Uri Avnery: FahnenwechselVon Uri Avnery NEUSEELAND HAT beschlossen, seine Fahne zu wechseln. Das wurde in den Medien hier nur kurz erwähnt. Aber es ist für uns ein wichtiges Vorbild. Die alte Fahne gründete sich auf die britische, den Union Jack, der die Vereinigung von England, Schottland und Irland bezeichnet. Die drei verschiedenen Kreuze sind zu einem verschachtelten Muster zusammengefügt. Welche Bedeutung aber hat diese Fahne für die heutigen Neuseeländer? Eine sehr geringe. Sicherlich, sie stehen dem Vereinigten Königreich und der angelsächsischen Kultur nahe, aber sie sind eine neue Nation, eine eigenständige Nation mit einer eigenständigen Geschichte, eigenständiger geo-politischer Orientierung und eigenständigem Nationalcharakter. Eine Nationalflagge sollte alle Bürger eines Landes vereinen, sie sollte ihre Loyalität wachrufen und ihren Patriotismus stärken. Ganz gewiss sollte sie keinen bedeutenden Anteil der Bevölkerung übergehen. Deshalb hat die Regierung des Inselstaates im Süden beschlossen, die Fahne, die nur einem Teil der Bevölkerung etwas bedeutet, auszumustern und eine neue anzunehmen, die für alle eine Bedeutung haben wird. Ein Wettbewerb für eine neue Gestaltung ist ausgeschrieben. Darin folgt Neuseeland mit etwas Verspätung dem Beispiel Kanadas, das auch einmal ein britisches "dominion" war. Kanada hat eine ähnliche Fahne ausgemustert und eine neue angenommen. Damit hat das Land einen klugen Versuch unternommen, ein Symbol zu schaffen, das sowohl bei den englischsprachigen als auch bei den französischsprachigen Kanadiern ebenso wie bei den Inuit und anderen Ureinwohnern Anklang findet. DAS PROBLEM mit unserer Fahne ist weitgehend dasselbe. Sie wurde auf einem der ersten zionistischen Weltkongresse angenommen und hat den jüdischen Gebetsschal und den alten Davidstern zur Grundlage. Die Fahne wurde für eine weltweite politische Bewegung entworfen, deren Ziel es war, ein sicheres Heimatland für das jüdische Volk zu schaffen. ["Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen." Basler Programm 29.-31. August 1897] Bei der Gründung Israels wurde sie zur Nationalflagge. Heute dient sie als Staatsflagge, Flagge der internationalen zionistischen Bewegung und nach Meinung einiger als Flagge aller Juden. Die Flagge aller Bürger Israels ist sie jedoch nicht. Für die arabischen Bürger bedeutet sie nichts als Diskriminierung und Ausschluss. Sie erinnert sie überall und immer daran, dass sie bestenfalls Bürger zweiter Klasse sind; sie sind zwar vorhanden, gehören aber nicht wirklich dazu. Vom ersten Tag des Staates an war ich dafür, dass wir eine neue, alle einschließende Fahne annehmen sollten. Wie die heutigen Neuseeländer empfand ich, dass wir Israelis bei allem nötigen Respekt für Herkunft, Geschichte und kulturellen Hintergrund doch in einer anderen Realität lebten. Viele unserer Mitbürger sind keine Juden und das sollte sich in den Symbolen unseres Staates widerspiegeln. Offen gesagt, denke ich auch nicht, dass es eine sehr gute Fahne ist. Fahnen sollte man aus der Entfernung sehen können. Ursprünglich wurden sie dazu benutze, den Ort des Königs in einer Schlacht anzuzeigen, damit die Soldaten wüssten, wo ihr Befehlshaber war. Eine Fahne sollte ins Auge fallen. Die Farben unserer Fahne - weiß und hellblau - sind schön, aber unwirksam. Gegen den Hintergrund des blauen Himmels mit den weißen Wolken verschwindet sie fast. Wenn man ein Dutzend weiß-blauer Fahnen und eine einzige rote Fahne zusammen aufrichtet, dann werden sich die Augen aller auf die rote richten. DAS HAUPTARGUMENT gegen die Fahne ist jedoch weniger ein