Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Uri Avnery: Kann der Herzog König werden?

Von Uri Avnery

AM MONTAG stimmte die 19. Knesset dafür, sich aufzulösen, und das weniger als zwei Jahre nach ihrer Wahl. Für viele der Abgeordneten war es ein trauriger Tag, etwas wie ein politisches Harakiri. Sie haben keine Chance, wiedergewählt zu werden. Einige kann man so leicht vergessen, dass ich weder ihre Namen noch ihre Gesichter behalten konnte.

Am Tag danach explodierte in den Fernsehnachrichten eine politische Bombe. Kanal 10, der ein wenig liberaler als die beiden anderen ist, veröffentlichte die Ergebnisse eines angesehenen Meinungsforschers bei einer schnellen Meinungsumfrage in der Öffentlichkeit.

Die Ergebnisse waren verblüffend.

DAS ERSTE Ergebnis war, dass die Arbeitspartei nach der erwarteten Union mit Zipi Livnis "die Bewegung" die größte Partei in der nächsten Knesset sein wird.

Die Israelis rangen nach Luft. Was? Die Arbeitspartei? Eine Partei, die viele schon für klinisch tot gehalten hatten?

Natürlich ist das die erste von Hunderten von Umfragen, die vor dem Wahltag, dem 17. März 2015, stattfinden werden. Aber die Ergebnisse hatten ihren Einfluss. (Zwei andere haben sie seitdem bestätigt.)

Das zweite Ergebnis war, dass der Likud, der an zweiter Stelle steht, gleich viele Sitze bekommen wird, ob er nun von Benjamin Netanjahu oder von seinem Herausforderer Gideon Sa’ar, einem unscheinbaren Parteifunktionär (und früher einmal einer meiner Angestellten), geführt wird. Als Innenminister zeichnete er sich hauptsächlich durch die Verfolgung afrikanischer Asylsuchender aus. (Inzwischen hat sich Sa’ar zurückgezogen.)

Ist das möglich? Netanjahu der Große, der "König Bibi" des Time-Magazins, ist nun kein Wahlmagnet mehr?

Ja’ir Lapid, der Held der letzten Wahlen, schrumpfte auf seine halbe Größe. Wie der Rizinus im Buch Jona "welcher in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb".

Aber die wahre Sensation der Umfrageergebnisse war etwas anderes: Zwar führte Netanjahu noch die Liste der bevorzugten Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten an, aber der Führer der Arbeitspartei Jitzchak Herzog kam so nahe an ihn heran, dass es kaum einen Unterschied ausmachte.

Noch vor einem Monat wäre dieses Ergebnis als glänzender Scherz erschienen. Zu der Zeit hatte Netanjahu noch unanfechtbar die Führung inne und überragte alle ihn umgebenden Zwerge. Die gängige Meinung war, dass es "niemanden außer ihm gibt".

Jetzt gibt es einen. Herzog! Herzog?

HERZOG IST ein deutscher Name. Jitzchak, allgemein Buji genannt (so nannte ihn seine Mutter als Kind), ist tatsächlich "aristokratischer" Abkunft.

Sein Großvater Jitzchak Herzog (nach dem er nach jüdischer Tradition genannt wurde) war der Oberrabbiner von Irland. Er hatte einen so guten Ruf, dass er in den 30er Jahren zum aschkenasischen Oberrabbiner von Palästina berufen wurde. Er war (vergleichsweise) liberal.

Sein Sohn Chaim studierte in England, zeichnete sich als Boxer aus und trat im Zweiten Weltkrieg in die britische Armee ein. Er diente als Nachrichtendienstoffizier in Ägypten, wo er die Tochter aus reicher ortsansässiger jüdischer Familie Susan Ambasch kennenlernte.

Die beiden Mädchen der Familie Ambasch wurden an Samstagen in die Synagoge geschickt, um jüdische Offiziere zum Sabbatmal zu sich nach Hause einzuladen. An einem Sabbat fingen sie zwei ein: der eine war Chaim Herzog und der andere Aubrey (Abba) Eban. Sie heirateten sie.

Im 1948er Krieg trat Chaim Herzog als Nachrichtenienstoffizier in die neue israelische Armee ein und wurde schließlich General und Chef des Armeenachrichtendienstes. Nach Verlassen der Armee gründete er das, was später die größte und reichste Anwaltskanzlei des Landes werden sollte.

