Der Wind hat sich gedreht und bläst nun auf die Nase von ErdoganVon Memo Sahin und Andreas Buro Erdogan und Davutoglu starteten vor ein paar Jahren eine Politik mit dem Kürzel "Null-Probleme mit den Nachbarn", mit dem sie vor allem in den islamischen Nachbarländern punkten und sich eine Vorherrschafts- und Fürsprecherrolle sichern wollten. Da sie damals vom Westen in Bezug zum Islam als gemäßigt galten und deswegen verwöhnt wurden, sah das Duo die Gunst der Stunde für sich gekommen. Sie begannen, sich nach dem arabischen Frühling stark in die inneren Angelegenheiten von Irak, Ägypten, Syrien, Libyen, Tunesien und Palästina einzumischen. Bevorzugt wurden die islamistisch-sunnitischen Kräfte, an erster Stelle die Moslem Brüder in Ägypten, mit ihren Zweigstellen in Syrien und Palästina (Hamas) und die Al Kaida Ableger in Syrien sowie die Sunniten im Irak, wie Tariq Al Hashimi, der bis vor zwei Jahren Vizepräsident Iraks war und später sich nach Ankara abgesetzt hat. Auch zu sunnitischen Parteien und Stämmen hatte Ankara eine besondere Beziehung. Abgesehen von den Fehlern der schiitischen Nuri Al-Maliki Regierung in Bagdad, die das sunnitische Gebiete vernachlässigt hat, und nur auf eine Klientelpolitik zu Gunsten der Schiiten konzentriert war, versuchte die AKP die Unzufriedenheit der Sunniten auszunutzen, in dem sie z.B. die Fernhaltung und Boykottierung der sunnitischen Parteien im Bagdader Parlament schürte und den damaligen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi, der unter Terror-Verdacht stand, aufnahm. Ziel dieser Einmischung war, die schiitische Achse, die aus Iran, Syrien und Hisbollah im Libanon bestand, zu schwächen und in allen Hauptstädten dieser Länder sunnitische Verbündete zu installieren. Zur Erlangung dieses Zieles war alles legitim, auch die Beherbergung, militärische Ausbildung, logistische Unterstützung und Einschleusung der islamistischen Djihadisten nach Syrien und anderswo. Nebenbei gesagt: In den letzten 10 Jahren hat Erdogan etwa fünf Milliarden Dollar aus seinem geheimen Fond verwendet. Wohin diese Steuergelder geflossen sind, weiß außer Erdogan niemand, vielleicht noch der Geheimdienst der Türkei MIT. Dies alles störte wiederum das Jahrzehnte lange gehaltene Gleichgewicht zwischen der schiitischen und der sunnitischen Achse im Nahen- und Mittleren Osten. Nach dem die Amerikaner die Absicht der Türkei verstanden hatten, gingen sie Schritt für Schritt gegen diese Politik vor. Zunächst wurde der Schützling der Türkei, die Al-Nusra Front in Syrien, im Herbst 2012 auf die Terrorliste gesetzt. Im zweiten Schritt wurde im Sommer 2013 der Putsch gegen die von der türkischen AKP manipulierten Moslem-Brüder in Ägypten besiegelt. Parallel dazu wurden die gestörten Beziehungen zum Iran vorsichtig repariert und über die Versuche zum Sturz von Assad in Syrien reden außer Erdogan nur noch wenige. Ende November 2014 teilte die israelische Regierung mit, die kürzlich festgenommenen 34 Hamas Mitglieder gehörten zu einem Terror-Netzwerk, dessen Kommandozentrale sich in der Türkei befände. (SZ, 29.11.2014) Die innerirakischen Probleme ermöglichten Erdogan, sich den irakischen Kurden anzunähern. Streitpunkte zwischen Kurden und Maliki waren: Die Klärung der Zugehörigkeit der unter der Bagdader Zentralregierung stehenden kurdischen Gebiete (Kirkuk, Khanaqin und Sindschar) durch ein Referendum, das laut irakischer Verfassung Artikel 140 seit 2007 immer wieder verschoben wurde; Nicht-Zahlung der Gehälter der kurdischen Beamten und Peshmargas, die verfassungsgemäß Teil der irakischen Armee sind, und Nicht-Zahlung der in der Verfassung festgelegten 17 Prozent des Staatsbudgets an die kurdische Regierung. Diese Verweigerungspolitik der Maliki-Regierung bewirkte bei den Kurden Misstrauen und belastete die innerirakischen Beziehungen. Dies führte die irakischen Kurden wiederum politisch und wirtschaftlich in die Nähe Ankaras, mit dem lukrative Ölgeschäfte betrieben wurden. Mit den sich intensivierenden Politik zwischen Ankara und Hewlêr (Erbil), Hauptstadt der