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Martin Niemöller 85 Jahre

Vor 120 Jahren, am 14. Januar 1892, wurde Martin Niemöller geboren. Er war U-Bootkommandant im 1. Weltkrieg, Pfarrer, führender Vertreter der Bekennenden Kirche, persönlicher Gefangener Adolf Hitlers, Kirchenpräsident sowie Präsident im Weltrat der Kirchen und ein leidenschaftlicher Friedensaktivist. Martin Niemöller führte ein Leben im Widerstand und mit Widersprüchen. Wir erinnern an diese bedeutsame Persönlichkeit mit einem Beitrag von Helmut Gollwitzer zum 85. Geburtstag Martin Niemöllers im Jahr 1977.

Martin Niemöller 85 Jahre

14. Januar 1977

Von Helmut Gollwitzer

Otto Dibelius, jahrzehntelang sein Partner und Gegenspieler (beides gilt, keineswegs nur das letztere!), selbst Repräsentant einer Epoche und nie kleinlich in seinem Urteil, soll gesagt haben: "Wir werden alle vergessen werden, aber Niemöllers Name wird bleiben im Buche der Geschichte der Kirche." Ob unser Name eingeschrieben ist in einem anderen Buche, im "Buch des Lebens", müsste uns wichtiger sein; aber hier auf Erden darf auch geschichtliche Größe gemessen werden, weil an ihrem Maße ermessen werden kann, was mit einem besonders ausgerüsteten und besonders geführten Menschenleben einer Epoche anvertraut war, was für eine Möglichkeit damit in ihr lag. Nicht also nur, wie einer gewirkt hat, sondern auch, wie er nicht gewirkt hat, wie er gescheitert ist, kann ein Maßstab für geschichtliche Größe sein - und dann freilich auch ein Gericht über seine Epoche, in unserem Falle über die Kirche seiner Epoche.

Wieviel hat Niemöller gewirkt, wie sehr ist er gescheitert? Wir werden uns mit solcher Erwägung, so wenig wir ihr ausweichen dürfen, den Geburtstag nicht verderben lassen, so wenig das Geburtstagskind selbst ihn sich dadurch verderben lässt. Denn er ist nicht nur in seiner Frage nach dem christlichen Gehorsam glaubwürdig und vielen, gerade den jungen Zeitgenossen, eindrücklich geworden. Er ist ebenso glaubwürdig als Zeuge der Vergebung, als Beispiel, wie man aus der Vergebung lebt. Denn er verharrt weder in der Gebärde des Selbstanklägers noch des Anklägers anderer. "Alles hat seine Zeit", sagt der Prediger Salomo, auch die Schärfe der Forderungen, die er den Synoden, und die Schärfe des Widerspruchs, die er seinen politischen und kirchlichen Zeitgenossen nicht erspart hat. Sein Gehorsam kommt aus Vertrauen. Der Herr, dessen Forderung er anmeldet, ist der Herr, dem man vertrauen, dem man alles anvertrauen kann. Deshalb grämt ihn nicht die Frage nach seiner Wirkung, und deshalb kann er sich ohne Arg mit Zeitgenossen zusammensetzen, mit denen er sich scharf auseinandergesetzt hat. Ein grämlicher Mitmensch, gespickt mit Selbstvorwürfen und mit Vorwürfen gegen andere - das ist Martin Niemöller trotz eines so kampf- und leidensreichen Lebens nicht geworden. Darin ist er ein Zeuge der Vergebung, ein fröhlicher Tischgenosse und ein zusammenführender, nicht ein spaltender Mensch.

Das letztere ist besonders merkwürdig, da er vor Trennungen nie zurückscheute. "Bruder Gollwitzer, Sie müssen endlich lernen, dass der Riss nicht erst zwischen uns und den deutschen Christen besteht, sondern zwischen uns und der Mitte verläuft", sagte er mir nach der Synode von Oeynhausen im Frühjahr 1936. Und andererseits: Er hält nichts von der Volkskirche ("Wenn ich jung wäre und erst in die Kirche eintreten müsste, ich würde doch nicht in die Landeskirche gehen, eher vielleicht zu den Quäkern", kann man ihn sagen hören), aber er wird Kirchenpräsident einer Volkskirche und führt deren Geschäfte mit solcher Zufriedenheit, dass ihn die Synode mehrmals wiederwählt. Er war Schüler von Adolf Schlatter, ist ein biblischer Theologe, kein liberaler, aber er erkennt auch Rudolf Bultmann als einen Hörer des Evangeliums und tritt für ihn ein gegen die Verketzerung als Irrlehrer. Seine Antwort auf die Frage, ob er Kommunist sei: "Ich stehe weit links von den Kommunisten bei meinem Herrn Christus, der bei denen steht, die von den Kommunisten links liegen gelassen werden", aber er teilt weder die Verachtung der Parteikommunisten, die in linken Kreisen so verbreitet ist, noch gar die Berührungsangst der Christen vor den Kommunisten. Wenn er vor Kommunisten spricht, beginnt er: "Vom Ochsen könnt ihr nur ein Stück Rindfleisch verlangen", und erzählt ihnen etwas vom Evangelium, und kein Mensch - nur der, der ins Verborgene sieht - weiß, wieviel Samen dabei gesät worden ist. Jedenfalls: nie ist einer, der sich unbefangen und solidarisch mit Kommunisten zusammengesetzt hat, weniger ein nützlicher Idiot gewesen als Martin Niemöller.

Wie oft kann man aus Theologenmund hören: das Evangelium befreie unsere Vernunft aus ideologischen Zwängen zum Sehen der Wirklichkeit und zum Dienst an den Mitmenschen. Das ist wahr; aber wie selten kann man es erleben! Meist bleibt die angeblich befreite Vernunft doch liegen im gemachten Bett der bürgerlich-christlichen Ideologie und ihrer Interessen. Die weit wirkende Glaubwürdigkeit Niemöllers kommt von der ihm tatsächlich geschehenen Befreiung seiner Vernunft, die zugleich eine Befreiung von Furcht ist - und eine Befreiung von den säuberlichen Grenzziehungen, mit denen man lange schon das Evangelium einzäunt, damit es die weltlichen Interessen in Ruhe lässt: Was darf ein Christ, was darf ein Pfarrer, was darf ein Kirchenpräsident? "Wenn euch nicht gefällt, dass ich als Kirchenpräsident vor der Remilitarisierung warne, dann nehmt mir den Kirchenpräsidenten weg und hängt ihn an den Nagel. Ich kann nur fragen, was Jesus von mir will."

Was will Jesus von ihm? Von ihm besonders die Arbeit für den Frieden. "Ich möchte noch etwas für den Frieden tun", das ist in den letzten Jahren die regelmäßige Antwort eines Mannes, der seinen Zeitgenossen als ein leidenschaftlicher Kämpfer erschien, auf die Frage, was ihm am meisten am Herzen liege. Heute, auf sein bisheriges Leben zurückblickend, erscheint es uns als ein Leben für den Frieden, ermutigt durch den Frieden mit Gott, und dafür danken wir ihm.

Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, Januar 1977. 38. Jahrgang, S. 5f.

Veröffentlicht am

14. Januar 2012

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