Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Politische Leitbilder als Ermutigung: Helmut Gollwitzer und Heinrich Albertz

Helmut Gollwitzer und Heinrich Albertz sind beide im Jahr 1993 verstorben. In einem Beitrag im Jahrbuch ‘93/94 des Komitee für Grundrechte und Demokratie haben Wolf-Dieter Narr und Klaus Vack die beiden Beiratsmitglieder dieser Menschenrechtsorganisation gewürdigt. Anlässlich des 20. Todestages von Helmut Gollwitzer dokumentieren wir hier diese Würdigung aus dem Jahr 1993, die mit folgendem redaktionellen Vorspann beginnt:

"Das Beiratsmitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie Heinrich Albertz (geboren am 22. Januar 1913) ist am 18. Mai 1993 und das Beiratsmitglied Helmut Gollwitzer (geboren am 29. Dezember 1908) am 17. Oktober 1993 gestorben. Beide Streiter für unsere gemeinsame Sache haben ein hohes Alter erreicht und engagierten sich mit jugendlicher Leidenschaft politisch bis kurz vor ihrem Tod. An dieser Stelle soll ihre Rolle und ihr ansteckendes Tun für einzelne und die zahllosen Gruppen, Bürgerinitiativen für Frieden, Menschenrechte und Demokratie gewürdigt werden. In zwei Aufsätzen lassen wir im Anschluß an unseren erinnernden "Nachruf" Helmut Gollwitzer und in Auszügen aus seinen biographischen Notizen Heinrich Albertz selbst zu Wort kommen."

Politische Leitbilder als Ermutigung

Zu Heinrich Albertz und Helmut Gollwitzer: "Unsere" Befreiungstheologen und Praktiker der Befreiung

Von Wolf-Dieter Narr/Klaus Vack

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie ist eine säkulare Verbindung. Es kümmert sich allein um menschliche Dinge auf dieser Erde. Solche, die in Folge von Menschen gemachter Umstände im argen liegen, um darauf zu drängen, daß sie erträglicher werden. Daß es vielleicht sogar spaßvoller wird zu leben. Trotz aller unvermeidlichen Mühen, aller dauernden Anfänge, aller Vergeblichkeiten und trotz allem unvermeidlichen, immer erneut schmerzlichen Ende.

Der aus "krummem Holz" geschnitzte Mensch soll immer erneut die Chance erlangen, den "aufrechten Gang" zu erproben. Davon hat Ernst Bloch gesprochen. Also verband Helmut Gollwitzer in seinem wichtigen Buch über den "Sinn des Lebens" Kants anthropologischen Skeptizismus und Blochs Hoffnungsphilosophie: "Krummes Holz - Aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens." (1970)

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie versammelt Menschen potentiell aller Religionen und Nicht-Religionen. Auch solche, die den "Sprung des Glaubens" nicht geschafft haben oder gar kein Interesse zeigen, sich auf ein Sprungbrett über dieses Seil zu begeben. Allein die unverkrümmten Menschenrechte, die Würde des/der Menschen sind Maßstab für das Politikverständnis des Komitees.

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Dennoch sind wir - Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland, Europas und der "westlichen Welt" und damit auch die MitstreiterInnen und Mitverbundenen des Komitees - "der" Religion, der christlichen zumal, eigenartig und nicht nur äußerlich in wenigstens dreierlei Hinsicht verbunden.

Zum ersten um der bereits erwähnten Menschenrechte willen. Deren moderne Tradition rinnt aus mehr Quellen, als üblicherweise angenommen wird, zusammen. Die vormoderne-moderne Geschichte der Sklaverei gehört, wie Orlando Patterson, David Brion Davis u.a. gezeigt haben, entscheidend mit hinzu. Ohne die christliche Tradition, die auch einen starken unterdrückerischen Strang besitzt, ließen sich jedoch die europäisch-angelsächsisch zuerst formulierten und als universelle Werte behaupteten Menschenrechte nicht denken.

Darin liegt übrigens auch eines der Probleme ihrer verlangten Allgemeinheit. Wie weit lassen dieselben anders begründete Besonderheiten zu? Wie weit läßt sich ihre Allgemeinheit aus den Erfahrungen aller Menschen begründen? Der Universalitätsanspruch der (christlich mitbegründeten) Menschenrechte kommt dort sogar in Verruf, wo er sich ohne kritische Distanz mit "westlich" kapitalistischen und staatlichen Expansionsinteressen verbündet. Das war und ist längs der verschiedenartigen Imperialismusgeschichte seit Kolumbus’ Tagen der Fall.

