Ullrich Hahn: “Statt Gewalt: Gerechtigkeit”Eine autobiographische Zwischenbilanz als Vortrag bei der Tagung des Lebenshauses Schwäbische Alb "’We shall overcome!’. Gewaltfrei für die Vision einer Welt ohne Gewalt und Unrecht. Drei biographische Zugänge" am 19.10.2013 in GammertingenVon Ullrich Hahn A. Herkunft und EntscheidungGeboren wurde ich 1950 in Oldenburg; seit meinem zweiten Lebensjahr lebe ich bis heute in Villingen. Meine Eltern waren Vertriebene aus Schlesien. Ich war ihr viertes und letztes Kind. Zwei Geschwister waren bereits als Kleinkinder gestorben, eines noch vor dem Krieg, das andere auf der Flucht. Heute lebt noch meine etwa 9 Jahre ältere Schwester. Mein Vater kam schwerkriegsbeschädigt aus dem Krieg zurück. Auf dem Monte Casino in Italien war er verschüttet und hatte u.a. ein Bein verloren. Ich habe ihn seit frühester Kindheit als Frührentner erlebt. Möglicherweise auch wegen dieses damals noch unbearbeiteten Kriegstraumas war er alkoholkrank mit langen trockenen Phasen, aber zwischendurch auch sehr heftigen Rückfällen in die Sucht. Seine Überzeugung als Nationalsozialist hat er bis zu seinem Tod, als ich 19 Jahre alt war, nicht geändert. Mein Abitur habe ich 1968 abgelegt. Unser kleinstädtisches Gymnasium war damals noch unberührt von der Studentenbewegung. Ein guter Teil unserer Lehrer waren - vorsichtig gesagt - deutschnational geprägt. Die Einflüsse aus dem Elternhaus und der Schule waren maßgeblicher Grund für meine freiwillige Meldung und Verpflichtung beim Bundesgrenzschutz. 18 Monate habe ich in der Grenzschutzkaserne Coburg und im Streifendienst an der damaligen "Zonengrenze" verbracht. Unsere kasernierte Polizeitruppe war mit Kriegswaffen ausgerüstet. Entsprechend war unsere Ausbildung militärisch. Ich habe in meiner eigenen Person erlebt, wie die Waffe mein Fühlen und Denken beeinflusst hat. Meine Stärke bezog ich nicht aus meiner Persönlichkeit, sondern von der Waffe. Im Konfliktfall hätte ich nicht an zivile Lösungsmöglichkeiten, sondern immer zuerst an sie gedacht. Trotzdem bot mir die räumliche Distanz zu Elternhaus und Schule die Möglichkeit, mich mit neuen Gedanken zu beschäftigen. Ich las viel, neben Bert Brecht und Heinrich Böll auch das ganze Neue Testament. Da ich keine spezifisch christliche Erziehung genossen hatte, konnte ich den Inhalt der Botschaft Jesu unvoreingenommen aufnehmen. Ich hatte kein "Glaubenserlebnis" dabei und auch keinen Kontakt zu christlichen Gruppen, sondern empfand das Gelesene als zutiefst vernünftig und nachvollziehbar. Noch in der Kaserne bildete sich meine für mich noch heute gültige Überzeugung aus. Mit der Kündigung meiner Dienstverpflichtung beim Grenzschutz wollte ich einen neuen Weg einschlagen. B. Konsequenzen1. Glaube und KircheSeit der ersten Begegnung mit dem Neuen Testament in der Kaserne war mir die Bibel, die ich ganz gelesen habe, Richtschnur für viele spätere Entscheidungen. Dabei war sie mir nie "heilige Schrift". Ich musste und muss meinen Verstand bei ihrer Lektüre nie ausschalten. Es ist immer noch meine eigene Entscheidung, was ich in der Schrift als gut und für mich verbindlich erkenne und was ich stehen lasse, weil ich es entweder nicht verstehe oder als Irrtümer der menschlichen Verfasser ansehe. Ich habe später bei Immanuel Kant, Leo