-Mayr und Goss 2004, 1244). Im gütekräftigen Dialog wird - im Unterschied zu anderen Formen der Auseinandersetzung mit einem Gegner, bei denen es z.B. eher ums Rechthaben geht - bei Beurteilungen immer zwischen der Person und ihrer Handlung unterschieden. Auch wenn die Handlung zu verurteilen ist, wird dabei der handelnden Person gegenüber Respekt und Wertschätzung zum Ausdruck gebracht. Zugleich wird - am besten durch direkt Betroffene - konkret verdeutlicht, worin der Missstand besteht, und es wird über die eigenen tätigen Schritte und konstruktiven Vorschläge zum Abbau des Missstands informiert: Resonanz ist auch im Dialog das fundamentale Wirkungselement.

Der Liebe mehr Raum geben

Martin Luther King jr. bezeichnet die Gütekraft (der Gewaltfreiheit) in Anlehnung an Jesus und Gandhi als die "Kraft zum Lieben" (King 1963). Diese Kraft kann wachsen. Was Gandhi zu einer neuen Art von politischem Führer macht, ist seine Entschlossenheit, die Grundsätze, die er im Zusammenleben der Familie verwirklicht sah, auf die Politik zu übertragen. Er berichtet, er habe an seinen Bruder geschrieben: "[…] die Bedeutung von ›Familie‹ müsse nur etwas erweitert werden." (Gandhi 1977, 227)

Die Entwicklung des beziehungszentrischen Selbstbildes mit neuer Wahrnehmung des Eigenen und der Anderen kann als Entwicklung der Fähigkeit zu lieben verstanden werden: Sie wird über den Bereich von Familie und Freundschaft hinaus ausgeweitet. Hildegard Goss-Mayr: "Es kommt darauf an, wie viel Raum man der Liebe in sich gibt und dass man sie in sich wachsen lässt."Interview mit dem Autor am 3.8.2004 in Wien, unveröffentlicht. Liebe ist dabei an erster Stelle nicht ein Gefühl, sondern eine Haltung, die Haltung des Wohlwollens und der Achtung der anderen Person/en als Mensch/en mit allen Attributen, die wir auch für uns selbst beanspruchen.

Wie ist diese Haltung mit dem Erfordernis zu vereinbaren, ggf. dem Unrecht beherzt entgegenzutreten, dem Gegner die Stirn zu bieten, also mit Auseinandersetzung und Streit?

Wohlwollend-gerecht streiten

Bei gewaltfrei-gütekräftigem Vorgehen werden die anderen Beteiligten, die ggf. den Abbau eines Missstandes bisher verhinderten, nicht als Feinde, sondern als potenzielle Verbündete betrachtet und behandelt. Je konsequenter dies geschieht, desto größer sind die Erfolgschancen des Vorgehens. In diesem Sinne sind z.B. Soldaten vor allem potenzielle Kriegsdienstverweigerer und nicht potenzielle Mörder.

Die gewaltfrei-gütekräftige Haltung bedeutet erstens, den anderen Personen - auch den gegnerischen! - zuzutrauen,Die Forschungen zu "self fulfi lling prophecy" (s. Fußn. 8) zeigen, wie wesentlich dieser Punkt ist: Er kann über Erfolg und Misserfolg entscheiden. gütekräftig, d.h. wahrhaftig, gerecht und liebevoll, handeln zu können - und zweitens, ihnen dieses auch zuzumuten, und zwar durch eigenes gütekräftiges Handeln. Dieses Zweite ist eine Art Aggression. Das Besondere dieses aggressiven Zumutens ist jedoch, dass damit keine schädigende Absicht verbunden ist, vielmehr Schädigungen der Gegenseite, auch Demütigungen oder Gesichtsverlust, mit Umsicht und Sorgfalt vermieden werden: "[…] aktiv, dynamisch und aggressiv - gegen das Böse, das Unrecht, aber niemals gegen den Menschen!" (Goss-Mayr 1996, 25) Es handelt sich um eine konstruktive Aggression, darum, auf die anderen Beteiligten wohlwollend-gerecht zuzugehen (lat.: aggredi = herangehen). Der Einsatz ist dennoch aggressiv, weil er das Gesetz des Handelns nicht der Gegenseite überlässt. Dadurch wird gütekräftiges Vorgehen stark. Es ermöglicht im Konflikt wohlwollend-gerechtes Streiten.Die Einschätzung, Satjagrah sei von Gandhi "mehr defensiv verstanden" worden (Ebert 1981, 3), trifft m.E. Gandhis Verständnis nicht.