kurdischen Regionalregierung, waren die USA nicht einverstanden und versuchten immer wieder die gestörten Beziehungen zwischen Bagdad und Hewlêr zu glätten. Erst mit dem Einmarsch der IS am 10. Juni in Mossul und am 3. August in das Gebiet Sindschar der jesidischen Kurden hat sich die Windrichtung auch im Irak gedreht und bläst nun auf die Nasen von Erdogan und Davutoglu. Aktuell haben die Akteure der Politik "Null-Problem mit den Nachbarn" keine Botschafter mehr in Ägypten, Libyen, Syrien und Israel. Die USA agieren heute als Verbündete der "guten" Kurden im Irak wie auch der "bösen" Kurden in Syrien. Sie bombardieren die Stellungen der IS im Irak und Syrien und liefern sogar Waffen, wie es am 19. Oktober der Fall war, an die "bösen" Kurden der PKK in Kobanê. Am 29. Oktober, dem Tag der Republikgründung der Türkei, durften dann sogar kurdische Peshmergas aus Irakisch-Kurdistan kommend die türkische Grenze nach Syrien überschreiten. Aufgrund des Drucks der USA musste die Al-Maliki-Regierung den Hut nehmen. Die irakischen Kurden wurden gezwungen, wieder ihre Rolle im irakischen Parlament zu spielen und sich an der Regierung von Haidar Al-Abadi zu beteiligen. Der neue irakische Premier besuchte die kurdische Hauptstadt Hewlêr und der kurdische Ministerpräsident erwiderte dies mit einem Besuch in Bagdad. Anfang Dezember meldeten die Agenturen, dass sich beide Seiten über wesentliche Konfliktpunkte geeinigt hätten. Laut dieser Vereinbarung werden 17 Prozent des Staatsbudgets Iraks nach Kurdistan fließen, etwa eine Milliarde Dollar im Monat. Die offenstehenden Gehälter der Beamten und Peshmargas in Höhe von einer Milliarde Dollar werden schnellstens ausgezahlt. Als Gegenleistung werden die Kurden aus den umstrittenen Feldern von Kirkuk 300.000 Fass Öl und aus den unter kurdischer Regie stehenden Ölfeldern 250.000 Fass an die Zentralregierung in Bagdad liefern. Parallel zu den Annäherungsschritten im Irak versammelten sich auf Einladung des Präsidenten der Region Kurdistan/Irak Mitte Oktober 2014 Akteure aller kurdischen Parteien aus Syrien. Teilgenommen haben neben den Parteien in der Einflussphäre der irakischen KDP von Barzani auch die Schwesterpartei der PKK in Rojava/Syrisch-Kurdistan die PYD (Partei der Demokratischen Union). Nach einer Marathonsitzung von neun Tagen einigten sie sich auf Zusammenarbeit und Bildung einer gemeinsamen politischen Struktur in Rojava in Syrien. Seit dem Überfall der IS auf die kurdische Stadt Kobanê versuchen die kurdischen Verteidigungskräfte (YPG) auch mit Teilen der syrischen säkularen bewaffneten Kräfte zusammenzuarbeiten. Weite Teile der Freien Syrischen Armee (FSA) sind allerdings zum IS und der Al-Nusra Front übergelaufen. Selbst der Oberkommandierende der FSA musste sich laut türkischen Medien in die Türkei absetzen. Was in Syrien auf dem Felde übrig blieb, sind die bis vor wenigen Wochen als "böse" bezeichneten Kurden. Wie im Irak kämpfen sie gegen den IS. Wie der Westen im Irak mit den Kurden und der Zentralregierung zusammenarbeitet, muss er nun auch mit den Kurden in Syrien zusammenarbeiten, wenn er die IS-Aggressoren eindämmen und vertreiben will. Wenn das Assad-Regime sich nach fast vier Jahren Bürgerkrieg immer noch an der Macht hält, ist dies nicht nur der Unterstützung durch Russland und Iran, sondern auch durch Minderheiten im Lande, wie der arabischen Alawiten, einem beachtlichen Teil der sunnitischen Bourgeoisie und wie der Christen zu verdanken. Die Angst vor dem IS-Terror ist viel tiefer als man es sich in Europa vorstellen kann. Bei der Lösungssuche müssen die Wünsche und Ängste aller ethnischen und religiösen Volksgruppen berücksichtigt werden. Die Dezentralisierung Iraks und die irakische Verfassung können hierfür eine Grundlage bieten, sicher auch die Vorgaben und Erfahrungen in dem multi-ethnischen und multi-religiösen Rojava, das bis heute von Ankara bekämpft wird. Quelle: Dialog-Kreis - Nützliche Nachrichten 11-12/2014. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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