Uri Avnery: Wer gewinnt?Von Uri Avnery Der erste Teil dieses Artikels ist am Mittwoch in Haaretz erschienen. WENN WELTGESCHICHTE im Stil unserer jetzigen Kriegspropaganda geschrieben würde, hörte sie sich so an: Churchill war wirklich ein Bösewicht. Er hat die Londoner Bevölkerung unter dem unaufhörlichen Beschuss durch die deutsche Luftwaffe gehalten. Er benutzte die Einwohner Londons in seinem verrückten Krieg als menschlichen Schutzschild. Während die Zivilbevölkerung ohne den Schutz durch eine "Eiserne Kuppel" den Bomben und Raketen ausgesetzt war, verkroch er sich in seinem Bunker unter dem Haus Downing Street Nummer 10. Er hat alle Einwohner Londons als Geiseln benutzt. Als die deutschen Führer ein großzügiges Friedensangebot machten, wies er es aus verrückten ideologischen Gründen zurück. Damit verdammte er sein Volk zu unvorstellbarem Leiden. Von Zeit zu Zeit tauchte er aus seinem unterirdischen Versteck auf, um sich vor den Ruinen fotografieren zu lassen, und dann kehrte er in die Sicherheit seines Rattenlochs zurück. Zu den Leuten von London sagte er jedoch: "Zukünftige Generationen werden sagen, dass das eure schönste Stunde war!" Die deutsche Luftwaffe hatte keine Alternative, als die Stadt zu bombardieren. Ihre Befehlshaber verkündeten, sie träfen nur militärische Ziele, z. B. die Häuser von britischen Soldaten, in denen militärische Beratungen stattfänden. Die deutsche Luftwaffe rief die Einwohner von London auf, die Stadt zu verlassen, und viele Kinder wurden tatsächlich evakuiert. Aber die meisten Londoner beherzigten Churchills Aufruf zu bleiben und wurden auf diese Weise zum "Kollateralschaden". Die Hoffnung des deutschen Führungsstabes, die Zerstörung ihrer Häuser und das Töten ihrer Familie würden die Menschen von London dazu bringen, sich zu erheben und Churchill und seine kriegshetzerische Bande zu vertreiben, wurde enttäuscht. Die primitiven Londoner, deren Hass auf die Deutschen ihre Logik überstieg, folgten perverserweise den Anweisungen des Feiglings Churchill. Ihre Bewunderung für ihn wuchs von Tag zu Tag und am Kriegsende war er fast zu einem Gott geworden. Eine Statue von ihm steht selbst heute noch vor dem Parlament in Westminster. VIER JAHRE später hatte sich das Blatt gewendet. Die britischen und amerikanischen Luftstreitkräfte bombardierten die deutschen Städte und zerstörten sie vollkommen. Kein Stein blieb auf dem anderen, berühmte Paläste wurden geschleift, Kulturschätze vernichtet, "unbeteiligte Zivilisten" in Stücke gesprengt, verbrannt oder sie verschwanden einfach. Dresden, eine der schönsten Städte Europas, wurde in wenigen Stunden durch einen "Feuersturm" vollkommen zerstört. Das offizielle Ziel war es, die deutsche Kriegsindustrie zu zerstören, das wurde jedoch nicht erreicht. Das wahre Ziel war es, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren, um sie dazu aufzustacheln, ihre Führer zu beseitigen und zu kapitulieren. Das geschah nicht. Tatsächlich wurde die einzige ernsthafte Revolte gegen Hitler von hohen Armeeoffizieren ausgeführt (und scheiterte). Die Zivilbevölkerung erhob sich nicht. Im Gegenteil. In einer seiner Tiraden gegen die "Terror-Flieger" sagte Goebbels: "Sie können unsere Häuser zerstören, aber sie können unseren Geist nicht zerbrechen!" Deutschland kapitulierte erst im allerletzten Augenblick. Millionen Tonnen Bomben hatten nicht genügt. Sie hatten nur die Moral der Bevölkerung und ihre Treue zum Führer gestärkt. UND NUN wende ich mich Gaza zu. Alle fragen: Wer gewinnt diese Runde? Die Frage muss auf die jüdische Weise, nämlich mit einer weiteren Frage, beantwortet