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Konflikte: Auf Tauchstation

Die Friedensforschung ist von der Ukraine-Krise überrascht worden. Ihr fehlt die Verankerung in der Gesellschaft

Von Michael Jäger

Wo war in letzter Zeit von Friedensforschung die Rede? Das öffentliche Interesse hat sich eher einem Herfried Münkler und seiner Studie über den Ersten Weltkrieg zugewandt, der nicht untersucht, wie der Frieden bewahrt werden kann, sondern nur was wirklich geschehen ist. Es gibt sie aber noch, die Friedensforschungsinstitute und ihre namhaften Exponenten - sie arbeiten wie eh und je. Und wenn man nicht nur auf die Oberfläche schaut, betreibt eigentlich auch ein Münkler Friedensforschung. Nicht nur er stellt die Frage, ob der Erste Weltkrieg vermeidbar war, sondern auch die Hessische Stiftung für Friedensforschung will aus der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts Schlüsse für die moderne Welt ziehen. Warum entgeht das unserer Aufmerksamkeit? Weil der Friedensforschung zuletzt die Verankerung fehlte. Es gibt seit langem keine auffällige Friedensbewegung mehr. Das wird sich im Zuge der ukrainischen Krise vielleicht ändern.

Diese Krise hat alle Friedensforscher auf dem falschen Fuß erwischt. Sie haben die Gefahren woanders erwartet und gesucht als im Verhältnis des Westens zu Russland. Auch die Hessische Stiftung, die die heutige Situation mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vergleicht: Jahrzehntelang hätten damals die "Normen und Verfahren" eines Konzerts der Großmächte gewirkt. Leider wurden diese dann mehr und mehr vernachlässigt. So konnten die Dämme brechen. Die Forscher fordern, so ein "Konzert" heute wieder zu installieren. Der UN-Sicherheitsrat könne diese Aufgabe nicht erfüllen. Stattdessen plädiert die Hessische Stiftung für eine übergreifende Institution mit zehn bis siebzehn Mitgliedern. Warum ausgerechnet diese Konstruktion besser funktionieren sollte, lässt sie offen. Aber das Problem, an dem "Konzerte" scheitern, kann sie nennen: "Gegen den expliziten Wunsch eines Mitglieds oder mehrerer Mitglieder sollte das Konzert nicht agieren." Man müsste weiterfragen, warum diese Regel seit 1917 und auch seit 1990 nie beachtet wurde. Die NATO-Osterweiterung geschah gegen Russlands expliziten Willen. Die Frage könnte auch so gestellt werden: Warum wurde 1990 der Kalte Krieg nicht beendet? Warum hörte er nie auf?

Die Bedeutung der Ökonomie

Die Hessische Stiftung für Friedensforschung sieht die reale Gefahr eines neuen Weltkriegs, weil die Hegemonie der USA durch aufstrebende Großmächte infrage gestellt werde. Sieht man näher hin, ist an China gedacht. Indien und Brasilien werden zwar auch genannt, kommen ja aber nicht ernsthaft als potenzielle Kriegsgegner der USA in Betracht. Hier gibt es Berührungspunkte mit dem Werk von Münkler, der die heutige Rolle Chinas mit der Rolle des deutschen Kaiserreichs vor 1914 vergleicht. Warum allerdings die heutige Weltlage instabil sein sollte, ist eine Frage, die Münkler nur recht abstrakt beantwortet. Der Erste Weltkrieg sei vermeidbar gewesen, schreibt er, es habe aber "Verantwortliche" gegeben. Er schreibt auch, es gebe immer nur ein Imperium auf der Welt. Dem heutigen Anspruch nach seien das die USA. Wenn das Imperium jedoch derart durch seine Einzigkeit definiert wird, folgt schon allein daraus, dass es keine Großmacht neben sich dulden kann. Deshalb müssen die USA immer kampfbereit bleiben.

Aus heutiger Sicht hat sich die Fokussierung auf China als kurzsichtig erwiesen. Sie war auch unnötig. Vor Jahren schon hat Wolfgang Fritz Haug auf die enge wirtschaftliche Verflechtung der USA mit China hingewiesen. Manche sprechen von "Chimerika". Die Teile "Chimerikas" werden ihre Aggressivität gegeneinander zügeln. Für die europäischen Staaten ist aber auch Russland ein wichtiger Handelspartner. Das hemmt die europäische Aggressivität gegen Russland mehr als die US-amerikanische. Doch die meisten Friedensforscher beziehen das Ökonomische in ihre Untersuchungen nicht ein.