Die Verbindung Menschenrechte-Christentum ist also eng. Sie ist eng im zentralen gemeinsamen Wertbezug: dem einzelnen menschlichen Subjekt. Sie zählt zuerst und zuletzt. Sie ist am engsten dort, wo Menschenrechte und Christentum notwendigerweise eine andere denn die jeweils aktuelle Wirklichkeit anpeilen. In dieser, wenngleich in der Regel sehr verschiedenen Transzendenz des Status quo treffen sie sich und können sich wechselseitig verstärken.

Wie stark sich Menschenrechte und christliche Orientierungen verbinden, hängt davon ab, wie umfassend man die Menschenrechte konzipiert und wie sehr die christliche Heilserwartung hier und heute herrschaftskritisch praktisch wird.

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Zum zweiten ist das Komitee für Grundrechte und Demokratie personell in erheblichem Ausmaße christlich "durchmischt", ohne deswegen in irgend einer Weise zu einer kirchlichen Nebeninstitution zu werden. Mit den Amtskirchen hat das Komitee nicht mehr oder weniger zu tun als mit anderen etablierten Einrichtungen bundesdeutscher Staats-Gesellschaft. Sie werden deshalb wie andere herrschende Institutionen eher als Quellorte von Problemen und Gegenstände der Kritik wahrgenommen denn als Instanzen der Kooperation. Nicht wenige Komitee-Mitglieder indes sind bis in den Vorstand und Arbeitsausschuß desselben hinein Leute, die sich als Christen und ihr Handeln als Konsequenz ihres Christseins verstehen.

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Zum dritten hat das Komitee für Grundrechte und Demokratie von allem Anfang an wesentlich von der Freundschaft, dem Rat und der Tat von Personen gelebt, die wir - schon um der Wahrheit willen - als "unsere" Befreiungstheologen bezeichnen dürfen und müssen (vgl. auch zu Walter Dirks im Komitee-Jahrbuch 91/92).

Beide, Heinrich Albertz und Helmut Gollwitzer, waren uns in ihrer Eigenart längst bekannt. Sie wurden auf unterschiedlichen Wegen zu Leitpersonen, zu Programmen, verkörpert in der Praxis einer Person. Sie wurden zu Vorbildern, gerade weil und indem sie dazu anhielten, selbst zu denken, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, sich selbst zu riskieren und selbst zu handeln.

Aus der fernen Hochachtung wurde dann bei gemeinsamen Diskussionen und Aktionen im Rahmen der verschiedenen Etappen der Friedensbewegung, im Umkreis der Auseinandersetzung mit dem Deutschen Herbst und seinen Folgen, im Widerstand gegen die Berufsverbote oder anläßlich des Dritten Internationalen Russell-Tribunals über die Menschenrechte in der BRD Freundschaft; begründet nicht nur in der Opposition gegen eine zweite deutsche Republik, die ihrem historischen Auftrag in keiner Weise gerecht wurde. Freundschaft vielmehr in der gemeinsamen Überzeugung dessen, was "dieser Welt" hier und heute nottut.

Die Vorstellung leitete, ohne daß solches hätte ausgesprochen werden müssen, gemeinsam an: Nur in einer radikalen Demokratie auf dem Fundament sozialer Gleichheit, die nichtelitäre Freiheit ermöglicht, haben Menschen die Chance, zu sich selbst, ihrer eigenen werthaft bestimmten, nie selbstverständlichen Menschlichkeit zu gelangen. Diese Vorstellung aber war zugleich verbunden mit dem doppelten Wissen um die knappe Zeit, die hohen humanen Kosten, die anders fortdauernd angenommen werden müßten, und die, teils mehr hoffnungsfroh untermalte, teils pessimistischer eingestimmte, Vergeblichkeit und Mangelhaftigkeit unseres gerade deswegen zum Dauerengagement genötigten Tuns.