Tolstoi und selbst bei Meister Eckhart die gleiche vernunftgemäße Herangehensweise an die Bibel kennengelernt. Im Zentrum stehen für mich bis heute das Leben und die Lehre Jesu und die Tradition der prophetischen Schriften, auf die sich Jesus mehrfach bezieht. Wenige Tage nach dem Ende meiner Dienstzeit begann ich in Freiburg zu studieren und beteiligte mich vom ersten Tag am vielfältigen Gemeindeleben der evangelischen Studentengemeinde (ESG). Ein ganzes Semester kam ich regelmäßig zu den Gottesdiensten und Gemeindeabenden, ohne dass ich aufgrund meiner Schüchternheit wagte, andere anzusprechen. Irgendwie muss ich dann doch aufgefallen sein, so dass ich ab dem zweiten Semester bis zum Ende meines Studiums in der Gemeindeleitung mitgewirkt habe. Da mir die Gemeindearbeit in der ESG noch zu unverbindlich schien, habe ich mich dann zusätzlich in meiner Heimatgemeinde in Villingen 1971 als "Kirchenältester" wählen lassen und habe seither bis heute 42 Jahre in kirchlichen Gremien der badischen Landeskirche von der Ortsgemeinde bis zur Landessynode mitgewirkt, darunter auch 33 Jahre lang als Prädikant, d. h. Laienprediger in den Gemeinden unseres Bezirks. Unter Kirche verstehe ich die Ecclesia, die Versammlung der Glaubenden, "Wo zwei oder drei im Namen Jesu zusammenkommen" - Simone Weil setzt hinzu: "Jesus spricht nicht von 200 oder 300, auch nicht von 20 oder 30, sondern von zwei oder drei". Ebenso wie Kant in seiner Religionsschrift glaube ich, dass das Volk Gottes die Grenzen der Kirchen weit überschreitet. Dazu gehören auch die, die von Gott nichts wissen oder wissen wollen, aber "den Willen des Vaters tun", d. h. sich um das Wohl und Wehe der Geringsten der Menschen kümmern. Meine eigene Gottesvorstellung habe ich vielleicht am deutlichsten in den Schriften und Predigten Meister Eckharts wiedergefunden, ausgedrückt durch eine Liebe ohne jede Bedingung, auch nicht die Bedingung des Glaubens, die sich auf die ganze Menschheit bezieht, auf Gute und Böse, über die allen gemeinsam die Sonne scheint und der Regen fällt. Für meine Mitwirkung in der Kirche lehne ich den Begriff "ehrenamtlich" ab. Ich bin der Kirche im oben genannten Sinne genauso selbstverständlich zugehörig, wie meiner Familie; auch bezüglich meiner Vaterrolle käme ich nicht auf die Idee, von einem Ehrenamt zu sprechen. Die 43 Jahre meiner bewussten Zugehörigkeit zur Volkskirche waren natürlich mit vielen Enttäuschungen verbunden. Ich wünschte, die badische Landeskirche wäre eine Friedenskirche ohne "wenn" und "aber", abhängig von der Mitverantwortung der Gemeindeglieder und nicht vom Bestand ihrer Geldrücklagen. Trotzdem stehe ich zur geistigen Weite dieser Kirche; ihre Unvollkommenheit ist oft nur Ausdruck und Spiegelbild der Unvollkommenheit ihrer Glieder, mich eingeschlossen. 2. Recht als BerufNoch in der Kaserne entschloss ich mich, Jura zu studieren. Ich sah es durch die Botschaft Jesu als Berufung an, Menschen beizustehen in ihrer Suche nach dem Recht. Während meines Studiums in Freiburg habe ich mich dabei nicht nur mit den geltenden Gesetzen beschäftigt, sondern auch mit Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Rechtsphilosophie. Wichtige Autoren und Vorbilder waren mir Gustav Radbruch, Konrad Hesse und Gustav Heinemann. Die braune Prägung vieler