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Leonardo Boff: Für das Verständnis des Wahlsiegs von Dilma Rousseff

Von Leonardo Boff

In dieser Präsidentschaftswahl waren Brasilianer und Brasilianerinnen mit der biblischen Situation konfrontiert, von der der Erste Psalm spricht. Sie hatten zwischen zwei Wegen zu wählen: dem einen, der für Erfolg und mögliche Freude steht, und dem anderen, der zu Fehler und unvermeidbarem Unglück führt.

Alle Voraussetzungen waren gegeben für einen perfekten Sturm mit Verzerrungen und Verleumdungen, die durch die Massenmedien und die sozialen Netzwerke verbreitet wurden. Vor allem eine Zeitschrift übertrat deutlich die Grenzen journalistischer, sozialer und persönlicher Ethik, indem sie Unwahrheiten abdruckte, um die Kandidatin Dilma Rousseff zu diskreditieren. Hinter all dem standen die am meisten rückwärtsgewandten Eliten, denen es in erster Linie darum geht, ihre Privilegien zu verteidigen, statt sich für die persönlichen und sozialen Rechte aller einzusetzen.

Angesichts dieser Feindseligkeiten bestärkte Präsidentin Dilma, die in den Kerkern der repressiven Organe der Militärdiktatur Folter zu erleiden hatte, ihr Image, nahm an Entschlossenheit zu und nahm ihre Energien zusammen, um jedem Angriff zu begegnen. Sie zeigte sich so, wie sie ist: eine mutige und tapfere Frau. Von ihr geht Vertrauen aus, eine grundlegende Tugend für Politiker. Sie zeigt Integrität und erträgt keine Halbheiten. Dies ruft in der Wählerschaft ein Gefühl der Festigkeit hervor.

Ihr Sieg ist zum Großteil auf ihre Anhänger zurückzuführen, die auf die Straße gingen und große Demonstrationen organisierten. Das Volk zeigte, dass es in seinem politischen Bewusstsein gereift ist und wusste, biblisch gesprochen, wie es den Weg zu wählen hatte, der am richtigsten erscheint, indem es Dilma wählte. Sie errang den Sieg mit mehr als 51 % der Stimmen.

Das Volk kannte bereits die beiden Wege. Der eine, der für 8 Jahre lang ausprobiert wurde, versetzte Brasilien in die Lage, wirtschaftlich zu wachsen, doch transferierte er den Großteil der Gewinne zu den bereits Wohlhabenden, auf Kosten der niedrigen Gehälter, der Arbeitslosigkeit und der Armut für die große Mehrheit: gute Politik für die Reichen und schlechte Politik für die Armen. Brasilien wurde zu einem unbedeutenden und untergeordneten Player im großen globalen Projekt, das von den reichen und militaristischen Ländern angeführt wird. Dies war nicht das Projekt eines souveränen Staates, der sich seines menschlichen, kulturellen und ökologischen Reichtums bewusst ist und eines Volkes wert, das stolz ist auf seine bunte Vielfalt und umso reicher durch all seine Unterschiede.

Das Volk hat auch einen anderen Weg beschritten, den richtigen Weg, der zum möglichen Glück führt. Und das Volk spielte dabei eine zentrale Rolle. Mit einer Politik, die sich den Gedemütigten und Geknechteten unserer Geschichte zuwendet, gelang es einem seiner Kinder, einem Überlebenden der großen Verfolgung, Luiz Ignacio Lula da Silva, eine Bevölkerung, so groß wie die von ganz Argentinien, zu einer modernen Gesellschaft zu formen. Dilma Rousseff setzte dies fort, vertiefte und weitete diese Politik noch aus durch demokratisierende Maßnahmen wie Pronatec, Pro-Uni, die Universitäts-Quoten für Studenten, die eher von öffentlichen als von privaten Schulen kommen; Quoten für Studenten, deren Großeltern aus den Kerkern der Sklaverei kamen, und alle Sozialprogramme, wie z. B. Bolsa Familia, Licht für alle, Mein Haus, Mein Leben, Mehr Ärzte u. a.