Aber seine wahren Ruhmestage waren die am Vorabend des Sechstagekrieges. Drei Wochen lang war Israel Opfer eines Anfalls akuter Angst. Einige sprachen von einem bevorstehenden zweiten Holocaust. In dieser Zeit bestritt General Herzog ein tägliches Radioprogramm und es gelang ihm mit seiner nüchternen, sensiblen Analyse, in der er die vor uns liegende Gefahr weder kleinredete noch übertrieb, die öffentliche Meinung zu besänftigen.

Das Volk belohnte ihn mit der Staatspräsidentschaft. Auf diesem Posten war er eher britisch als israelisch. Ein Beispiel: Zu einer Zeit, als ich von allen Anführern des Establishments boykottiert wurde, lud er mich zu einem privaten Abendessen mit ihm in die Präsidentenresidenz ein. Wir hatten ein angenehmes Gespräch ohne besonderes Thema. Er wollte mich nur kennenlernen.

Ich nutzte die Gelegenheit für eine Bitte um sein Einschreiten bei den Sicherheitsvorkehrungen am Ben-Gurion-Flughafen, wo arabische Bürger routinemäßig ausgesondert und auf demütigende Weise durchsucht wurden (und werden). (Er versprach es, aber es kam nicht viel dabei heraus.)

Ein ähnliches Abendessen hatte ich mit seinem Bruder Ja’akow, der damals Generaldirektor des Büros des Ministerpräsidenten war. Von den beiden Brüdern galt Ja’akow als außerordentlich intelligent. Damals wie heute predigte ich die Zwei-Staaten-Lösung, die damals in Israel und in der gesamten Welt ganz und gar zurückgewiesen wurde. Beim Abendessen sagte Ja’akow, er würde gerne meine Argumente für diese Lösung hören und nahm mich ins Kreuzverhör - auch das war wieder eine eher britische als israelische Haltung.

JITZCHAK HERZOG hatte auch im Armeenachrichtendienst gedient, bevor er zum Kabinettssekretär ernannt wurde. Er trat der Arbeitspartei bei, wie es auch sein Vater getan hatte, wurde Abgeordneter in der Knesset und Minister in einigen kleinen Ministerien.

Herzog (54) ist von zartem Körperbau, blauäugig, hat einen hellen Teint und sieht eher britisch als israelisch aus. Er spricht leise, drückt sich gemäßigt aus und hat keine Feinde. Er ist das genaue Gegenteil des typischen israelischen Politikers.

Er überraschte alle damit, dass er eine Vertreterin dieser Gattung bei der Bewerbung um den Vorsitz in der Arbeitspartei ausstach. Scheli Jachimowitsch ist laut, geradeheraus und angriffslustig, eine entschlossene Sozialistin, die, ohne zu zögern, anderen Leuten auf die Füße tritt. Sie brachte zu viele Kollegen gegen sich auf und wurde deshalb abgewählt. Buji wurde zum Parteiführer und damit auch zum "Führer der Opposition". Dieser Titel und Status wird von Gesetzes wegen dem Chef der größten Oppositionspartei beigelegt.

(Einer der kleinen Scherze der Politik: Herzog war im Begriff, diesen Titel und die damit verbundenen Vorteile zu verlieren, als Netanjahu Lapid entließ, dessen Fraktion in der Knesset größer als die Arbeitspartei ist. Da die Knesset sich auflöste, erbte Lapid den Titel nicht.)

ALS HERZOG die Parteiführung übernahm, vergeudete er keine Zeit, sondern erklärte sich zum Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten. Das löste allgemein ein mildes Lächeln aus.

Jetzt scheint es zum ersten Mal jedenfalls möglich zu sein. Wenn auch nicht wahrscheinlich. Aber das Unmögliche ist möglich geworden. Das Undenkbare denkbar.

Das ist an sich schon eine Revolution.

In den letzten Jahren waren die israelischen Medien von der Idee besessen, "Israel bewegt sich nach rechts", von der Idee, dass Netanjahu, so schlimm er auch ist, doch immer noch denen vorzuziehen sei, die ihm unaufhaltsam folgen würden: ausgesprochene Faschisten, Kriegstreiber, Araberfresser.

Es war Mode zu erklären, die Linke sei erledigt, tot, dahingeschieden. Unter den Kommentatoren - besonders unter den linken - war es de rigueur geworden, die Linke und die übrig gebliebenen Linken mit Hohn und Spott zu überschütten: Die armen Jungs (und Mädels natürlich). Sie sehen nicht, was los ist. Sie machen sich Illusionen. Sie pfeifen in der immer dichter werdenden Dunkelheit.

Und plötzlich gibt es eine Chance - eine geringe Chance, aber immerhin eine Chance - für die Linke, wieder zu Kräften zu kommen.

WARUM? WAS ist geschehen?

