Uri Avnery: Eine GegenkoalitionVon Uri Avnery ETWAS SEHR Wichtiges hat sich in dieser Woche ereignet, und zwar an einem für etwas Wichtiges äußerst unwahrscheinlichen Ort: in der Knesset. Auf der Tagesordnung standen drei Gesetze, eins immer schlimmer als das andere. In einem ging es um "Führung". Seine Hauptbestimmung betrifft die Anhebung des "Sperrprozentsatzes" - das ist das Minimum, das eine Wahlliste braucht, um in die Knesset zu kommen - von 2 auf 3,25 Prozent. Offensichtlich ist es die Absicht, die drei Listen auszuschließen, die ihre Stimmen aus dem arabischen Sektor bekommen und die ungefähr diese Größenordnung haben. Im zweiten Gesetz geht es darum, "die Lasten gleichmäßig zu verteilen". Sein erklärtes Ziel ist es, Tausende orthodoxer junger Leute zum Dienst in der Armee zu zwingen, von dem sie jetzt befreit sind. In der Praxis befreit es sie für weitere vier Jahre. Israelis nennen das "Israbluff". Im dritten Gesetz geht es um Frieden oder um sein Nichtvorhandensein. Es besagt, dass jede Vereinbarung, durch die ein Gebiet aufgegeben wird, das zurzeit von Israel kontrolliert wird, durch ein Referendum bestätigt werden muss. Dieses Gesetz wäre auf jeden Gebietstausch anzuwenden, ganz gleich, wie klein er ist. Worin besteht der Zusammenhang zwischen den drei Gesetzen? Es gibt überhaupt keinen, außer dass sie auf Papier gedruckt sind. Jedoch wird jedes Gesetz von wenigstens einer der sechs Parteien, die die Regierung unterstützen, nicht gemocht. Das könnte die Annahme unmöglich machen. Damit sie alle angenommen werden, hat die Regierungskoalition eine drakonische Maßnahme über ihre Mitglieder verhängt: Sie müssen für alle drei Gesetze auf einmal abstimmen, eins nach dem anderen. So etwas hat es bisher noch nie gegeben. Es ist ein weiteres Symptom der schleichend zunehmdenden Grobheit der Rechten, die ein Zeichen dieser Knesset ist. ZUR SELBSTVERTEIDIGUNG haben die Oppositionsparteien etwas getan, das auch bisher in Israel noch nicht vorgekommen ist: Sie haben dem Knesset-Plenum den Boykott erklärt. Kein einziger Abgeordneter der Opposition war während der Debatte und der Abstimmung über diese Gesetze im Plenum. Sie errichteten ein "alternatives Plenum", in dem sie lebhafte debattierten. Die Opposition besteht aus unterschiedlichen Elementen, die gewöhnlich nicht zusammenarbeiten: Es gibt die linken zionistischen Parteien Arbeitspartei und Meretz. Es gibt zwei orthodox-religiöse Parteien: die thora-jüdische Partei (die aus zwei getrennten Parteien besteht) und die orientalisch-orthodoxe Partei Schas. Und es gibt drei arabische Parteien: die nationalistische Balad-Partei, die gemäßigte islamische Partei und die kommunistische Partei, die auch einen geringen Anteil an jüdischen Mitgliedern hat. Diese unterschiedlichen politischen Gruppierungen sind zusammengekommen, um ihre Entrüstung über die diktatorischen Maßnahmen der Rechten auszudrücken. Ihr noch nie da gewesener Boykott der Knesset-Abstimmung betont den Ernst der Parlaments-Krise. Allerdings verhindert er nicht die Annahme der Gesetze. Die Aufregung der Medien über die Krise überdeckte jedoch einen viel ernsteren Aspekt, einen Aspekt, der die Zukunft Israels grundlegend beeinflussen kann. DIE DREI israelischen Fernsehsender widmen dem, was im Knesset-Plenum geschehen ist, nur wenige Minuten und konzentrieren sich auf die sehr viel interessanteren Ereignisse im Gegenplenum. Zum Beispiel zeigten sie, wie der Kopf des Schas-Führers Ariyeh Deri den Kopf eines bedeutenden Abgeordneten der Arbeitspartei berührte. Das war mehr als eine brüderliche Geste. Es war eine politische Aussage. Vom ersten Tag des Staates Israel an wurde das Land 29 Jahre in Folge von der Arbeitspartei in enger Zusammenarbeit mit den religiösen jüdischen Parteien regiert. (Davor hatte dieselbe Koalition seit 1933 die jüdische Gemeinschaft in Palästina "regiert".) Die historische Kehrtwende 1977, die den Likud an die Macht brachte, fand statt, als die religiösen Parteien der Arbeitspartei den Rücken kehrten und sich der neuen rechten Koalition von Menachem Begin anschlossen. Das war mehr als nur ein politisches Manöver. Es war ein bahnbrechendes Ereignis, das die politische Landschaft Israels veränderte. Seitdem regiert die rechts-religiöse Koalition Israel (mit kurzen Unterbrechungen). Sie schien unerschütterlich zu sein und sie verurteilte Israel zu einer düsteren Zukunft von Apartheid, Besetzung und Siedlungen. Das schien ganz natürlich. Die jüdische Religion versichert, dass Gott persönlich den Israeliten das ganze Heilige Land versprochen habe. Die religiösen Schulen lehren vollständig judeo-zentrierte Anschauungen und ignorieren die Rechte anderer. Die Menschen, die bei einer derartigen Erziehung herauskommen, sind wohl die natürlichen Verbündeten der Anhänger der Likud-Ideologie vom Gesamt-Eretz-Israel. Die Ereignisse dieser Woche zeigen, dass das nicht unbedingt