Dieter Senghaas tut es und analysiert überhaupt differenzierter als andere. In seinem Buch von 2012 unterstreicht er, dass "der Diskurs über Globalität" fälschlich von nur einer Welt ausgeht. Stattdessen gebe es vier Welten. Die OECD-Welt, zu der fast nur die USA und die meisten europäischen Staaten gehören, beherrscht mit 16 Prozent Anteil an der Weltbevölkerung die übrigen drei Welten. Eine zweite Welt bilden China und Indien mit 37 Prozent, bei einer dritten mit weiteren 37 Prozente handelt es sich um Gebiete ohne funktionierende Staatlichkeit. Senghaas meint, zur Sicherung des Weltfriedens müssten auch die Welten außerhalb der OECD-Welt zur übergreifenden "Selbstorganisation" gelangen. Als Problem, von dem nur immer mehr Instabilität ausgehen kann, benennt er die von der OECD-Welt ausgehenden "Entgrenzungsprozesse". Seine Analyse ist ökonomisch fundiert: In der OECD-Welt gebe es Wettbewerb auf gleichem Kompetenzniveau, Arbeitsteilung mit gleichwohl substituierbaren Gütern, daher eine hohe Integrationsfähigkeit und "Globalisierung de luxe" in den eigenen Reihen. Dies alles macht die OECD-Welt - aber eben nur sie - stabil.

Auch Senghaas hat den Konflikt des Westens mit Russland nicht kommen sehen. Ebenso wenig die AG Friedensforschung. Man kann sie Senghaas darin zur Seite stellen, dass auch sie die ökonomische Seite der Friedensstabilität nicht ausblendet. Mit ihren Positionen steht sie dem linken Flügel der Linkspartei nahe. Wenn sie wie die Hessische Stiftung auf den Ersten Weltkrieg zu sprechen kommt, hebt sie auch wirtschaftliche Ursachen hervor ("Interessen der Großkonzerne"). Für heute werden Rüstungsexporte, bewaffnete Drohnen, die Bundeswehr als "Interventionsarmee", die "NATO-Komplizenschaft mit der Türkei", ja überhaupt die Existenz der NATO als Probleme benannt. Dem Nahen Osten empfiehlt die AG, nach europäischem Vorbild eine Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit zu gründen. Ihr Blick hat sich auf Palästina und Syrien gerichtet, auf Afghanistan - aber nicht auf die Ukraine.

Die Krise dort kommentiert sie wie Linksfraktionschef Gregor Gysi kürzlich in einer Bundestagsrede. Der russische Völkerrechtsbruch sei eindeutig, denn eine Sezession wäre nur mit Zustimmung aller Beteiligten, also auch einer demokratisch gewählten Regierung in Kiew, zulässig gewesen. "Wir weisen aber ausdrücklich darauf hin, dass die russischen Maßnahmen nur vor dem Hintergrund der massiven Einmischung des Westens in die inneren Angelegenheiten der Ukraine und der Gewalteskalation in Kiew zu verstehen sind."

Eine analoge Position wird auch von der Gegenseite vertreten. Da hat das Hamburger Institut IFSH eine interessante Analyse vorgelegt. Hier hatte Dieter S. Lutz bis zu seinem Tod 2003 gewirkt. Alte und neue Handlungsmuster würden auf russischer Seite sichtbar. "Fakten schaffen, Krisendiplomatie blockieren, Desinformation streuen", das sei man ja alles von Moskau gewohnt. Doch "die Entschlossenheit, mit der der Kreml in der Krim-Krise seine militärische Stärke demonstriert, sowie die Tatsache, dass westliche Kritik an Moskaus Vorgehen im Kreml scheinbar vollkommen ignoriert wird", das sei neu. Und es folgt der bemerkenswerte Nachsatz: "Dennoch geht es Moskau nicht zuletzt auch darum, sich im Westen Gehör für die eigene Sicht der Dinge zu verschaffen - mit vielleicht verheerenden Folgen." So ist es: Der Kalte Krieg geht immer weiter und Russland, zunehmend in die Ecke gedrängt, mag nicht mehr gute Miene zum bösen Spiel machen.

Konservative machen mobil

Einen wichtigen Hinweis ergänzt Ottfried Nassauer vom Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit: Zur Zeit wird in den USA wieder einmal behauptet, Russland verletze durch neue Raketensysteme das ausgehandelte Rüstungsgleichgewicht. Wer denkt da nicht an die Situation von 1980. Könnte sie sich wiederholen? Zwar steht die Behauptung auf schwachen Füßen. Präsident Obama hat sie sich noch nicht zu eigen gemacht. Doch die Republikaner trommeln heftig für sie und es gelingt ihnen, weitere Abrüstungsverhandlungen zu torpedieren. Irgendwann werden sie ja auch wieder das Präsidentenamt erobern. Was dann?

Es wäre wohl weiterführend, wenn Friedensforscher ganz intensiv über diese Frage nachdächten: Weshalb konnte der Kalte Krieg nicht beendet werden? Warum wurde seinerzeit der Vorschlag Michail Gorbatschows, ein "europäisches Haus" zu bauen, in den Wind geschlagen? Weil das US-Imperium keinen zweiten Gott neben sich dulden kann? Nicht einmal das viel schwächer gewordene Russland? Verhält sich das so, weil der Westen insgesamt nicht anders kann, als seine ökonomisch fundierten "Entgrenzungsprozesse" voranzutreiben? Oder wirken auch ideologische Gründe von der Art, dass er als Westen einen Osten zum Gegenbild braucht, ja ihn sich notfalls erfinden muss? Davon, ob Antworten gefunden werden, hängt der Weltfrieden mit ab.

Quelle: der FREITAG vom 16.04.2014. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Michael Jäger und des Verlags.

Veröffentlicht am

18. April 2014

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