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Friedensakteure in Deutschland vor Beginn des Ersten Weltkriegs

Von Ullrich Hahn

Anders als 1939 war Deutschland in der Zeit vor Beginn des Ersten Weltkriegs ein Rechtsstaat mit (weitgehender) Presse- und Meinungsfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht. Abweichende Meinungen zu Rüstung und Militär konnten ohne Gefahr der Sanktion öffentlich geäußert werden.

Dennoch gab es in den letzten Wochen und Monaten vor den Kriegserklärungen in Deutschland keine sichtbare Opposition. Parteien, Kirchen und Gewerkschaften standen fast einmütig zum Krieg - der Kaiser konnte mit Recht sagen: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche". Dass es andererseits nicht unmöglich war, anders zu denken und zu handeln, belegen einige Männer und Frauen, Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer, derer im Folgenden auch gedacht werden soll.

I. Vor 1914 lassen sich drei Strömungen einer Friedensbewegung in Deutschland unterscheiden:

1. Die sozialistische Arbeiterbewegung

Die SPD war in ihren Friedensvorstellungen von der marxistischen Geschichtstheorie geprägt: Kriege sind Ausdruck und Folge kapitalistischer Gesellschaftsordnung. Sie hören auf, wenn der Sozialismus den Kapitalismus abgelöst hat. Im November 1912 fand in Basel ein sozialistischer Friedenskongress statt mit 533 Delegierten aus den meisten europäischen sozialistischen Parteien, darunter 18 Frauen. Hier wurde noch einmal die internationale Solidarität der Arbeiterbewegung beschworen (insbesondere von Jean Jaurès und dem Engländer Keir Hardy). Es fehlte aber schon zu diesem Zeitpunkt an einem festen Willen, Kriegsvorbereitung und            -durchführung mit einem angedachten Generalstreik zu verhindern. Bei Kriegsbeginn reihte sich die Arbeiterschaft widerstandslos auf beide Seiten der Front ein. Die SPD-Fraktion bewilligte fast einstimmig die erforderlichen Kriegskredite im Reichstag. Trotz Kritik am preußischen Militarismus kam von Seiten der SPD nie eine Aufforderung zur Verweigerung des Kriegsdienstes. Deutliche Kritik an diesem Kurs der SPD äußerten u.a. Clara Zetkin, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

2. Die bürgerliche Friedensbewegung

Seit 1892 gab es die "Deutsche Friedensgesellschaft" (DFG). Diese war entstanden durch das Erschrecken über die Auswirkungen des modernen Krieges (Henry Dunand, Bertha von Suttner - "Die Waffen nieder", Leo Tostoi - "Krieg und Frieden", und zuvor schon seine Erzählungen aus Sewastopol). In der DFG engagierten sich auch eine Reihe von "Friedenspfarrern".

Zu keinem Zeitpunkt trat die DFG für die Kriegsdienstverweigerung ein. In einem Flugblatt vom 15.08.1914 erklärten Otto Umfrid und Ludwig Quidde, die beiden Vorsitzenden der DFG: "Über die Pflichten, die uns Friedensfreunden jetzt während des Krieges erwachsen, kann kein Zweifel bestehen. Wir deutschen Friedensfreunde haben stets das Recht und Pflicht der nationalen Verteidigung anerkannt. Wir haben versucht zu tun, was in unseren schwachen Kräften war, gemeinsam mit unseren ausländischen Freunden, um den Ausbruch des Krieges zu verhindern. Jetzt, da die Frage, ob Krieg oder Frieden unserem Willen entrückt ist und unser Volk von Ost, Nord und West bedroht, sich in einem schicksalsschweren Kampf befindet, hat jeder deutsche Friedensfreund seine Pflichten gegenüber dem Vaterlande genau wie jeder andere Deutsche zu erfüllen."

Die "erste internationale Konferenz der Kirchen für Frieden und Freundschaft" in Konstanz vom 1. bis 3. August 1914 wurde von deutscher Seite von fünf Theologen besucht, darunter Friedrich Siegmund Schulze und Pfarrer Böhme. Otto Umfrid ließ sich entschuldigen. In der deutschen Öffentlichkeit wurde die Konferenz, auf der am vorzeitigen Ende noch der "Weltbund für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen" gegründet wurde, nicht wahrgenommen. Während der badischen Landessynode im Juli, nur zehn Tage vor Beginn des Krieges, fand der Konstanzer Kongress keine Erwähnung, obwohl die Synode u. a. über die Einführung eines Friedenssonntages beriet. Zu den radikaleren Mitgliedern der DFG gehörten u. a. Auguste Kirchhoff und Helene Stöcker. Einige wenige Mitglieder der DFG gingen nach Kriegsausbruch ins Exil, um nicht am Krieg teilnehmen zu müssen.

