Charlie Hebdo: 10 Fehler, die wir jetzt nicht machen dürfenVon Roland Rottenfußer Ich bin kritischer Journalist, ich bin Satiriker und ich habe schon Witze über Religionsgemeinschaften gemacht. Naheliegenderweise lässt mich der Anschlag auf das Satire-Magazin "Charlie Hebdo" in Paris nicht unberührt. Entsetzlich die Vorstellung, bewaffnete Täter könnten ein Redaktionsgebäude (und ich habe in solchen gearbeitet) stürmen und die Journalisten niederschießen. Trotzdem hilft in dieser Situation nur Besonnenheit. Weder gibt der Anschlag den Pegidisten und anderen Rechten Recht, die schon immer wussten, dass der Islam und alles Fremde bei uns nichts zu suchen haben; noch dürfen wir unwidersprochen hinnehmen, dass Scharfmacher jetzt wieder schärfere Überwachungsmaßnahmen oder Kriege mit islamischen Ländern fordern. Es ist Gewalt, nicht "der Islam", gegen die wir uns jetzt unmissverständlich aussprechen müssen. Jeder kann jetzt das Meinungsklima in der Gesellschaft mit beeinflussen, indem er die folgenden (oder eigene) Argumente anführt. 1. Den Islam jetzt mit besserem Gewissen hassen.Unvermeidlich werden sich "abendländische Patrioten" jetzt bestätigt fühlen. "Man sieht ja, wohin es führt, wenn Softies und Kanaken-Versteher die Politik bestimmen. Das muss jetzt anders werden." Sich als Protest gegen eine unmenschliche Tat einer Bewegung anschließen, die Intoleranz gegen Muslime und Härte gegen Flüchtlinge (wieder Unmenschlichkeit) fordert, kann nicht der Weg sein. Vernünftige Muslime sehen ihre Religion durch den Anschlag missbraucht und verraten. Sie weisen gerade jetzt auf die friedlichen Aspekte des Islam hin. Keiner käme auf die Idee, alle Norweger seien verdächtig - wegen Breivik. Es gibt keine Rechtfertigung für pauschalisierende Hetze gegen eine bestimmte Gruppe. Rechte und Nazis sind keine glaubwürdigen "Entrüster". Sie tragen in jedem Land (in Frankreich mit der Le Pen-Partei) zu einem gereizten, hasserfüllten Klima zwischen ursprünglichen Einwohnern und "Fremden" bei. Sie werden nach dem Anschlag wieder dazu beitragen, alles nur noch schlimmer zu machen. 2. "Jetzt haben wir auch unseren 11. September"."Wir", das sind in diesem Fall die Europäer. Sollen wir jetzt auch wie 2011 in eine Sicherheits-Hysterie verfallen, Kriege gegen mögliche Ursprungsländer des Terrors lostreten? Auf der Welt sähe es dann bald so finster aus wie in den Gehirnen der Mörder. Besonnene Menschen müssen jetzt klar und öffentlich sagen: Mit uns nicht (noch mal)! Auch Parolen der Art "Nach diesem Anschlag ist nichts mehr wie es vorher war" sind übertrieben und eher der Absicht bestimmter Akteure geschuldet, einen Epochenwechsel hin zu mehr Krieg und Repression einzuleiten. Deshalb ist Vorsicht geboten. 3. Die Bürgerrechte aushebeln.Mehr Kontrolle, mehr Überwachung, härtere Strafen, schnellere Abschiebung … diese Forderungen werden so sicher gestellt wie das "Amen" in der Kirche. Die Falken stehen schon in den Startlöchern und freuen sich klammheimlich über jeden Anschlag, der ihrem repressiven Weltbild Nahrung gibt. Zur Erinnerung: Mord ist schon jetzt verboten. Um mangelnde Effizienz der Polizeiarbeit mache ich mir keine Sorgen, eher "zu große" Effizienz, "Sicherheitszonen", verdachtsunabhängige Kontrollen, das endgültige Ende jeder Privatsphäre. Die Mörder (wenn die übliche Deutung des Geschehens zutrifft) versuchten eine Welt-Diktatur zu etablieren, in der Angst regiert und