Professoren habe ich leider erst lange nach meinem Studium wahrgenommen und verstanden. Nachdem der Dienst im Staat oder auch in der Justiz mit meiner Überzeugung nicht zu vereinbaren war, wurde ich Rechtsanwalt. Den hierfür vorgeschriebenen Eid auf die Verfassung und Rechtsordnung habe ich abgelehnt und dem Justizministerium auch mitgeteilt, dass ich meinem Glauben und Gewissen immer mehr folgen werde als dem staatlichen Gesetz. Ich erhielt dann zunächst keine Zulassung als Anwalt; erst nach einer Entscheidung des von mir angerufenen Bundesverfassungsgerichts konnte ich auch ohne den in der Bergpredigt verworfenen Eid meinen Beruf aufnehmen. Ich war mir damals schon klar darüber, dass ich in diesem Beruf auch Kompromisse mit meiner Überzeugung schließen müsse; ich wollte aber nicht mit einem Kompromiss beginnen. Die Berufswahl habe ich bis heute nicht bereut. Die Berufsethik als Rechtsanwalt entspricht meiner Vorstellung von der Botschaft Jesu: Es geht um die (einseitige) Fürsprache für Menschen, um die Wahrheit dessen, was ich vortrage, und um die Schweigepflicht bezüglich aller Informationen, die ein Mandant oder Mandantin nur mir anvertrauen will. Meine Vorstellung vom Recht hat nichts mit Zwang und Gewalt zu tun. Ein starkes Recht gründet sich immer auf der Einsicht in seinen Inhalt. Einsicht gewinnen wir aber nicht durch Zwang, sondern durch die eigene Überzeugung von der Wahrheit. Schwerpunkte meiner anwaltlichen Tätigkeit war über lange Jahre die Begleitung von Kriegsdienstverweigerern und die Verteidigung von Totalverweigerern, aber auch fast seit Beginn an die Vertretung von Asylbewerbern und Ausländern sowie die Strafverteidigung. Politisch und vor Gericht trete ich gegen jede Strafe ein, die ich als Gewalt erlebe. Auch Menschen, die schuldig geworden sind, benötigen Hilfe bei der Bewältigung des eventuell angerichteten Unrechts und auf ihrem weiteren Lebensweg, aber keine Strafe. Im Verlauf meines Berufsalltags habe ich vielfältige Formen von zivilem Ungehorsam und gewaltfreien Aktionen vor den Gerichten verteidigt, aber natürlich auch Menschen, die sich an anderen Menschen schuldig gemacht haben. Zu meinem Einkommen als Anwalt habe ich mich an dem früheren Anwaltskollegen Gandhi orientiert, der gemeint hat, als guter Anwalt solle man nicht mehr aber auch nicht weniger verdienen als ein Zimmermann. Bis heute berate ich viele meiner Mandanten kostenlos, Asylbewerber, Empfänger von Hartz IV und Menschen, die sich unentgeltlich für andere und gemeinnützige Vereine einsetzen. 3. Gewaltverzicht und GerechtigkeitNach meinem Austritt aus dem Bundesgrenzschutz habe ich noch als Reservist den Kriegsdienst verweigert. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Verweigerung keine unmittelbar praktische Bedeutung mehr; durch die Anrechnung meiner Zeit beim Grenzschutz wurde ich ohnehin nicht mehr zum Wehrdienst eingezogen. Für mein Verständnis war und ist die Kriegsdienstverweigerung eine Lebensentscheidung zum Gewaltverzicht. Es geht dabei auch nicht um eine irgendwie geartete Alternative (etwa den Zivildienst als Ersatz für den Militärdienst), sondern schlicht darum, die Beteiligung an Unrecht zu unterlassen. Der "Gewaltverzicht" bringt für mich mehrere Zusammenhänge zum Ausdruck:
Die Kriegsdienstverweigerung hat mich bereits 1973 in den Versöhnungsbund geführt. Für mich war auf der ersten Jahrestagung die Vielfalt der Generationen beeindruckend. Während mir sonst als jungem Kriegsdienstverweigerer oft vorgehalten wurde, ich würde schon noch älter und damit vernünftiger werden, traf ich im Versöhnungsbund alte Menschen (z. B. noch Martin Niemöller mit über 90 Jahren), die noch immer und je älter desto mehr Gewalt in allen ihren Formen ablehnten und nach Wegen gewaltfreien Handelns und Lebens suchten. Seit 1996 gehöre ich dem Vorstand des deutschen Zweiges des Internationalen Versöhnungsbundes an, zunächst 14 Jahre als Vorsitzender, seither als Präsident. In der Tradition gewaltfreier Vorbilder (insbesondere Gandhi) entfaltet sich der Gewaltverzicht in vier Facetten:
Was hat mich zu dieser Haltung geprägt? Wie Tolstoi nehme ich an, dass die moralische Erziehung unbewusst durch das Vorbild anderer Menschen erfolgt. Erst für die Zeit nach meiner "Wende" in der Grenzschutzkaserne sind mir solche Vorbilder bewusst, zuvor sind es wohl viele Menschen gewesen, die von mir unbewusst meine eigene Entwicklung geprägt haben. Bewusst beeindruckt haben mich neben der Person Jesu Leo Tolstoi, Gandhi, Gustav Landauer, Hanna Arendt, Immanuel Kant, Simone Weil und Meister Eckhart. C. Meine Familie in der GegenwartIch habe mit 35 Jahren geheiratet. Ein halbes Jahr vor meinem 60.Geburtstag hat sich meine Ehefrau von mir getrennt; vor zwei Jahren erfolgte dann die Scheidung. Persönlich machte mir diese Trennung sehr zu schaffen. 2011 lernte ich meine neue Lebenspartnerin Eva kennen. Der Schmerz über die Vergangenheit wird überlagert durch die Freude an der neuen Liebe. Das eine hebt das andere aber nicht auf. In der Ehe sind vier Kinder geboren, die heute zwischen 17 und 26 Jahre alt sind. Die drei älteren sind bereits friedenspolitisch aktiv, auch im Versöhnungsbund, und trotzdem gehen sie ihre ganz eigenen Wege in der Ernährung, im Gebrauch der Medien, in der Art und den Schwerpunkten ihrer eigenen Friedensarbeit. In manchen ihrer Verhaltensweisen sind sie weiter, als ich es in diesem Alter war oder sogar heute noch bin. Ihr Leben und das, was sie stellvertretend für ihre neue Generation leben, gibt mir Hoffnung für die Zukunft. Das Licht der kleinen Gruppen, das die Finsternis der Zukunftsprognosen erhellt, wird nicht verlöschen. Ullrich Hahn, Jg. 1950, ist Rechtsanwalt in Villingen-Schwenningen mit dem Schwerpunkt Ausländer- und Asylrecht. Er hat 1972 - als Reservist - den Kriegsdienst verweigert und lehnt seither Militär in all seinen Erscheinungsformen grundsätzlich ab; ab 1973 war er kirchlicher Beistand für Kriegsdienstverweigerer und hat als Strafverteidiger einer Vielzahl von Totalverweigerern beigestanden. Über viele Jahrzehnte war er in verschiedenen Gremien der evang. Landeskirche Baden tätig. Weil ihm kleine Initiativen und Projekte wichtig sind, in denen Menschen ein herrschaftsfreies, gerechtes Zusammenleben einüben, war er u.a. an der Gründung des Lebenshauses und des "Nudelhauses" in Trossingen beteiligt. Engagiert ist er außerdem u.a. beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes, dessen Präsident er seit 2010 ist, nachdem er zuvor 14 Jahre lang dessen Vorsitzender war.
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