so sein muss. Die orthodoxen Antizionisten können den säkularen Zionisten die Hand reichen und - es ist kaum zu glauben - auch den Arabern. Das bringt die grundlegende Spaltung zwischen den Orthodoxen, deren Judentum die alte Religion des Schtetls ist, und den zionistisch- "nationalistisch Religiösen", deren Judentum eine Stammesmischung aus Blut und Erde ist, ins Blickfeld. Für die Orthodoxen ist das Judentum nicht der Feind des Friedens. Im Gegenteil, Schalom und die gute Behandlung von Fremdlingen sind Gottesgebote. Wenn diese dreiseitige säkular-orthodoxe-arabische Idylle hält, dann ist sie vielleicht der Vorbote einer neuen politischen Kehrtwende, des Endes des Zeitabschnitts, der 1977 anfing. UM ZU VERSTEHEN, was gerade geschieht, muss man die Bedeutsamkeit des Verstehens verstehen. Des Verstehens des anderen. Die orthodoxe Gemeinde ist ein eigenständiger Bereich Israels, ähnlich eigenständig wie der arabische Bereich und vielleicht noch eigenständiger. Sie sind fast in allem anders als die Israelis der Hauptströmung: in ihren kulturellen Anschauungen, ihrer historischen Orientierung, ihrer Sprache (viele sprechen Jiddisch), in ihrer Kleidung und sogar in ihrer Körpersprache. Sie entsprechen ungefähr den Amischen in den USA, allerdings machen sie 15% der Bevölkerung aus. Die gegenwärtige Krise wird nicht von der Abneigung der Orthodoxen gegen die Armee und die ganze zionistische Ideologie verursacht. Die Ursachen liegen viel tiefer. Ihr Hauptziel ist das Überleben in einer zunehmend feindlichen Welt. Sie müssen ihre Söhne und Töchter von der Geburt bis zum Tod vollkommen kontrollieren und dürfen ihnen nicht gestatten, in irgendeinem Lebensalter mit den Nichtorthodoxen in Berührung zu kommen. Deshalb können sie ihnen nicht erlauben, in normale Schulen zu gehen, in die Armee einzutreten, an normalen Arbeitsstätten zu arbeiten und in säkularen Vierteln zu wohnen. Sie dürfen in nicht orthodoxer Gesellschaft nicht essen und auch nicht - Gott bewahre!!! - säkulare Angehörige des anderen Geschlechts kennenlernen. Vollkommene Isolierung ist ihr Überlebensrezept. Israelische Rechte sind bei ihren auf sich selbst konzentrierten Anschauungen ziemlich unfähig, das zu verstehen, ebenso wie sie unfähig sind, das Gemüt der arabischen Bürger zu verstehen. Was auch zum Teufel! Warum sollte eine israelische jüdische Mutter schlaflose Nächte mit der Sorge um ihren Sohn, der Soldat ist, verbringen, während diese Drückeberger ihr Leben genießen? Für einen orthodoxen jungen Mann ist es natürlich ebenso undenkbar, dass er aufhört den Talmud zu studieren, wie es für einen arabischen jungen Mann undenkbar ist, auf seine palästinensischen Brüder zu schießen. Die Armeechefs wollen übrigens weder die einen noch die anderen. Sie schaudern bei dem Gedanken, arabische junge Männer - außer ein paar beduinischen Söldnern - auszubilden und ihnen Waffen in die Hand zu geben. Sie schaudern bei dem Gedanken, Tausende Orthodoxer aufzunehmen. Sie würden getrennte Lager brauchen, damit sie nicht einmal in Augenkontakt mit Mädchen kämen. Ganz zu schweigen von ihrem Bedarf an Synagogen, rituellen Bädern, besonders koscherer Ernährung und ihren eigenen Rabbinern, die jeden Befehl eines gewöhnlichen Offiziers widerrufen könnten. Allerdings wird das kein Armee-Offizier offen zugeben. Das verbietet die alte zionistische Vision. Unsere Armee ist eine Bürgerarmee. Jeder dient in ihr ohne Diskriminierung; Gleichheit bei der Verteidigung des Vaterlandes ist heilig. Deswegen gibt es seit Jahrzehnten verwickelte Rechts-Tricks der Selbsttäuschung. Jetzt muss das Land dem ins Auge sehen. Meiner Ansicht nach sollten wir der Realität ins Auge sehen: Die Orthodoxen (und die arabischen Bürger) sind besondere Minderheiten, die einen besonderen Status brauchen. Die gegenwärtige tatsächliche Situation sollte ohne alle Tricks legalisiert werden. Die Orthodoxen (und die Araber) sollten offiziell vom Wehrdienst ausgenommen werden. Vielleicht sollte unsere Armee den westlichen Vorbildern folgen und eine Berufs-Freiwilligen-Armee werden. ABER DAS ist ein Nebenpunkt. Die Hauptfragen sind die folgenden: Kann die alte Allianz zwischen der Linken und den Orthodoxen erneuert werden? Kann es eine grundlegende Veränderung in der Verteilung der politischen Kräfte geben? Kann die Koalition des rechten und des "nationalistisch-religiösen" messianischen Lagers, darunter seine faschistischen Ränder, wieder zu einer politischen Minderheit werden? Kann eine Gegenkoalition der Linken und der Orthodoxen (ja, mit den arabischen Bürgern) an die Macht kommen? Es ist nicht unmöglich, man muss allerdings Optimist sein, um es zu glauben. Man muss ja ohnehin Optimist sein, um an irgendetwas Gutes zu glauben. Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler Weblinks: Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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