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Daß wir beide (Wolf-Dieter Narr, Klaus Vack) uns nicht als Christen verstehen, war für die enge Zusammenarbeit mit den gläubigen Christen Albertz und Gollwitzer ohne Bedeutung. Helmut Gollwitzer schrieb darum einmal einem von uns beiden: Er wisse nicht, wo unsere Differenz "im Letzten" eigentlich bestehe; vor allem aber bezweifle er, daß im "Vorletzten" irgend eine Differenz auszumachen sei. In jedem Falle hätten wir uns alle einträchtig gegen eine Gesellschaft und eine Politik gewandt, die ihre Vorstellung von sich selbst und vor allem eine Vorstellung über sich selbst hinaus verliert. Das macht ihre innere Zukunftslosigkeit aus. Seitdem alle modernen Utopien blutig übersetzt worden sind und sich unvergeßlich blamiert haben, wird uns pseudo-konservativ gerade von selbst blamierten "Linken" vorgehalten, man müsse Menschen und Gesellschaft so nehmen, wie sie einmal "sind" und sich deshalb realpolitisch mit dieser "Wirklichkeit" aussöhnen. Die "Möglichkeitsgesinnten" werden verketzert, obwohl sie doch allein auf die historischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Menschen pochen, entgegen der negativen Utopie einer kapitalistisch verkommenen Weltgesellschaft, die allenfalls die "Antiquiertheit des Menschen" (Günther Anders) und die Obsoleszenz der Menschenrechte perfekt macht.

Mitten zu Zeiten der Berufsverbote formulierte Helmut Gollwitzer darum streitbar: "Ich bin Kommunist", so wie er heute nach dem Ende des "realen Sozialismus" mit uns und anderen formulierte: "Ich bin Utopiker". Darunter ist radikale Herrschaftskritik ebenso zu verstehen wie das Festhalten an der bei Helmut Gollwitzer christlich begründeten, heute schon Zug um Zug zu verwirklichenden Verheißung einer neuen (West-)Gesellschaft (ohne in den Terrorismus abstrakter Utopien zu verfallen, die die Menschen verachtet und Ziele und Instrumente nicht dauernd skrupulös miteinander abgleichen läßt). Die schlimmste aller negativen Utopien steckt in der Annahme, man müsse nur den Status quo ein wenig reformieren, dann sei eine universelle "Verwestlichung" samt Friede, Freude, Eierkuchen nicht mehr aufzuhalten.

Zusammen mit Bischof Kurt Scharf bildeten Heinrich Albertz und Helmut Gollwitzer über zwei Jahrzehnte hinweg so etwas wie eine moralisch-politische Instanz. Dieselbe lebte allein vom Eigengewicht der Personen, die sie ausmachten. Hier trifft der viel mißbrauchte Ausdruck von der Glaubwürdigkeit zu. Diese drei ungleichen und doch zugleich so ähnlichen Männer lebten die Wirksamkeit ihres Wortes. Sie wurden zu selbstbegründeten Repräsentanten in einem wörtlich authentischen Sinne: sie vergegenwärtigten das, was sie versprachen. Sie hielten sich selbst daran.

Voraussetzung dieser engen Freundschaft war ein Gleichklang im Grundsätzlichen. Dieser wurde durch markante Ähnlichkeiten ihrer Generationserfahrung bedingt und verstärkt. Albertz und Gollwitzer waren Pastorensöhne. Beide erfuhren ein konservatives Elternhaus. Beide wurden davon geprägt, daß sie als junge Theologen Teil der Bekennenden Kirche wurden und widerständig, dann auch im Krieg - und Gollwitzer in der Gefangenschaft bis 1949 - durchhielten. Der Versuch totaler Herrschaft durch die Nationalsozialisten - seine unerhörte Konsequenz: die Vernichtung der europäischen Juden -, der Neuanfang nach 1945 und seine fundamentalen Versäumnisse, der Kalte Krieg und seine Freund-Feind-Logik, im gespaltenen Deutschland verstärkt, der "reale Sozialismus", seine Verkehrungen und seine verkümmerten Chancen, die welthistorischen Änderungen durch die absolute Waffe, die Atombombe, und ihr Einsatz in Hiroshima und Nagasaki, diese und andere Faktoren konstituierten Gollwitzers und Albertz’ theologisch-politische Erfahrung und gaben ihrem ureigenen Ausdruck sein spezifisches Relief.

Diese Konstellation und ihre Dynamik, der sich beide verletzlich in mutigem Glauben stellten, erklärt, warum sie sich, jeder einzeln - aber auch in der "Dreierbande" mit Kurt Scharf - als dauernde Mahner und Vorkämpfer friedlicher Lösungen und von deren radikaldemokratischen Voraussetzungen ins Getümmel des Alltags stürzten.

Sie taten dies jedoch immer so - und das macht einen Teil ihrer Ungewöhnlichkeit aus -, daß sie den Abstand des Nachdenkens und des angemessenen moralischen Urteils nie verloren: sie hörten nicht auf zu differenzieren. Und wenn sie in den dunklen und stumpfen Jahren der BRD als "Sympathisanten" aller möglichen angeblichen Horror-Vereine pauschal in einen Verleumdungssumpf geworfen worden waren, verloren sie nie den Kopf. Vielmehr hielten sie immer ihr Herz fest und offen zugleich für diejenigen, die leiden. Alle leidenden Menschen, sogar diejenigen, die "oben wandeln" und zuweilen nicht einmal merken, wie sehr sie leiden (was sie dann anderen gegenüber so hart und unversöhnlich macht).