Die einfachste Erklärung ist, dass die Leute von "Bibi" einfach die Nase voll hatten. Netanjahu ist jemand, von dem man leicht die Nase voll bekommt. Tatsächlich ist ihm das schon einmal passiert. Seine allgemein unbeliebte Frau Sarah’le ist da auch nicht gerade eine Hilfe.

Es geht aber, glaube ich, viel tiefer. Die Umfrage zeigt, dass der Likud mit einem anderen Kandidaten für die Führung nicht besser abschneiden würde. Hat der Likud nachgelassen?

Zwei Faktoren haben dazu beigetragen:

Erstens Mosche Kachlon. Er war ein typischer Likud-Anhänger und bei seinesgleichen beliebt, aber dann verließ er plötzlich ohne Angabe von Gründen die Partei.

Als Chef des sehr unwichtigen Kommunikationsministeriums war Kachlon außerordentlich beliebt geworden. Er legte sich mit den Managern der Mobiltelefon-Industrie an, brach ihr Monopol, führte den Wettbewerb zwischen den einzelnen Betreibern ein und senkte damit die Preise um die Hälfte. Da man sich nur schwer einen jungen Israeli oder eine junge Israelin ohne am Ohr festgeklebtes Mobiltelefon vorstellen kann, wurde er dadurch zu ihrem Helden.

Jetzt hat Kachlon, der zwei Monate jünger als Herzog ist, angekündigt, er werde eine neue Partei schaffen. Ihr Name ist "Kulanu" (Wir Alle) Bisher hat sie zwar noch keine Kandidaten, jedoch taucht sie in den Umfragen schon mit 10 Sitzen auf - die meisten davon verdankt sie ehemaligen Likud-Wählern.

Das ist aus verschiedenen Gründen höchst bedeutsam. Einmal besteht die Grundwählerschaft des Likud aus orientalischen Juden, allerdings war Menachem Begin und ist Netanjahu und waren oder sind die meisten ihrer Kollegen Aschkenasen. Kachlon dagegen ist ein so orientalischer Jude, wie man ihn sich nur wünschen kann: Seine Eltern kamen aus Tripoli (Libyen), sie haben sieben Kinder, Mosche wuchs in einem Stadtgebiet armer Einwanderer auf.

Die Vorherrschaft des Likud in der Gemeinschaft der orientalischen Juden zu brechen ist äußerst wichtig. Besonders da Kachlon Menachem Begin als einen Führer zitiert, der die gesamte Sinaihalbinsel für den Frieden mit Ägypten hergab. Sein "gemäßigter Likud" könnte die Bilanz zwischen Rechts einerseits und Mitte-Links andererseits in der nächsten Knesset verändern. Und eben darauf kommt es ja an.

Der zweite Faktor: Auch Bennetts extrem rechte religiös-nationalistische (einige sagen: faschistische) Partei "Jüdisches Heim" gewinnt an Kraft; auch sie gewinnt dem Likud Wähler ab. Naftali Bennett findet, geschmeidig und liebenswürdig, wie er ist, und mit der kleinsten Kippah auf Erden auf dem Kopf auch bei säkularen Wählern Anklang.

Er ist 12 Jahre jünger als Herzog und Kachlon.

Und dann sind traditionellerweise die orthodoxen Parteien das Zünglein an der Waage. Da sie sich weder um Links noch Rechts kümmern und niemandem als sich selbst verpflichtet sind, können sie zwischen Links und Rechts wählen.

Lange Zeit waren sie die Verbündeten der Arbeitspartei. In den letzten Jahrzehnten waren sie automatisch zu Verbündeten der Rechten geworden. Nach den letzten Wahlen gab Netanjahu sie wegen des ultra-säkularen Lapid auf. Jetzt wollen sie sich rächen. Da Herzog der Enkel eines Oberrabbiners ist, kommt er für sie für eine Wahl infrage.

HERZOG ERRANG seinen ersten Erfolg im gegenwärtigen Wahlkampf dadurch, dass er mit Zipi Livni eine allgemeine Liste aufstellte. Es hängt jetzt von ihm ab, die Dynamik zu erhalten und sich - möglicherweise - mit Lapid, Kachlon und Meretz zu verbünden. Wenn er in den Wahlen erfolgreich ist, muss er den Orthodoxen und den Arabern die Hand hinstrecken.

In der letzten Woche habe ich diese Vision skizziert. In dieser Woche ist sie einen kleinen, aber bedeutsamen Schritt vorangekommen.

Kann der Herzog König werden? Durchaus - jedenfalls sagen uns das die Geschichtsbücher.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

Weblinks:

Veröffentlicht am

13. Dezember 2014

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von