Meinungsfreiheit so weit geschrumpft wird, bis sie in deren enges Weltbild passt. Als Reaktion darauf dürfen wir nichts tun, das unser Gesellschaftsgefüge auch nur minimal in Richtung Diktatur verschiebt, sonst hätten wir wirklich den "Beelzebub" statt des "Teufels" an der Macht. Marine Le Pen fordere jetzt die Vorratsdatenspeicherung, Seehofer die Einführung der Todesstrafe. Oder war es umgekehrt? Man sieht, woher der Wind weht. Auch das kennen wir vom 11. September her. Kriegstreiber und Repressions-Appartschiks, versuchen die erzeugte aufgewühlte Stimmung gern zu nutzen, um etwas sonst nicht Durchsetzbares durchzusetzen. (Siehe auch Naomi Kleins Buch: "Die Schock-Strategie"). Die Mörder können sich im Grunde freuen, so einen Eindruck zu hinterlassen. Umgekehrt: Durch nichts können wir ihre Tat stärker neutralisieren und zunichte machen als damit, dass alle so weiter machen wie zuvor. 4. Blutige Kriege für das Gute.Wir "ehren" die unschuldigen Opfer nicht, indem wir anderswo weitere unschuldige Opfer erzeugen. Genau dies ist aber im Irak- und Afghanistan-Krieg geschehen, die u.a. unzähligen Kindern das Leben gekostet haben. Allein Drohnen-Angriffe, die von der US-Regierung befohlen wurden, haben bis 2012 176 Kindern (!) das Leben gekostet. Und das ist nur ein besonders abstoßender Ausschnitt der ganzen brutalen Wahrheit. Die Schlussfolgerung aus dem entsetzlichen Geschehen muss sein: "Keine (weitere) Gewalt" und nicht "Lass uns dasselbe tun wie die Mörder - nur mit gutem Gewissen, denn die haben ja angefangen". 5. Das Ereignis isoliert betrachten.Ohne dass darin eine Rechtfertigung für die Mörder läge, muss man sich bewusst machen, dass der Anschlag nicht im luftleeren Raum stattfand. Es ist zu fragen: Wie wird eine Mentalität gezüchtet, die dazu führt, dass jemand Mitglied einer Terror-Zelle wird? Wie entstehen Hoffungslosigkeit und Gewaltbereitschaft, wie entstehen Hass und Wut auf den Westen und seine "Werte"? Laut Bericht der "Abendzeitung" hatte einer der beiden Attentäter angegeben, er sei durch die Folterfotos aus Abu Ghraib radikalisiert worden. Das sollte uns nachdenklich machen. Der "christliche" Westen sollte gemäß dem Jesus-Wort beginnen, den Balken im eigenen Auge zu erkennen. Die Radikalisierung bestimmter islamischer Kreise ist auch eine Reaktion darauf, dass sich der Westen mit seinen "Werten" zutiefst unglaubwürdig gemacht hat, sich als Zwingherr der Welt aufspielt und Blutbäder angerichtet hat, mit denen verglichen der Anschlag von Paris eher ein kleineres Scharmützel war. 6. Vergessen, wer die größten Terroristen sind.Diejenigen, die Kriege inszenieren und millionenfach Leid und Tod über Menschen bringen: überwiegend also staatliche Institutionen, gewählte "Volksvertreter" zumeist. Über Mord sind Mächtige immer nur dann entrüstet, wenn er von anderen begangen wird. Mordet man selbst, sind dies "friedensschaffende Maßnahmen", "Humanitäre Einsätze" usw. Die "Je suis Charlie"-Bewegung gefällt mir insofern als sie über Solidarität hinaus Identifikation mit den Opfern ausdrückt. Wo aber blieben "Je suis"-Bekundungen, als unter dem Kommando von Oberst Klein etwa 140 Menschen in Afghanistan aufgrund eines "Irrtums" tot gebombt wurden? Wo bleibt die Solidarität mit den Toten von Hartz IV (laut Angaben der Webseite schindersliste.wordpress.com sind es schon ca. 45 in direkter oder indirekter Folge der Verelendungspolitik) oder mit den Opfern der