Gleichklang im Grundsätzlichen. Und doch: Habhafte Unterschiede zwischen den beiden sind nicht zu verkennen. Dieselben kulminierten am 2. Juni 1967, als Benno Ohnesorg vor der Westberliner Oper anläßlich einer Demonstration gegen den Schah von Persien zu Tode kam. Opfer des Todesschusses eines Polizeibeamten namens Kurras. Opfer mehr noch der sogenannten Leberwurststrategie der polizeilichen Führung. Opfer vor allem einer etablierten Politik und einer Springer-Publizistik, die alle Äußerungen zu unterdrücken suchten, die nicht ins herrschende, repräsentativ-absolutistische und vom Eis des Kalten Krieges zugefrorene Kanalsystem paßten.

Helmut Gollwitzer hier auf der Seite der Studenten und der Demonstrierenden. Er hat dann Benno Ohnesorg beerdigt. Albertz dort, der Regierende Bürgermeister und Schah-Opern-Begleiter, der noch in der Nacht zum 3. Juni das polizeiliche Verhalten pauschal gerechtfertigt hat.

Und doch: Sieht man genauer hin, dann einte diese beiden Männer schon mitten im Getümmel des folgenreichen 2. Juni weit mehr, als sie trennte. Gewiß: Hier der Theologieprofessor, der während der Studentenbewegung als einer der wenigen Hochschullehrer der Freien Universität seinem Amt und seinem Titel zur Ehre gereichte. Politisch unerschrocken und dauernd sich einmischend. Indes ohne politisches Amt. Dort der einfache Pastor, der schon 1947 zum niedersächsischen Flüchtlingsminister im Kabinett Hinrich Kopf geworden war und seither politische Karriere zu seinem Amt erhoben hatte. Er konnte gar nicht anders, als auch taktisch handeln. Vor allem: Er konnte im Unterschied zum freien Professor gar nicht anders, als mit Hilfe seines politischen Apparats und als ein kaum immer voll informierter Repräsentant seines Apparats als schiebender Geschobener als-ob-zu-handeln. Das ist es nun einmal, was etablierte Politik aus- und was sie so garstig, so männer- und frauenverbrauchend macht.

Der Einwand folgt indes rasch erneut auf dem Fuß, untersucht man, wie Albertz, der Politik als Beruf gewählt hatte, seinen Wahlberuf ausfüllte, seit seinen Zeiten als Flüchtlingsminister der ersten Nachkriegszeit. Albertz’ Antwort auf die "Große Anfrage der CDU" am 15.9.1967, kurz vor seinem nicht durch den 2. Juni bewirkten Rücktritt, steht mutmaßlich einsam da in der Geschichte neuerer deutscher Politik. Hier sieht jemand ein, der noch im Amt ist. Er nimmt Gustav Heinemanns Osterworte vorweg, 1968 nach dem Attentat auf Rudi Dutschke als Justizminister gesprochen, daß von der Hand, deren Zeigefinger dürr und anklagend gestreckt auf andere Täter weise, immer drei Finger auf einen selbst zurückneigten.

Darum sei dieses politische Dokument, ein seltenes document humaine, hier unverkürzt eingeblendet: "15. September 1967, Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU über die `Innere Sicherheit’ Berlins in der 10. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin:

’(…) Und nun lassen Sie mich noch eine ganz persönliche Bemerkung machen: Der tiefste Punkt der Kritik, die Herr Amrehn hier vorgetragen hat, zielt auf den führungslosen Senat und auf die Forderung nach mehr Härte und Entschiedenheit. Diese Kritik läuft durch die Stadt und quer durch die Parteien. Jede Woche wird mir von Ihrem freundlichen Herausgeber eine bezirkliche Wochenzeitschrift zugeschickt, die nun schon über mehrere Nummern in Form von Einschüben in allen möglichen Artikeln zu den verschiedensten Themen die Aufforderung abdruckt: Heinrich Albertz werde hart. Auch Sie, Herr Amrehn, haben das in Ihren Worten gesagt.