ästhetisches als ein politisches. Lange bevor Benjamin Netanjahu mit dem Trick herauskam zu fordern, dass die Palästinenser Israel als "Nationalstaat des jüdischen Volkes" anerkennen, spiegelte sich dieser Anspruch in unserer Fahne wider. Sie ist viel mehr als die Fahne eines gewöhnlichen Staates. Sie verkörpert den Anspruch des Staates, alle Juden in der ganzen Welt zu repräsentieren. Sind die Juden gefragt worden, ob sie sich von der Regierung Israels repräsentieren lassen wollen? Seltsamerweise ist diese Frage niemals gestellt worden. Weder von den Palästinensern noch von den Amerikanern, ja nicht einmal von den Israelis. Bevor unsere Regierung fordert, dass die palästinensische Führung Israel als Nationalstaat usw. anerkenne, sollten da nicht die Juden in Los Angeles, Moskau und Johannesburg gefragt werden? Ohne weltweites Referendum der jüdischen Diaspora und einer zustimmenden Antwort einer großen Mehrheit von ihnen entbehrt der israelische Anspruch jeder Grundlage. In Wirklichkeit ist es eine Form des Imperialismus, ein Versuch, einem dienstbaren Volk etwas wie eine Souveränität aufzuzwingen. Bevor ein solches Referendum stattfinden kann, müssen einige Fragen beantwortet werden: Wer ist Jude? Ein Sohn oder eine Tochter einer jüdischen Mutter? Wie steht es mit den jüdischen Vätern? Mit Menschen, die zur jüdischen Religion bekehrt worden sind? Von wem? Nur von einem orthodoxen Rabbiner? Wie steht es mit Konvertiten, die von "Reform-" oder "konservativen" Rabbinern als Juden akzeptiert worden sind? Wie steht es mit den Atheisten, können sie Juden werden, die von Israel repräsentiert werden? Auch die Israelis sind sich über die Antworten auf diese Fragen nicht einig. Welche Bedeutung hat also die Forderung nach Anerkennung außer der, dass sie ein Trick zum Sabotieren der Friedensverhandlungen ist? DAS THEMA Referendum ist in dieser Woche auch in anderem Kontext aufgetaucht. Außenminister Avigdor Lieberman findet wieder einmal keine Ruhe. Stimmt schon, sein gesamtes Ministerium streikt. Das Hauptbüro und alle israelischen Gesandtschaften auf der Welt sind geschlossen. Aber Liebermann ruht nicht. Diese Woche hat er angekündigt, er habe den Rechtsberater des Ministeriums angewiesen, ein Rechtsgutachten über seinen Vorschlag von Gebietsaustausch zu erstellen. Seinem Plan gemäß würde ein großer Bezirk des souveränen israelischen Hoheitsgebietes, der von arabischen Bürgern bewohnt wird, mitsamt seiner Bevölkerung an den künftigen palästinensischen Staat übergehen, im Austausch gegen palästinensische Bezirke, die von den Siedlern bewohnt werden. Der unverhüllte Zweck dieses Tauschs wäre es, die Anzahl der arabischen Bürger zu verringern und damit den jüdischen Staat jüdischer zu machen. Oberflächlich mag man das als fairen Vorschlag werten. Zuerst einmal bedeutet dieser Vorschlag, dass Lieberman für die Errichtung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels ist. Für einen extrem Rechten ist das schon an sich bemerkenswert. Alle israelischen Ultra-Nationalisten stehen vor demselben Dilemma: Was ist wichtiger, Geografie oder Demografie? Die Jüdischkeit des ganzen Landes, das Gott uns verheißen hat, oder die Jüdischkeit der Bevölkerung des jüdischen Staates? Der Großteil der rechten Bewegungen findet das Land wichtiger als die Menschen. Ihre Anhänger wollen das Land "vom Meer bis zum Fluss" behalten, selbst wenn das bedeutet, dass die Palästinenser die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen werden. Für sie wäre eine ewige Besetzung eine gute Lösung, auch ein Apartheids-Staat schiene ihnen annehmbar. Ein anderer Flügel des