Grenzen auf dem Reißbrett - Der Erste Weltkrieg und seine Folgen im Nahen OstenVon Katharina Lange Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg legten die europäischen Siegermächte viele Grenzen im Nahen Osten machtpolitisch fest. Bereits 1916 definierte das Sykes-Picot-Abkommen britische und französische Einflusssphären in der Region. Die Grenzziehungen hatten weitreichende politische Folgen und sorgen bis heute für Konflikte. Bis zum Ersten Weltkrieg existierten weder das heutige Syrien noch seine Nachbarstaaten als unabhängige Staaten, sondern waren Teil des Osmanischen Reichs. Dies änderte sich erst mit dessen Niederlage und anschließenden Zerschlagung am Ende des Krieges. Im August 1914 war das Osmanische Reich ein Militärbündnis mit dem Deutschen Reich eingegangen; im November 1914 trat es auf Seite der Mittelmächte in den Krieg ein. Zunächst verzeichneten die osmanischen Armeen bedeutende militärische Erfolge, wie den Sieg über die alliierten Truppen bei Gallipoli 1915 und das britische Expeditionskorps in Mesopotamien 1916. Doch schon bald erfolgte die von arabischen Kämpfern unterstützte britische Gegenoffensive, und 1917 nahmen die Alliierten Bagdad, Jerusalem und 1918 auch Damaskus ein. Im Oktober 1918 zogen sich die letzten osmanischen Verbände aus Syrien nach Norden auf das Gebiet der heutigen Türkei zurück. Die Zivilbevölkerung litt unter dem KriegDie Kriegsjahre bedeuteten für die Menschen im heutigen Syrien und den benachbarten Regionen eine Zeit des Leidens. Zur Unterstützung der Armee requirierten die Behörden Vieh und Getreide bei der ländlichen Bevölkerung und zogen junge Männer zum Militärdienst ein. Ihre oft jahrelange Abwesenheit, die nicht selten in Tod, Verwundung oder Gefangenschaft mündete, verursachte auch praktische Schwierigkeiten, da die Männer ihren Familien als Arbeitskräfte und Ernährer fehlten. 1915 nahm die Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich, die der Kooperation mit Russland verdächtigt wurden, genozidale Ausmaße an. 1916/17 kam es infolge der alliierten Blockadepolitik, einer verheerenden Heuschreckenplage, langjähriger struktureller Veränderungen in der Landwirtschaft und nicht zuletzt wegen des kriegsbedingten Fehlens von Arbeitskräften und Transporttieren in den Gebieten des heutigen Syriens und Libanons zu einer verheerenden Hungersnot. Hunderttausende Menschen starben, die katastrophale Lage der Zivilbevölkerung verschlimmerte sich zusätzlich durch Seuchen. Hinzu kamen politische Auseinandersetzungen. Arabisch-nationalistische Intellektuelle und Offiziere, bereits vor dem Krieg teilweise in Geheimgesellschaften organisiert, strebten die Unabhängigkeit der arabischen Provinzen von Istanbul an. Der osmanische Gouverneur von Damaskus, Kemal Pascha, reagierte darauf mit brutaler Repression und ließ zahlreiche Männer wegen Hochverrats öffentlich hinrichten. Im Juni 1916 rief der haschemitische Scherif von Mekka, Husain (1852/3-1931), zum arabischen Aufstand gegen die Osmanen auf.Die arabische Bezeichnung scherif bedeutet edel, ehrenhaft. Hier bezieht sie sich als Ehrentitel auf das (seinerzeit von den Osmanen vergebene) Amt des "Verwalters", des höchsten geistlichen Würdenträgers der heiligen Städte Mekka und Medina, das jeweils durch einen Vertreter der haschemitischen Dynastie, der auch Husain entstammte, ausgeübt wurde. Die von Husains Sohn Faisal (1883-1933) angeführten Aufständischen setzten sich aus kriegsgefangenen und übergelaufenen ehemaligen Soldaten und Offizieren der osmanischen Armee, aber auch bewaffneten Kämpfern tribaler (beduinischer) Herkunft zusammen. Bis 1918 kämpften die arabischen Aufständischen mit alliierter Unterstützung zunächst im Hedschas,Ursprungsgebiet des Islam im westlichen Teil des heutigen Saudi-Arabien. dann auch auf dem Gebiet des heutigen Jordanien, Syrien und Palästina beziehungsweise Israel. Europas Siegermächte legten die Grenzen festEin komplexes und teilweise widersprüchliches Geflecht europäischer Absprachen bezog sich auf die politische Aufteilung der Region nach der erwarteten Niederlage des Osmanischen Reiches. Seit Beginn des Krieges hatten sich die Mächte der Entente in einer Vielzahl meist geheimer Abkommen, die sich rein nach machtpolitischen Interessen richteten und etwaige Wünsche der lokalen Bevölkerung sowie historische, konfessionelle oder ethnische Zugehörigkeiten und Grenzen vollständig ignorierten, über die Aufteilung des Nahen Ostens verständigt. Russland beanspruchte die Kontrolle über Istanbul und die Meerengen zwischen dem Schwarzmeergebiet und dem Mittelmeer. Im Gegenzug für den Kriegseintritt Italiens auf Seiten der Entente erkannten Frankreich und Großbritannien italienische Gebietsansprüche an, unter anderem auf einen Teil der asiatischen Türkei um Antalya herum. Von größter Bedeutung für die Region war das anglo-französische Abkommen von Mai 1916, das auf französischer Seite von François Georges-Picot, auf britischer von Sir Mark Sykes ausgehandelt wurde (Sykes-Picot-Abkommen). Es definierte britische und französische Einflusssphären in der Region. In einem Gebiet von etwa Kirkuk bis Gaza beanspruchte Großbritannien eine