werden: Wonach soll man das beurteilen? Die klassische Definition von Sieg ist: Die Seite, die auf dem Schlachtfeld bleibt, hat die Schlacht gewonnen. Aber hier hat sich niemand bewegt. Die Hamas ist noch da. Und Israel ebenso. Der preußische Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz hat ja bekanntlich gesagt: Der Krieg ist eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Aber in diesem Krieg hat keine der beiden Seiten irgendwelche klaren politischen Ziele. Der Sieg kann also nicht an Zielen gemessen werden. Die intensive Bombardierung des Gazastreifens hat nicht bewirkt, dass die Hamas kapituliert hat. Andererseits hat auch der intensive Raketenbeschuss durch die Hamas, der den größten Teil von Israel überzogen hat, keinen Erfolg gehabt. Der verblüffende Erfolg der Raketen, alle Teile Israels zu erreichen, stößt auf den verblüffenden Erfolg der "Eisernen Kuppel"-Gegenraketen, diese abzufangen. Bis jetzt ist es also eine Pattsituation. Aber wenn eine winzige Kampftruppe in einem winzigen Gebiet eine Pattsituation mit einer der mächtigsten Armeen der Welt erreicht, kann das als Sieg betrachtet werden. DASS ISRAEL kein politisches Ziel hat, ist das Ergebnis konfusen Denkens. Sowohl die politische als auch die militärische israelische Führung weiß nicht, wie sie mit der Hamas umgehen soll. Vielleicht hat sie schon vergessen, dass die Hamas weitgehend eine israelische Schöpfung ist. In den ersten Jahren der Besetzung, als jegliche politische Aktivität im Westjordanland und im Gazastreifen verboten war und unterdrückt wurde, war der einzige Ort, an dem sich Palästinenser treffen und organisieren konnten, die Moschee. Damals sah Israel die Fatah als ihren Erzfeind an. Die israelische Führung dämonisierte den Erz-Erz-Terroristen Jasser Arafat. Die Islamisten, die Arafat hassten, wurden als das kleinere Übel, ja als heimliche Verbündete, betrachtet. Ich habe einmal den damaligen Chef von Schin-Bet gefragt, ob seine Organisation die Hamas geschaffen habe. Seine Antwort war: "Wir haben sie nicht geschaffen. Wir haben sie toleriert. " Das änderte sich erst ein Jahr, nachdem die Erste Intifada begonnen hatte, als der Hamas-Führer Scheich Ahmad Jassin verhaftet wurde. Seitdem hat sich die Realität natürlich vollkommen umgekehrt: Fatah ist jetzt vom Standpunkt der Sicherheit aus eine Verbündete Israels und Hamas ist die Erz-Erz-Terroristin. Aber stimmt das auch? Einige israelische Offiziere sagen, wenn es die Hamas nicht gäbe, müsste sie erfunden werden. Die Hamas herrscht im Gazastreifen. Sie kann für das, was dort geschieht, zur Rechenschaft gezogen werden. Sie hält Gesetz und Ordnung aufrecht. Für einen Waffenstillstand ist sie ein zuverlässiger Partner. Die letzten Wahlen in Palästina, die unter internationaler Beobachtung abgehalten wurden, endeten mit dem Sieg der Hamas sowohl im Westjordanland als auch im Gazastreifen. Als der Hamas die Macht verweigert wurde, übernahm sie sie im Gazastreifen mit Gewalt. Nach allen zuverlässigen Berichten genießt sie die Loyalität der großen Mehrheit der Bewohner des Gebiets. Alle israelischen Experten sind sich darüber einig, dass, wenn das Hamas-Regime in Gaza zu Fall käme, viel extremere islamische Splittergruppen die Herrschaft übernehmen und den Gazastreifen mit seinen 1,8 Millionen Bewohnern in vollkommenes Chaos stürzen würden. Das wäre den Militärexperten gar nicht recht. Das Ziel des Krieges - wenn man es denn als solches würdigen kann - ist nicht, die Hamas zu zerstören, sondern sie - und zwar in einem stark geschwächten Zustand - an der Macht zu lassen. Aber wie um Himmels