rechten Lagers glaubt, dass es wichtiger sei, einen Staat zu haben, in dem die Anzahl der Nichtjuden zu vernachlässigen sei. Das würde garantieren, dass der jüdische Staat für immer und ewig jüdisch bliebe. Die Lösung Liebermans soll das zuwege bringen. Zu diesem Zweck ist Lieberman bereit, die Geografie Israels so zu verändern, dass die "enge Taille" noch enger würde. Zwischen Netanja am Meer und dem palästinensischen Tulkarem ist der Staat jetzt schon nur 14 Kilometer breit. Lieberman würde ihn noch schmaler machen. Da die schmale Form des Staates oft als Grund für die Annektierung des Westjordanlandes genannt wird, ist das schon an sich recht bemerkenswert. DER RECHTSBERATER hat seine Aufgabe ernst genommen und einen langen und gut begründeten Bericht verfasst. Er beschäftigte sich hauptsächlich mit der Frage, ob eine derartige Lösung mit dem Völkerrecht vereinbar sei. Es überrascht nicht, dass angesichts seiner Situation seine Antwort Ja war. Kein Teil der Bevölkerung würde fortgeschafft. Kein Besitz würde enteignet. Die dort lebenden Palästinenser könnten ihre israelische Staatsbürgerschaft behalten, wenn sie das wollten, und ebenso ihre israelischen Sozialversicherungsrechte. Sie wären nur keine Bewohner des Staates Israel mehr, sondern sie würden zu Bewohnern des Staates Palästina. Eine faire, ja sogar wohlwollende Lösung. Außer einem kleinen Punkt: Die palästinensischen Bewohner würden nicht gefragt werden. Nach sorgfältiger Untersuchung der Präzedenzfälle kam der Rechtsberater zu dem Schluss, dass das Völkerecht keine Volksbefragung fordere. Und tatsächlich widersetzt sich Lieberman heftig allen derartigen Befragungen. Warum? Weil die Betroffenen schon vollkommen deutlich gemacht haben, dass sie einen solchen Übergang zurückweisen würden. Das ist ein großes Kompliment für Israel. Trotz aller Diskriminierung und allen gerechtfertigten Beschwerden zum Trotz wollen die arabischen Bürger Israels weiterhin zum Staat Israel und nicht zu einem künftigen palästinensischen Staat gehören. Dass sie als Bürger zweiter Klasse behandelt werden, ist offensichtlich. Die Nachrichten halten uns das fast täglich vor Augen. Weniger offensichtlich, aber nicht weniger real ist, dass die arabische Bevölkerung wirtschaftlich und politisch tief in der israelischen Realität verwurzelt ist. Die Kehrseite der Medaille ist, dass Israel aus dieser Bevölkerung großen Nutzen zieht. Die arabischen Bürger Israels arbeiten in der israelischen Wirtschaft. Sie zahlen Steuern. Das Argument, sie trügen nicht ihren Teil zum Ganzen bei, ist ein Mythos - niemand kann in Israel leben, ohne sowohl direkte als auch indirekte Steuern zu zahlen (es sei denn, man wäre sehr reich). VIELE LÄNDER haben im Laufe ihrer Geschichte erfahren, dass die Vertreibung einer Bevölkerung der Wirtschaft stark schadet. Als Frankreich die protestantischen Hugenotten vertrieb, wurde das Land ärmer. Preußen, das sie zu sich einlud, wurde reich und mächtig. Das gilt sogar noch mehr für die Vertreibung der Juden und Muslime aus Spanien und Portugal. Beide Länder verschlechterten sich, während das Osmanische Reich, das die Juden aufnahm, Vorteil daraus zog. Die arabischen Bürger Israels sind ein großer Gewinn für den Staat. Wir sollten keineswegs versuchen, sie loszuwerden, sondern wir sollten im Gegenteil alles, was möglich ist, tun, damit sie sich bei uns zu Hause fühlen. Ein Fahnenwechsel wäre ein symbolischer Teil dieser Bemühung. Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler Weblinks: Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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