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Mobilmachung: Wiederholungstäter Geschichte

Die Kanzlerin pflegt neuerdings einen aggressiven Sound gegenüber Russland. Ihre rhetorische Aufrüstung wirkt einigermaßen erinnerungsschwach

Von Lutz Herden

Es wird in Zeitungskolumnen, Politikerreden und Talkshows am großen Rad gedreht und mit Pharisäer-Blick vom deutschen Balkon nach Osten gesehen. Es wächst das Bedürfnis, Wladimir Putin eine Lektion zu erteilen, und zwar eine, die sich gewaschen hat. Die geistige Mobilmachung ist weit fortgeschritten, was sie an Humus braucht, liefert eine aggressive Rhetorik, deren kriegerischer Sound höchste Fürsprache findet. So hat es das seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts vor einem Jahr nicht gegeben. Es herrscht gegenüber Russland ein kategorischer Imperativ, der an Schärfe nichts mehr zu wünschen übrig lässt.

Nie wieder Krieg?

Kanzlerin Merkel befand vor Tagen, Europa und Deutschland dürften "nicht zu friedfertig" sein. Die Grünen-Politikerin Marie-Louise Beck meinte auf der Bundesdelegierten-Konferenz ihrer Partei am 23. November in Hamburg: Sicher, man sei mit dem Satz aufgewachsen: Nie wieder Krieg. "Aber was machen wir, wenn der Krieg da ist, was ist mit dem Recht derer die angegriffen werden, auf Gegenwehr."

Mit solcher Suggestiv-Fragerei waren garantiert nicht die Aufständischen in der Ostukraine und deren Recht auf Selbstverteidigung gemeint, das man für unverzichtbar halten sollte, wenn Artilleriegeschosse und Streubomben der ukrainischen Armee und ihrer alliierten Freischärler in Donezk einschlagen. Was also regt Frau Beck an? Die Ukraine so zu behandeln, als ob sie schon Mitglied der NATO wäre und auf militärischen Beistand der Allianz Anspruch hat? Beistand gegen wen? Und mit welcher Konsequenz?

Angela Merkel hat nach ihrer Sydney-Rede in der Haushaltsdebatte des Bundestages die verbale Aufrüstung fortgesetzt. Manches davon mutet an, wie die rhetorische Entschädigung für eine Russland-Politik ihrer Regierung und großer Teile der EU, die verfahrener und perspektivloser kaum sein kann. Wofür es neben vielen anderen vor allem einen Grund gibt - er besteht im völligen Verlust einer auch nur im Ansatz kritischen Distanz zur derzeitigen Administration in Kiew. Schlimmer noch, man hat den Eindruck, dass sich die Regierung in Berlin mit der in Kiew weitgehend identifiziert. Dies gilt inzwischen auch für eine Kriegführung in der Ostukraine, die Zivilisten nicht schont, sondern gezielt sozialem Abstieg, Verderben und Tod aussetzt, unter anderem durch den Einsatz von Streubomben, wie das OSZE-Beobachter bestätigen.

Für Merkel ist es kein Widerspruch, über den man sich wundern könnte, tatsächlich aber beklagen sollte, wenn Präsident Poroschenko für den Donbass jede Verbindung seines Staates kappt, alle sozialen Einrichtungen, Krankenhäuser und Rentner von jeglicher Zahlung suspendiert. Wie verträgt sich das mit der Behauptung der Regierenden in Kiew, ihnen läge nichts mehr am Herzen, als die Integrität des Landes zu erhalten. Geschieht das, indem man sie selbst in Frage stellt?

Merkel und ihre Minister tragen das alles willig mit. Für Poroschenkos Premierminister Jazenjuk sind die Aufständischen "Unmenschen", die man auslöschen müsse. Dieser überaus erinnerungsträchtige und -mächtige Sound erregt in Berlin weder Unmut noch Widerspruch. Poroschenko und Jazenjuk schreiben in ihren Koalitionsvertrag, sie wollen so schnell wie möglich NATO-Mitglied werden. Außenminister Steinmeier weist das wenigstens noch zurück, Merkel schweigt und wahrt den unausgesprochenen Konsens zur US-Regierung, die diesen nächsten Schritt einer nächsten NATO-Osterweiterung ausdrücklich befürwortet.