globalen Schuldenwirtschaft? In Zeiten einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich haben alle "Wir müssen jetzt alle zusammenhalten"-Parolen auch etwas Heuchlerisches, jedenfalls von Seiten staatlicher Stellen. Schon gar nicht sollten wir durchsichtigen Parolen wie "In Zeiten der Not gibt es keine Parteien mehr, nur noch Franzosen/Deutsche/Europäer …" aufsitzen. Mit dieser Art von Gehirnwäsche wurden Weltkriege losgetreten, haben auch US-Präsidenten ihre Bevölkerung auf grausame Feldzüge eingeschworen. 7. Nur noch "darüber" sprechen.Das Ereignis ist schockierend, sollte aber nicht wie ein Magnet all unsere Gedanken über Wochen und Monate ansaugen. Alles, was wir "vorher" für wichtig hielten, bleibt auch jetzt wichtig, ob das nun der Kampf gegen das unmenschliche Hartz IV-System ist, der Rechtsruck in der Bevölkerung, unser ungerechtes Geld- und Wirtschaftssystem oder das Leid der Tiere. Autoritäre Kräfte in jedem Staat erwecken nur allzu gern den Eindruck: "Es geht jetzt nur noch um Terror und unseren Kampf dagegen". Sie lieben ein Volk, dass verängstigt auf den möglichen Terror wie ein Kaninchen auf die Schlange starrt und schutzsuchend bei einem starken Papa Staat unterkriecht. Ein Volk, das seine Hände freiwillig den Ketten darreicht, mit denen man es binden will und sich von den Mächtigen in von ihnen geschaffenen Denkgefängnissen in Schutzhaft nehmen lässt. Die auf Krawall gebürsteten Medien lieben das Thema "Terror" gleichermaßen, wodurch eine Atmosphäre der Angst und Erbitterung im Volk geschürt wird. In dieser Atmosphäre kann (falsche) Politik leichter durchgesetzt werden - wenn wir uns von ihr ergreifen lassen. Ich empfinde auch bei der jetzt gehypten "Je suis Charlie"-Bewegung ein gewisses Unwohlsein. Wenn nämlich flächendeckend "jeder" zu sagen scheint: "Ja, auch ich empfinde in diesen Tagen exakt das, was alle empfinden und was zu empfinden der Anstand gebietet", ziehe ich mich lieber etwas zurück. Der Sender "Arte" platziert bei allen Sendungen seit Tagen einen Button: "Je suis Charlie". Ich interessiere mich (wie man sieht) für das Thema, aber das Verhalten von Arte nimmt mir das Recht, beim Anschauen einer Sendung an etwas anderes als an "Charlie" zu denken. 8. Berechtigte Anliegen ignorieren, weil sie im Einzelfall in Mord mündeten.Ich behaupte, dem RAF-Terror, der sich in seinen Mitteln drastisch vergriffen hat, lag ein rationaler Kern zugrunde. Die Kritik am mörderischen Vietnam-Krieg z.B. oder Empörung über den schäbigen Verrat der Staatsmacht an seinen demonstrierenden Bürgern am Tag des Schah-Besuch (2. Juni 1967). Und der Terror der Palästinenser - geschah und geschieht er nicht aus purer Verzweiflung, weil das eigene Anliegen, solange man friedlich und unauffällig agiert, vor der Weltöffentlichkeit ignoriert wird? Man darf den Mördern nicht zu Willen sein und z.B. gerade jetzt aus Angst auf Islamkritik verzichten; man sollte aber Muslimen zuhören, die ohne zu Gewalt zu greifen, traurig und verärgert über (in ihren Augen) herabwürdigende Äußerungen über ihre Religion sind. Menschen, die bereit sind, für ihre Weltanschauung zu morden, sind nur die Spitze eines Eisbergs. Wenn wie der "Spitze" nicht zuhören wollen, weil sie sich durch Gewalt als Gesprächspartner disqualifiziert hat, dürfen wir es dennoch nicht versäumen, den "Eisberg" zu untersuchen. In diesem kann sich eine legitime Grundstimmung verbergen: "Der Westen nimmt unsere Kultur nicht ernst. Wir fühlen uns gedemütigt und ausgegrenzt." 