3. Anarchisten und Tolstoianer

Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die konsequenten Mitglieder der friedenskirchlichen Gruppierungen Deutschland verlassen - insbesondere Mennoniten; zuvor waren schon Brethren und andere täuferische Gruppen aus Deutschland ausgewandert. Die zurückgebliebenen mennonitischen Gemeinden passten sich der "Normalität" soweit an, dass kein deutscher Mennonit im Ersten Weltkrieg den Kriegsdienst verweigerte - ebenso wie auch im Zweiten Weltkrieg. Das Gleiche gilt für die Herrenhuter Brüdergemeinden und andere, ursprünglich aus der pazifistischen Täufertradition erwachsenen Gruppen.

Seit 1880 andererseits vertrat der damals schon weltberühmte Schriftsteller Leo Tolstoi einen radikalen Pazifismus mit der Konsequenz persönlicher Verweigerung aller Kriegsdienste und kritisierte diesbezüglich ausdrücklich die "aufgeklärten Friedensfreunde" in Westeuropa. Seine religiösen, auf die Bergpredigt bezogenen Schriften und seine politischen Aufrufe und Stellungnahmen waren auch in Deutschland bekannt und fanden vor allem Eingang in die Kreise der nichtreligiösen Anarchisten, die zumindest zum Teil auch 1914 bei ihrer Ablehnung von Militär und Krieg blieben (Gustav Landauer) und zum Teil auch emigrierten (Augustin Souchy). Zu einer nennenswerten Zahl von Kriegsdienstverweigerern wie in Russland (etwa 800 Tolstoianer) und in England (ca. 16.000 Verweigerer, überwiegend in friedenskirchlicher Tradition) kam es in Deutschland allerdings nicht.

Neben vielleicht anderen unbekannten Verweigerern steht vor allem Dr. Georg Friedrich Nicolai, der im Zusammenhang mit seiner Haltung noch während des Krieges eine 600seitige Anklage gegen den Krieg schrieb: "Die Biologie des Krieges - Betrachtungen eines Naturforschers den Deutschen zur Besinnung". Der Franzose Romain Rolland schrieb hierzu in seinem Geleitwort: "Während die christlichen Kirchen und auch der Sozialismus, denen doch ihren Lehren und der Zahl ihrer Anhänger gemäß eine ungeheure Macht zukam, ohne weiteres und ohne Spur von Widerstand gemeinsame Sache mit dem Kriege gemacht haben, strafte ein vereinzelter Denker, trotz Verurteilung und Gefangenschaft, das Schauspiel der entfesselten Unvernunft und Gewalttätigkeit mit überlegenem Spott. Seine starke Zuversicht blieb unerschüttert …"

II. Was hat sich seit 100 Jahren geändert was ist gleich geblieben?

1. Die spezifisch-marxistische Friedenstheorie spielt seit dem Ende des "realen Sozialismus" keine Rolle mehr.

2. Die "bürgerliche Friedensbewegung" ist nach wie vor stark präsent sowohl in den Kirchen und ihren Äußerungen als auch in der organisierten Friedensbewegung. Ihr Anliegen ist es auch heute noch, Kriege auf hoher politischer Ebene durch die Entwicklung des Völkerrechts, internationaler Abkommen, dem Verbot besonders grausamer Waffen, der zahlenmäßigen Beschränkung und Kontrolle von Rüstung, Rüstungsexport und Militär zu überwinden, nicht aber in erster Linie durch die persönliche Verweigerung aller Kriegsdienste, auch wenn diese Haltung eher toleriert wird als vor 100 Jahren. Die evangelischen Landeskirchen wollen sowohl in ihren aktuellen Denkschriften und Erklärungen als auch nach ihren Bekenntnisgrundlagen ausdrücklich keine Friedenskirchen sein, sondern halten an der Akzeptanz des Militärs fest.

3. Die Ablehnung jeglicher Gewalt, schon im Hier und Jetzt, hat im Vergleich zu der Zeit vor 100 Jahren zahlenmäßig deutlich zugenommen, befindet sich innerhalb der etablierten Gesellschaftskreise in Politik und Kirchen aber immer noch in der Minderheit. Wie schon vor 1914 gilt es weiterhin als Ausdruck politischer Vernunft und einer sog. "Verantwortungsethik", auf militärische Stärke und militärische Einsätze im "Krisenfall" zu setzen.

Ullrich Hahn, Präsident des Internationalen Versöhnungsbundes (Deutscher Zweig) hat dieses Referat bei der gemeinsamen Mitgliederversammlung von Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) und  Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) in Teltow am 27.09.2013 gehalten.

Veröffentlicht am

16. Oktober 2013

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