Das Gegenteil bewirkt

Allen Beteuerungen zum Trotz, man wolle mit Russland im Gespräch bleiben und wieder zu entkrampften Beziehungen kommen, wird durch die Ukraine-Politik der Bundesregierung das Gegenteil bewirkt und offenkundig auch gewollt. Die Fronten zwischen Moskau und Berlin verhärten sich weiter, weniger der zwangsläufigen Eigendynamik einer schwer steuerbaren Eskalation geschuldet als politischer Absicht. Merkel instrumentalisiert die Ukraine, um Russland zur Aufgabe elementarer Interesse zu zwingen.

Es fällt auf, wie die derzeitige ukrainische Führung Deutschland und die EU instrumentalisiert, um aus einem vermeintlichen Opferstatus so viel finanzielles und ökonomisches Kapital zu schlagen, dass es für das Überleben eines zahlungsunfähigen Staates reicht. Der Krieg im Osten und gegen das eigene Volk ist das Letzte, um die Insolvenz abzuwenden, aber er ist eben auch das beste Argument, um die ausländische Hilfsgilde in die Pflicht zu nehmen. Die Botschaft aus Kiew: Wenn ihr uns nicht alimentiert, verfallen wir dem Staatsbankrott, verlieren an Rückhalt in der Bevölkerung und können Russland nichts mehr entgegensetzen. Unsere Niederlage ist dann auch eure Niederlage. Das Prestige der EU wäre beschädigt, ihr Global Player-Status dahin, ihr Durchsetzungsvermögen eine Farce, ihr Sendungsbewusstsein ein frommer Wunsch.

Bahrs Vorschlag

Dagegen helfen nur verhärtete Fronten, mit denen Merkel zum Ausdruck bringt, in welche Situation sich besonders Deutschland als Führungs- und Frontstaat des Anti-Russland-Lagers manövriert hat. Schon allein die damit verbundene strategische Kurzsichtigkeit ist alles andere als ein realpolitischer Tauglichkeitstest. Noch gibt es Auswege, die keine Ausfluchten sein müssen.

Egon Bahr hat in dieser Woche vorgeschlagen, dass man den Anschluss der Krim an Russland zwar nicht völkerrechtlich anerkennen, aber doch respektieren sollte. In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen des ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck, der daraufhin sofort mit dem Stigma des "unsicheren Kantonisten" versehen wird und aus dem Petersburger Dialog herausgedrängt werden soll.

Wollte sich Merkel den Intentionen von Bahr und Platzeck auch nur annähern, müsste sie ihre Protegées in Kiew zu gewissen Einsichten nötigen. An materieller Macht, dies zu bewirken, fehlt es ihr nicht. Wohl aber am politischen Willen, weil mit einem solchen Einlenken das Eingeständnis verbunden wäre, sich gehörig verkalkuliert zu haben. Stattdessen wird darauf gehofft, mit den Sanktionen Russland so zu schaden, dass Putin in die Knie geht und sein Land destabilisiert wird, auch wenn die deutsche Wirtschaft dabei selbst Schaden nimmt.

Angenommen, dieses Kalkül bewahrheitet sich, was höchst zweifelhaft erscheint - welchen Gewinn an Sicherheit in Europa brächte ein gedemütigtes Russland? Merkel habe das Erbe der Entspannungspolitik verspielt, so Sahra Wagenknecht gerade im Bundestag. Das ist richtig und greift zu kurz, Merkel läuft Gefahr, dass sich durch ihre Russland-Politik die Geschichte als Wiederholungstäter erweist. Es gibt aus historischer Schuld nicht nur eine deutsche Verantwortung gegenüber Israel, sie gilt auch gegenüber Russland.

Quelle: der FREITAG vom 27.11.2014. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

28. November 2014

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