9. Schlechte Islam-Witze aus Trotz.Um zu beweisen, dass sich Karikaturisten und Satiriker nicht von Terror beeindrucken lassen, könnten sie jetzt eine Flut von Witzen über die islamische Welt ergießen. Vielleicht Mohammed-Karikaturen im Zusammenhang mit Sexualität und Fäkalien? Haha. Ich bin strikt gegen Verbote von Satiren, gegen Mord ohnehin. Das heißt aber nicht, dass alle derartigen Erzeugnisse, z.B. in der "Charlie Hebdo" oder der "Titanic" gut waren. So wenig ich Marine Le Pen mag, ich halte es nicht für gute Satire, sie wie in "Charlie" mit einem Hitler-Bart anstelle der Schambehaarung zu zeichnen. Ich bin selbst ein spiritueller Mensch und finde manche Karikaturen, die ich gesehen habe nicht nur geschmacklos, sondern aggressiv antispirituell. Ich befürchte als Ergebnis der aktuellen Diskussion eine "Querfront" zwischen den Religionshassern der politischen Linken und einer Rechten, die gemäß dem christlichen Gebot des Feindeshasses speziell eine bestimmte Religion, den Islam, hasst. Die schönen und friedfertigen Aspekte dieser Religion geraten dadurch gänzlich aus dem Blickfeld. Man sollte - nicht aus Angst, sondern aus Mitgefühl und Respekt - den Muslimen und anderen Religionen eine derartige Trotzkampagne ersparen. An allen Fronten unserer Zeit - speziell im angeblichen "Kampf der Kulturen" - sind jetzt Frieden schaffende Maßnahmen gut, sollten Eskalationen vermieden werden, sollten sich vernünftige "Ureinwohner" und Migranten nicht von Deutschnationalen, Islamfaschisten und autoritären neoliberalen Bellizisten aufeinander hetzen lassen. 10. Die Täter (oder wahlweise: deren Feinde) hassen.Es ist besser, sich nach Möglichkeit nicht in Hass auf die Mörder hineinzusteigern. Und auch nicht auf die Rechten und Nazis, die jetzt verstärkt gegen den Islam, gegen Migranten und Flüchtlinge hetzen werden. Würden wir dies zulassen, hätte der Hass einen weiteren Sieg errungen, indem es ihm gelänge, uns seinem Einflussbereich hinzuzufügen. Stattdessen müssen wir unseren Standpunkt der Menschlichkeit, der Toleranz und des Friedens unbeirrbar gegen alle verteidigen, die von verschiedenen Seiten versuchen werden, dies als naives Gutmenschentum abzutun. Wer sich wie wir moralisch überlegen wähnt, sollte dies durch sein Bewusstsein, seine Worte und Taten auch belegen. Zeigen sich Gruppierungen, die unseren Wertvorstellungen drastisch widersprechen, ist dies eine Gelegenheit, Frieden einzuüben - ohne dass inakzeptable Meinungen auf uns abfärben dürfen. Ich möchte nicht zulassen, dass immer die extremsten, dümmsten und brutalsten Vertreter einer Weltanschauung meine Tagesordnung und meinen Seelenzustand dominieren. Es stört mich, dass Tagesnachrichten die Macht haben, meine Stimmung nachhaltig zu verdunkeln. In meinem Geist soll Raum bleiben, mich mit den Dingen und Menschen zu beschäftigen, die ich liebe - statt nur mit denen, die ich verabscheue. Gleichzeitig kommen wir nicht umhin, Trauer und Wut zu empfinden, uns gegen bestimmte Kräfte auch zu wehren. Beide Ziele sind in der Praxis nicht leicht zu erreichen, aber es ist gut, es als Ziel vor Augen zu haben. Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 12.01.2015. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Roland Rottenfußer. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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