willen erreicht man das? EINE MÖGLICHKEIT, die jetzt vom ultrarechen Flügel der Regierung gefordert wird, ist die Besetzung des gesamten Gazastreifens. Darauf antworten die Militärführer wieder mit der Frage: Und was dann? Eine erneute ständige Besetzung des Gazastreifens ist ein militärischer Albtraum. Sie würde bedeuten, dass Israel die Verantwortung dafür übernähme, 1,8 Millionen Menschen (von denen übrigens die meisten 1948er Flüchtlinge aus Israel und ihre Nachkommen sind) ruhigzustellen und zu ernähren. Ein ständiger Guerillakrieg würde daraus folgen. Niemand in Israel will das wirklich. Besetzen und dann wieder gehen? Leicht gesagt. Allein die Besetzung wäre eine blutige Operation. Wenn die "Geschmolzenes-Blei"-Doktrin angewendet würde, würde das den Tod von tausend, vielleicht von einigen tausenden Palästinensern bedeuten. Diese (ungeschriebene) Doktrin besagt, dass, wenn zur Rettung des Lebens eines einzigen israelischen Soldaten hundert Palästinenser getötet werden müssten, eben das geschehen müsse. Wenn aber die Zahl der israelischen Opfer sogar auf einige Dutzend ansteigen würde, würde sich die Stimmung im Land vollständig ändern. Das will die Armee nicht riskieren. EINEN AUGENBLICK lang schien es am Dienstag - sehr zur Erleichterung Benjamin Netanjahus und seiner Generäle -, als ob ein Waffenstillstand erreicht worden wäre. Aber es war eine optische Täuschung. Der Mediator war der neue ägyptische Diktator, ein Mann, den die Islamisten allerorten verabscheuen. Er hat viele Hunderte muslimischer Brüder getötet oder eingesperrt. Er ist in aller Offenheit Israels militärischer Verbündeter. Er ist ein Kunde der amerikanischen Freigebigkeit. Außerdem hasst General Abd-al-Fatah Al-Sisi die Hamas aus ganzem Herzen, da sie ein Abkömmling der ägyptischen Muslimbruderschaft ist, und er macht kein Hehl daraus. Anstatt mit der Hamas zu verhandeln, tat er etwas über alle Maßen Dummes: Er diktierte einen Waffenstillstand zu israelischen Bedingungen, ohne sich mit der Hamas auch nur zu beraten. Die Hamas-Führer erfuhren von dem Waffenstillstandsvorschlag erst aus den Medien und wiesen ihn kurzerhand zurück. Meiner Meinung nach wäre es besser, wenn die israelische Armee und die Hamas direkt miteinander verhandeln würden. In der gesamten Militärgeschichte sind Waffenstillstandsabkommen immer zwischen Militärkommandeuren getroffen worden. Eine Seite schickt einen Offizier mit einer weißen Fahne zum Kommandeur der anderen Seite und entweder wird ein Waffenstillstand ausgemacht - oder nicht. (Ein amerikanischer General beantwortete ein entsprechendes Angebot der Deutschen bekanntermaßen mit "Quatsch!".) Im Krieg von 1948 wurde in meinem Frontabschnitt von Major Jerucham Cohen und einem jungen ägyptischen Offizier mit Namen Gamal Abd-al-Nasser ein kurzer Waffenstillstand geschlossen. Da das mit den gegenwärtig herrschenden Parteien unmöglich zu sein scheint, sollte ein wirklich ehrlicher Vermittler gefunden werden. WIE WIRD das enden? Es wird so lange kein Ende, sondern nur eine Runde nach der anderen geben, bis eine politische Lösung angenommen worden ist. Das bedeutet: Hört auf, Raketen abzufeuern und Bomben zu werfen, macht der israelischen Blockade des Gazastreifens ein Ende, ermöglicht den Menschen von Gaza ein normales Leben, fördert die palästinensische Einigkeit unter einer wirklich geeinigten Regierung, führt ernsthafte Friedensverhandlungen, SCHLIESST FRIEDEN. Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler Weblinks: FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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