informelle Einflusssphäre; für Frankreich galt dies in dem Gebiet zwischen Mosul, Aleppo und Damaskus. Teile Südwestanatoliens und der Libanon sollten zudem unter französische Verwaltung gestellt werden, der Irak und Kuweit unter britische. Über den Status Palästinas (das unter internationale Verwaltung gestellt werden sollte) sollte später entschieden werden, doch beanspruchte Großbritannien einen Sonderstatus für die Mittelmeerhäfen Haifa und Akko, die für die Verschiffung irakischen Öls von strategischem Interesse waren. Russische wie italienische Gebietsansprüche wurden in einer Erweiterung des Abkommens ebenfalls aufgenommen. Hinzu kamen weitere, widersprüchliche Absprachen mit regionalen politischen Akteuren. Im Vorfeld (und zur Ermutigung) des arabischen Aufstands hatte der britische Hochkommissar in Ägypten, Sir Henry McMahon (1862-1949), brieflich in der sogenannten Husain-McMahon-Korrespondenz (1915-1916) Scherif Husain die Unterstützung Großbritanniens für die Etablierung eines unabhängigen arabischen Königreichs zugesagt. Über die genaue Definition dieses Staates, insbesondere dessen Grenzen, äußerte sich McMahon allerdings unklar. Im November 1917 versicherte der britische Außenminister, Lord Arthur Balfour, in einem mit dem US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson abgestimmten Brief an Lord Walter Rothschild (mit der Bitte um Weiterleitung an die Zionistische Föderation), die britische Regierung unterstütze die "Errichtung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk". Allerdings sollten dabei die Rechte "nicht-jüdischer Gemeinschaften in Palästina" nicht beeinträchtigt werden. Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches wurde Syrien zwischen 1918 und 1920 zunächst mit britischer Billigung von einer arabisch-nationalistischen Regierung unter Husains Sohn Faisal regiert. Die Herausbildung politischer Identitäten in jenen Jahren erfolgte im Spannungsfeld panarabischer und territorial orientierter syrischer beziehungsweise libanesischer Loyalitäten sowie (arabisch-)islamischer Bezüge, die einander im Einzelfall nicht unbedingt ausschlossen. Trotz verbreiteter Kritik an Faisals Regierung erklärte ein Syrischer Generalkongress im März 1920 das Land zur unabhängigen konstitutionellen Monarchie unter Faisal als König. Die Monarchie war jedoch nur von kurzer Dauer. Im April 1920 einigten sich die europäischen Großmächte auf der Konferenz von San Remo auf die Verteilung ihrer Interessengebiete in Form von Mandaten (Libanon und Syrien wurden Frankreich, Irak, Palästina und Transjordanien Großbritannien zugesprochen). 1922 bestätigte der Völkerbund die Mandatsregelung. In der Folge stellte Frankreich Faisal ein Ultimatum für den Rückzug seiner Truppen und die Annahme des Mandats. Die aus dem Libanon vordringenden französischen Truppen schlugen ein schwächeres syrisches Kontingent unter Faisals Kriegsminister Yusuf al-‘Azma bei Maisalun nahe Damaskus am 24. Juni 1920. Am folgenden Tag besetzten französische Truppen Damaskus und stellten Syrien unter französische Mandatsverwaltung. Die letzten französischen Truppen verließen erst 1946 das Land. Die lang anhaltenden Auswirkungen des KriegesDie widersprüchlichen Absprachen, Absichts- und Unterstützungserklärungen mit Bezug auf die Zukunft der osmanischen Territorien, aber auch die von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs entschiedenen Grenzziehungen und die Schaffung neuer Staaten nach 1918 hatten weitreichende politische Folgen und trugen maßgeblich zur Entstehung von Konflikten bei, die die Region bis heute erschüttern. Nicht zuletzt die willkürlichen Grenzziehungen führten dazu, dass die Legitimität der neugeschaffenen Staaten wiederholt in Frage gestellt wurde. Wohl die augenfälligsten, aber nicht die einzigen, Beispiele sind die Konflikte in Israel/Palästina sowie die ungelöste Frage kurdischer Selbstbestimmung (bzw. staatlicher Verfasstheit) im Grenzgebiet der heutigen Staaten Syrien, Türkei, Iran und Irak. Die auch in der Nachkriegszeit immer wieder gemachte Erfahrung, dass die europäischen Mächte trotz gegenteiliger Versicherungen letztlich nach rein machtpolitischen Gesichtspunkten handelten und die Wünsche der lokalen Bevölkerung in keiner Weise berücksichtigten, führte zu einem tiefen Misstrauen gegenüber europäischer und US-amerikanischer Politik in der Region. Dieses Misstrauen prägt das Politikverständnis großer Teile der Bevölkerung des Nahen Ostens bis heute. Katharina Lange ist promovierte Ethnologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin. Sie hat unter anderem über orale und schriftliche Geschichtserzählungen und Alltagskultur im syrischen Euphrattal sowie über Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs im arabischen Osten (Maschriq) gearbeitet. Quelle: Südlink. Das Nord-Süd-Magazin von INKOTA - Ausgabe 168, Juni 2014. URL des Artikels: http://www.inkota.de/material/suedlink-inkota-brief/168-hundert-jahre-erster-weltkrieg/katharina-lange/ . Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung von INKOTA. FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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