Ich kann Ihnen und allen anderen, die so argumentieren, nur dies antworten: Ich bin sehr hart geworden in diesen Monaten, zuerst gegen mich selbst, um das durchzuhalten, was in dieser Stadt und in dieser Lage auf den Regierenden Bürgermeister zukommt. Aber ich habe auch gelernt, wie fragwürdig die pauschale Forderung sein kann, in Entscheidungslagen, wo nicht Härte oder Weichheit das Problem ist, sondern das Richtige oder das Falsche zu tun. An mir selbst dargestellt: ich war am schwächsten, als ich am härtesten war, in jener Nacht des 2. Juni, weil ich objektiv das Falsche tat.

Wer in dieser Stadt nicht differenzieren und unterscheiden kann, wird zwar eine Weile populär sein, aber er wird scheitern. Mut ist keine Sache spektakulärer Maßnahmen. Mut ist in erster Linie, das zu tun, was man als richtig erkannt hat, auch wenn es nicht allen gefällt. Und Mut ist schließlich, eigene Fehler zu erkennen und nicht nur über die vermeintlichen Fehler der anderen zu reden. Ich hätte zum Beispiel gern von Ihnen, Herr Amrehn, wenigstens einige Worte darüber gehört, wie vielleicht auch Ihre eigene Politik der letzten Jahre in den Zustand geführt hat, in dem wir uns heute befinden. Ich habe meine Meinung vorgetragen. Ich stehe zu ihr. Und nun wollen wir, wie es sich in einem Parlament gehört, diskutieren. (…)’"

Albertz mußte also keine Kehrtwendung vornehmen, als er vom Amt ins Amt schied. Als er wieder "einfacher" hochpolitischer Pastor wurde. Als seine dritte Karriere begann.

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Gleichklang im Grundsätzlichen. Unterschiede bleiben und blieben bis zum Schluß. Sie sind auch den Nach-Lesenden, den Nach-Erfahrenden, den Nach-Fühlenden einsichtig. Heinrich Albertz war der trotz allem Eingebundenere, zuweilen taktischer Denkende. Er war reformerisch vorsichtiger. Er kannte die Institutionen und ihre Vertreter. Helmut Gollwitzer hingegen übertraf ihn an ungeschützter Radikalität. Auch theologische Differenzen lassen sich erkennen.

An erster Stelle steht ihr Christ-Sein, das täglich Zeugnis ablegt. Helmut Gollwitzer und Heinrich Albertz könnten als "Fundamentalisten" bezeichnet werden, weil sie die Bibel - und zwar Altes und Neues Testament - in ihrem Geist unverkürzt und unverwässert ernst nahmen. Sie legten sie nicht aus wie ein Märchen irgendwelcher im vormenschlichen Paradies oder in einem nicht greifbaren Jenseits verdämmerter Ur-Zeiten.

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Heinrich Albertz und Helmut Gollwitzer waren politische Theologen und theologisch getriebene Politiker. Politische Theologen und theologisch getriebene Politiker aber waren sie nicht in dem Sinne, daß sie fortdauernd "gefrömmelt" hätten oder irdische Fragen nicht an sich selber hätten begreifen können. Vielmehr betrieben sie dauernd, bescheiden und selbstbewußt, Politik und Theologie, betrieben sie beide allgemein, prinzipiell allen Menschen geltende Ämter in der ersten Person. Sie mischten sich ein. Sie ließen sich selbst nicht aus. Sie riskierten sich. Und gerade darum haben sie andere so ansprechen, andere so mitreißen, sich um andere so sehr, ja noch mehr als um sich selbst kümmern können. Sie gehörten darob zum Salz der Erde.

Diese beiden, Helmut Gollwitzer und Heinrich Albertz, sie fehlen jeden Tag und jede Stunde. "Unsere" Befreiungstheologen, die selbst die besten Praktiker der Befreiung gewesen sind. Sie haben dieselbe oft in finsteren Zeiten vorgelebt. Welch ein Energiebündel, dieser Helmut Gollwitzer, welch ein "Unruhestand" bis ins hohe Alter bei Heinrich Albertz. Uns bleibt das unverdorbene Erbe, fast nur goldenes Metall bei beiden. Das rarste in diesem "Jahrhundert des Verrats". Uns bleibt der unablässige große Dank, daß sie waren, wie sie waren. Allein das schon ist über die Maßen tröstlich. Und daß sie uns hoffen ließen, in Wort und Tat zu belegen, solange wir’s, selbst die Fackel mit kleineren Händen weitertragend, vermögen, daß radikaldemokratische menschenrechtliche Politik die einzig lohnende Aufgabe bleibt.

Quelle:  Komitee für Grundrechte und Demokratie - Jahrbuch ‘93/94, S. 105ff.

Veröffentlicht am

17. Oktober 2013

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