Den Angesprochenen in Bezug auf den Missstand Unannehmlichkeiten wie Gewissensbisse oder womöglich schmerzliche innere Auseinandersetzungen zu bescheren, ist in der Regel um der Wahrheit und der Gerechtigkeit willen unvermeidlich und sogar förderlich (etwa dann, wenn versucht wird, jemanden von einem Verbrechen abzuhalten). Zwang wird allerdings in keiner Form ausgeübt.

Wenn die Resonanzdynamik durch den Dialog nicht hinreichend aktiviert und der Missstand infolgedessen nicht behoben werden kann, wird sie durch weitere Aktivitäten ("Gewaltfreie Aktion" oder "Gütekraft-Aktion") verstärkt, die man als "Fortsetzung des Dialogs in der Öffentlichkeit" bezeichnen kann (Goss-Mayr). Extensive Aktionen richten sich zur Verbreiterung der Dynamik in erster Linie an die Öffentlichkeit, intensive Aktionen, bei denen die Engagierten den persönlichen Einsatz erhöhen, in erster Linie an die unmittelbar am Missstand Beteiligten, in zweiter Linie ebenfalls häufig an die Öffentlichkeit. Zum direkten Gespräch bleiben die Engagierten jederzeit - auch bei schädigenden Gegenaktionen - bereit.

Was aber, wenn die anderen Beteiligten auf Einschüchterung und Drohungen setzen?

Einsatzbereitschaft

Bereitschaft und Entschlossenheit zum Einsatz können durch Angst vor drohenden Schädigungen durch den oder die Gegner auf dem Spiel stehen. Ich greife den äußersten Fall heraus: wenn es um die Bereitschaft zum Einsatz des Lebens geht. Was sagen Mohandas K. Gandhi, Bart de Ligt und Hildegard Goss-Mayr dazu?

Einsatz des Lebens

Gandhi geht davon aus, dass der selbstlose Einsatz für etwas Gutes die Engagierten dem Göttlichen näher bringt, anders ausgedrückt: Er verbindet mit dem Weltgesetz (Dharma) und führt deshalb in jedem Fall, auch bei kurzfristiger Erfolglosigkeit, irgendwann zur Verbesserung der Situation. Darum erwartete Gandhi von Satjagrahis unverblümt die Bereitschaft, Leiden und Tod für Gottes Sache zu riskieren und entwickelte ein Lernprogramm, das diese Bereitschaft durch Aufgaben und Selbstverpflichtungen mit steigenden Anforderungen stärkt: durch die Gelübde, deren Einhaltung er von den Bewohnern seines Aschrams erwartete und die er auch anderen empfahl (Gandhi 1999, Vol. 14, 453ff.; Vol. 15, 167-175; Vol. 42, 128f.; Vol. 95, 190). Außerdem setzte er darauf, dass freiwillig erduldetes Leiden das Vorgehen stärker mache, weil es das Herz des Gegners ansprechen und ihn dadurch mehr als Vernunft-Argumente zum Umdenken motivieren könne.

Für de Ligt hat das eigene Sterben dann Sinn, wenn es im Notfall von einer "Persönlichkeit in Kauf genommen und angenommen wird, die weiß, wofür", als Beispiel selbstlosen Einsatzes für die weitere Verwirklichung von Wahrheit und Menschlichkeit. Es sei "als persönliche zugleich eine stellvertretende Tat, die andere zunehmend aufweckt" (de Ligt 1936; 1925, 200).

Goss-Mayr (1996, 187) berichtet vom Einsatz gegen die Marcos-Diktatur auf den Philippinen: Ein Gouverneur, Freund und Mitarbeiter der Oppositionskandidatin, sei während des Wahlkampfes umgebracht worden. Daraufhin seien hasserfüllte Rufe wie "Marcos - Mörder!" laut geworden. Diejenigen, die den Kampf bewusst gewaltfrei-gütekräftig führten, hätten diesen Rufen die Frage entgegengehalten: Wusste der Ermordete bei seinem Engagement vorher, dass er das Risiko einging, im Einsatz gegen die Diktatur umgebracht zu werden, und engagierte er sich dennoch freiwillig? Da dies bejaht wurde, sei der Tod anders gedeutet worden: Der Mann war bereit, sein Leben einzusetzen und hat es für die gerechte Sache des Volkes hingegeben. Da diese Grundhaltung in jenem Kampf von allen Engagierten gefordert war, habe er zum Vorbild werden und die Trauer um ihn zur Stärkung der Entschlossenheit des Volkes beitragen können, den gewaltfrei-gütekräftigen Weg bis zur Überwindung der Diktatur weiterzugehen.