Die fundamentale Aufgabe, die sich unserem Land stellt, ist folgende: Allen, hauptsächlich jedoch den Armen, den Zugang zu den lebensnotwendigen Gütern zu verschaffen, die schreckliche Ungleichheit zu überwinden und mittels Bildung den Kindern die Gelegenheit zu vermitteln, heranzuwachsen, sich zu entwickeln und zu aktiven und humanen Bürgern zu werden.

Dieses Projekt erweckte Brasiliens Sinn für Souveränität und projizierte es mit einer unabhängigen Position auf die globale Szene, wo es nach einer neuen Weltordnung verlangt, in der die Menschheit sich selbst als Menschen erfährt, die das Gemeinsame Haus bewohnen.

Die Herausforderung für Präsidentin Dilma besteht nicht nur darin, zu konsolidieren, was bereits funktioniert und etwaige Mängel zu beheben, sondern eine neue Legislaturperiode einzuleiten, die einen qualitativen Fortschritt in allen Sphären des sozialen Lebens umfasst. Nur wenig wird zu erreichen sein, kommt es nicht zu einer politischen Reform, die ein für alle Mal der Korruption die Basis entzieht und zu einem Fortschritt in der repräsentativen Demokratie führt, die partizipatorische Demokratie mit Räten, öffentliche Anhörungen, Konsultationen der sozialen Bewegungen und anderer Institutionen der Zivilgesellschaft einschließt. Auch eine Steuerreform wird dringend benötigt, um zu Gerechtigkeit zu führen und dazu beizutragen, die abgrundtiefe soziale Ungleichheit zu verringern. Bildung und ein Gesundheitswesen wird in Zentrum des Interesses dieser neuen Legislaturperiode stehen. Ein unwissendes und kränkliches Volk wird nie in der Lage sein, auf ein besseres Leben zuzugehen. Präsidentin Dilma wird sich den sozialen Imperativen bezüglich sanitärer Grundversorgung, urbaner Mobilität mit minimal würdigen Transportbedingungen (85 % der Bevölkerung lebt in Städten), Sicherheit und der Bekämpfung der Kriminalität zuwenden müssen.

In den Debatten schlug sie eine breite Palette von Veränderungen vor. Angesichts der Ernsthaftigkeit und des Sinns für Effizienz, den sie stets zeigte, können wir sicher sein, dass diese Veränderungen stattfinden werden.

Es gibt Fragen, die in den Debatten kaum angesprochen wurden, wie die Wichtigkeit einer modernen Agrarreform, die die Landbevölkerung stabilisiert mit all den Vorteilen, die die Wissenschaft bietet. Es ist auch wichtig, das Land der indigenen Bevölkerung zu demarkieren und zu standardisieren, denn viele von ihnen sehen sich durch den Übergriff durch das Agro-Business bedroht.

Die letzte und vielleicht größte Herausforderung kommt aus dem Bereich der Ökologie. Die Zukunft des Lebens und unserer Zivilisation ist ernsthaft bedroht durch die menschengemachte Todesmaschine, die alles Leben mehrfach von der Erde löschen könnte, und durch die verheerenden Konsequenzen der Erderwärmung. Kommt es zu einem steilen Temperaturanstieg, so warnt uns die gesamte wissenschaftliche Community, könnte das Leben, so wie wir es kennen, nicht fortbestehen, und ein Großteil der Menschheit würde tödlich davon betroffen werden. Durch seinen ökologischen Reichtum spielt Brasilien eine fundamentale Rolle im Gleichgewicht unseres geplagten Planeten. Eine neue Dilma-Regierung kann diese Frage nach Leben oder Tod für unsere menschliche Spezies nicht ignorieren.

Möge der Geist der Weisheit und der Achtsamkeit Präsidentin Dilma in den schwierigen Entscheidungen, die sie treffen muss, leiten.

Leonardo Boff ist Theologe und Philosoph; Mitglied der Erd-Charta Kommission

Quelle:  Traductina , 13.11.2014.

Veröffentlicht am

16. November 2014

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