Die Hingabe des Lebens macht Menschen wie ihn zu starken Zeugen für die von ihnen vertretene Wahrheit und Gerechtigkeit.

Die Überlegenheit von Satjagrah wird sich, davon ist Gandhi überzeugt, erweisen, wenn die Engagierten den Weg der Liebe nicht verlassen und nicht aufgeben. Das Engagement auch unter äußerstem Druck und sogar, wenn das Leben bedroht ist, kreativ und offensiv weiterzuführen, ist für ihn ein zentraler Aspekt des gewaltfrei-gütekräftigen Vorgehens. Seine Zuversicht ist fest: Solange nur ein einziger Satjagrahi aktiv ist, ist der Erfolg gewiss - weil "Wahrheit-und-Güte" stärker ist als alles andere.

In ähnlichem Sinne wird in Lateinamerika das, was wir Gewaltfreiheit oder Gütekraft nennen, nach diesem zentralen Aspekt benannt: firmeza permanente, "dauerhafte Festigkeit".

Der Unterschied zu terroristischem Märtyrertum: die Kraft von Wahrheit und Liebe

Die Bereitschaft, als Zeuge (= "Märtyrer") für die von ihnen vertretene Wahrheit und Gerechtigkeit das eigene Leben hinzugeben, ist auch bei Menschen gegeben, die durch ein Selbstmord-Attentat meinen, etwas Gutes zu tun. Was macht den Unterschied aus?

a) Der Relativität der eigenen Wahrheit Rechnung tragen (Gandhi): Der Einsatz für Wahrheit und Gerechtigkeit, für die gerechte Wahrheit, ist immer positiv. Die absolute Wahrheit vollständig erkennen hieße göttlich leben. Dies ist keinem Menschen gegeben. Wir können uns der absoluten Wahrheit immer nur annähern und Teile davon "erkennen". Diese Annäherung ist nur mit Liebe möglich, dazu gehört zentral das Absehen von Eigeninteresse (weil es den Blick für Wahrheit trübt) und die Berücksichtigung der Sichtweisen anderer, also der Dialog. Der Einsatz für die Wahrheit durch Satjagrahwörtliche (im Westen missverständliche) Übersetzung: "Festhalten an der Wahrheit". ist also immer ein Einsatz für die von mir oder uns erkannte Teilwahrheit, d.h. wir müssen für möglich halten, dass wir uns irren. Respekt vor der - uns unbekannten - absoluten Wahrheit bedeutet, dass wir niemandem unsere Teilwahrheit aufzwingen und im Namen der eigenen Teilwahrheit nichts tun, was nicht rückgängig gemacht werden könnte. Es wäre also Verrat an der (uns unbekannten) absoluten Wahrheit, jemanden für die eigene Teilwahrheit leiden zu lassen oder gar zu töten. Denn damit würden wir die Teilwahrheit des anderen, die der absoluten Wahrheit ja näher sein könnte, mit Füßen treten. Wenn also der Einsatz für die erkannte Wahrheit Leiden erforderlich macht, dann darf es nur das eigene Leiden sein. Das ist ebenfalls ein Aspekt der Liebe.

b) Aus der Gewaltspirale aussteigen (Goss-Mayr): Im Gegensatz zu Selbstmordattentaten, bei denen Menschen absichtlich getötet werden, gilt für Gütekraft- Aktionen: Die aggressive und die nachahmende Gewalt, also Gegengewalt, "gerechte" Gewalt usw., werden "abgefangen und überwunden", indem der Unschuldige "Böses nicht mit Bösem vergilt, sondern aus Liebe sein Leben hingibt. […] [A]us der Kraft der Wahrheit, der sich hinschenkenden Liebe und der Vergebung, können Erlösung, Befreiung und Versöhnung Wirklichkeit werden im Leben des einzelnen und in der Geschichte der Menschheit." (Goss-Mayr 1981, 44)

Gewaltfrei-gütekräftig Handelnde lieben das Leben. Sie wollen keinesfalls Leiden (den Tod eingeschlossen) verursachen, weder eigenes noch das anderer.

Was aber, wenn Schlüsselpersonen sich dem Dialog beharrlich verweigern?

Eskalation durch Massenaktionen

Wenn mächtige Schlüsselpersonen unzugänglich bleiben, wird das gütekräftige Vorgehen weiter eskaliert bis hin zu Massenaktionen. Immer mehr Menschen, die die Schlüsselpersonen stützen, werden mit der Kraft des tätigen Einsatzes für Gerechtigkeit, Menschenfreundlichkeit und Freiheit "angesteckt", damit möglichst viele Beteiligte jegliche Form der Unterstützung des unrechten Verhaltens oder des ungerechten Systems aufkündigen und sich von den Schlüsselpersonen unabhängig machen - auch wenn sie Nachteile dafür in Kauf nehmen müssen. Die Beherrschten nutzen die Tatsache, dass Herrschende immer auf Unterstützung durch die Beherrschten angewiesen sind. Den Schlüsselpersonen wird durch organisierte Nichtzusammenarbeit in großem Maßstab ihre Machtbasis entzogen. Zur Nichtzusammenarbeit können u.a. gehören: Boykott, Generalstreik, ziviler Ungehorsam, Befehls-, Kriegsdienst- und Steuerverweigerung.Theodor Ebert hat einen einfachen systematischen Überblick erarbeitet (1981, 37). Zum Alternativenaufbau können gehören: Erarbeitung einer neuen Verfassung, Gründung unabhängiger Bildungseinrichtungen, Aufbau eigener Einrichtungen zur freien Ausführung von Gemeinwohl-Aufgaben unabhängig von den im herrschenden System zuständigen Institutionen (zivile Usurpation) usw. Durch Alternativenaufbau wird der positive Umgang mit der neuen Situation vorbereitet und in die Wege geleitet.

Wenn bei sehr harten Reaktionen des Gegners die wohlwollend-gerechte Haltung des streitbaren Anbietens seitens der Engagierten verlassen und vom Wunsch zu zwingen verdrängt wird, kann die Konfliktaustragung leicht auf die Ebene gegenseitiger Schädigung abgleiten, auf der die skrupellosere und mit mehr und effektiveren Schädigungsmitteln ausgerüstete Seite gewinnt. In der Regel ist nicht zu erwarten, dass alle, die sich an Massen-Aktivitäten beteiligen, großes Wohlwollen gegenüber den Schlüsselpersonen bzw. der herrschenden Gruppe aufbringen. Wenn jedoch die leitenden Personen, die die Aktivitäten klar mit Wohlwollen führen, in der eigenen Gruppe anerkannt bleiben, bestehen gute Chancen, auf diese Weise den Missstand abzubauen.

In den vorher behandelten Fällen lässt sich die Wirkung letztlich, wie oben ausgeführt, auf Eigentätigkeit, Selbstverbesserung und Resonanz zurückführen. Die Aktionen führen zu wachsendem öffentlichen Druck, innerer Zwiespältigkeit und innerem Druck bei den anderen Beteiligten, auch bei den Schlüsselpersonen, gemäß der eigenen Neigung zu Wohlwollen und Gerechtigkeit zu handeln. Hier tritt ein weiteres Element hinzu: wirtschaftlicher und auch direkter politischer Druck auf die Führungsgruppe. Mit der Zeit stellt sich, weil immer weniger Menschen den Mächtigen folgen, die Machtfrage, d.h. die Fähigkeit der herrschenden Gruppe zur Machtausübung wird ausgehöhlt.

Solange sich die herrschende, zunehmend isolierte Führungsgruppe den Forderungen nicht beugt, werden Personen in ihrer Umgebung sowie die Massen weiter gütekräftig angesprochen und zu wohlwollend-gerechter Nichtzusammenarbeit angeregt. Es kommt zu einer Machtverschiebung. Diese führt schließlich dazu, dass die Herrschenden den Abbau des Unrechts nicht mehr verhindern wollen oder können: Entweder bewirkt bereits der den Schlüsselpersonen drohende Machtverlust, dass sie, auch ohne selbst überzeugt zu sein, einlenken, oder ihr tatsächlicher Machtverlust führt, ohne dass sie ihre Überzeugung ändern, dazu, dass das Unrecht abgebaut wird.

So wurden diktatorische Regime wie 1978 das von Hugo Banzer in Bolivien und 1986 das von Ferdinand Marcos auf den Philippinen überwunden (siehe im vorliegenden Band S. 29f. und Arnold 2008). Aber auch diese Erfolge bedeuten nicht, dass gütekräftigem Handeln keine Grenzen gesetzt wären.

Grenzen gewaltfrei-gütekräftigen Handelns

Menschen, die jegliche Moralität, also den Sinn von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit entschieden leugnen, können, solange sie dieser Überzeugung sind, nicht von sich aus gütekräftig handeln, und Engagierte können in dieser Zeit nicht auf gütekräftige Weise mit ihnen gemeinsam Missstände abbauen. Allerdings kann auch in ihnen die Gütekraft-Potenz geweckt werden, wie Beispiele zeigen (siehe etwa den Bericht "Das Gewissen des Wachmannes " in: Schmelzer 1983, 57f.; dort zit. aus: Lanza del Vasto o.J., 14f.Auch zugänglich über: http://www.guetekraft.net/ > Gütekraftberichte (Stand: 7.2.2011).).

Auch wer lediglich an andere appelliert, ohne selbst Schritte zum Abbau eigener Anteile am Missstand zu tun, allgemein gesagt, wer nur von anderen Personen Verhaltensänderungen oder Handeln in Bezug auf einen Missstand erwartet, kann die Gütekraft für den verfolgten Zweck nicht mobilisieren.

Gütekräftiges Handeln ist ferner nicht für egoistische Zwecke einsetzbar und eignet sich nicht für die Verwirklichung von Überlegenheits- oder Hegemoniestreben. Dagegen gilt "Fülle des Lebens für alle": Wenn die Beteiligten die Verhältnisse an diesem Maßstab messen und ihr Handeln danach ausrichten, kann ihr gütekräftiges Vorgehen erfolgreich sein.

Im öffentlichen Bewusstsein kommt diese Einsicht erst allmählich an. Immerhin lautete im SPIEGEL ONLINE zum Aufstand in Ägypten am 11.2.2011 eine Zwischenüberschrift: "Gewaltfreiheit funktioniert".Kommentar von Yassin Musharbash http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,745100,00.html (Stand: 26.2.2011). Und US-Präsident Obama sagte, dass "wir uns nicht durch unsere Unterschiede bestimmen lassen müssen", sondern "uns durch die gemeinsame Menschlichkeit definieren können": "Ägypter haben uns inspiriert. Sie taten es, indem sie die Idee Lügen straften, Gerechtigkeit würde am besten durch Gewalt erreicht." Er sprach von "the moral force of non-violence" und "the power of human dignity", der moralischen Kraft der Gewaltfreiheit und der Macht menschlicher Würde. http://www.whitehouse.gov/photos-and-video/video/2011/02/11/president-obama-historic-day-egypt (Übersetzung Arnold, Stand: 11.2.2011).

Literatur

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  • Arnold, Martin/Gudrun Knittel (Hrsg.) (1999): Gütekraft erforschen. Gewaltfreie Aktion 121 (Sonderheft)
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Martin Arnold ist in mehrjähriger Forschungsarbeit der Frage nachgegangen, wie drei Konzeptentwickler des gewaltfreien Vorgehens - der Inder Mohandas K. ("Mahatma") Gandhi (gest. 1948), der Niederländer Bart de Ligt (gest. 1938) und die Österreicherin Hildegard Goss-Mayr (geb. 1930) - sich die Wirkungsweise ihrer Methoden vorstell(t)en, und hat eine umfassende Beschreibung vorgelegt. Der Autor wurde von den Herausgebern des Buches "Gewaltfreie Aktion", Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal, um eine Kurzversion wichtiger Ergebnisse der Untersuchung gebeten, sozusagen als Vorschau auf seine geplanten Publikationen.

Erstveröffentlichung des Artikels "Gütekraft: Zur Wirkungsweise gewaltfreier Aktionen" von Martin Arnold in: Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.), Gewaltfreie Aktion. Erfahrungen und Analysen. Brandes & Apsel, Ffm. 2011 ISBN 978-3-86099-689-8, 287 Seiten. Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung von Martin Arnold.

Fußnoten

Veröffentlicht am

23. Oktober 2011

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