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Werte: Ein enormer Schub im Massenbewusstsein

Die Hartz-IV-Reform hat soziale Normen verändert. Es wird wieder akzeptiert, Menschen in nützliche und unnütze zu unterteilen

Von Christoph Butterwegge

Das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, besser als Hartz IV bekannt, ist nun also zehn Jahre in Kraft. In dieser Zeit haben sich der Sozialstaat und die deutsche Gesellschaft grundlegend verändert. Für den damit verbundenen Wertewandel gibt es bisher aber nur wenig Sensibilität: Erwerbslose, Arme und ethnische Minderheiten stoßen heute auf noch größere Ressentiments. Markt, Leistung und Konkurrenz sind dagegen zentrale Bezugspunkte der Gesellschaftsentwicklung geworden. Die Maxime "Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt" findet 2015 erheblich mehr Widerhall als zu einer Zeit, da man die SPD mit sozialer Gerechtigkeit und Solidarität als traditionellen Grundwerten noch für die berufene Interessenvertreterin der Schwächeren hielt.

Über die Nöte der Arbeitslosengeld-II-Bezieher und die Disziplinierungseffekte der Reform für Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften hinaus ist es daher auch wichtig, bei einer Zehn-Jahres-Bilanz die gravierenden Verschlechterungen des sozialen Klimas und die Anzeichen für den Verfall der politischen Kultur zu thematisieren. Denn Hartz IV hat nicht bloß materielle Verwüstungen bei den Transferleistungsempfängern, sondern auch mentale Verwerfungen in den Köpfen ihrer Mitbürger angerichtet.

Ohne die bewusstseinsverändernde Wirkung der rot-grünen Reformgesetze wären Thilo Sarrazins abfällige Äußerungen über die einheimische Unterschicht und die Zuwanderer islamischen Glaubens kaum denkbar gewesen. Ebenso wenig wie die CSU-Kampagne gegen rumänische und bulgarische Arbeitsmigranten unter dem Motto "Wer betrügt, der fliegt". Auch die jüngsten Wahlerfolge der Alternative für Deutschland (AfD) muss man vor diesem Hintergrund sehen.

Angst und Zynismus

Mittlerweile kennzeichnen Wohlstandschauvinismus und Sozialdarwinismus die Hartz-IV-Gesellschaft, in der sich das soziale Klima umso mehr verschlechtert, je weiter die Armut bis zum Kleinbürgertum vordringt. Verschiedentlich als ein "Gesetz der Angst" bezeichnet, hat die Reform aus Deutschland eine Gesellschaft der Angst gemacht. Teile der Mittelschicht versuchen, ihre keineswegs unbegründete Furcht vor Statuseinbußen dadurch zu bewältigen, dass sie mit einem an Menschenverachtung kaum zu überbietenden Zynismus auf Randgruppen, soziale Absteiger und berufliche Verlierer herabblicken.

Langzeit- und Dauererwerbslose werden heute ungleich stärker als "Sozialschmarotzer" etikettiert, stigmatisiert und diskriminiert als vor der Arbeitsmarktreform. Hartz IV trug in erheblichem Ausmaß zur sozialen Entrechtung, Entsicherung und Entwertung eines wachsenden Bevölkerungsteils bei, der besonders in einer wirtschaftlichen Krisensituation als unproduktiv und unnütz gilt. Hatte man Bezieher der Arbeitslosenhilfe früher vorwiegend als Sozialversicherte und ehemalige Beitragszahler wahrgenommen, wurden Langzeiterwerbslose nach dem Inkrafttreten von Hartz IV und begleitenden Medienberichten über die wachsende Belastung des Bundeshaushalts durch das Arbeitslosengeld II weitaus häufiger als Faulpelze und teure Kostgänger des Steuerstaats wahrgenommen. Im Zuge der globalen Banken- und Finanzkrise verschärfte sich diese Entwicklung noch.

Seit die rot-grüne Koalition den Arbeitsmarkt restrukturiert und damit stärker fragmentiert hat, nahm nicht bloß der Druck auf Löhne und Gehälter zu, sondern auch die Bereitschaft eines Teils der Bevölkerung, ein Anwachsen extremer Armut hinzunehmen. Es wurde akzeptiert, wenn dadurch nur für mehr Beschäftigung gesorgt würde. In weiten Bevölkerungskreisen überwog offenbar die Meinung, dass die Massenerwerbslosigkeit individuelle Ursachen habe und man bloß den Druck auf die Betroffenen erhöhen müsse, wiewohl mehreren Millionen Erwerbslosen - besonders in Ostdeutschland - nur ein Bruchteil offener Stellen am Arbeitsmarkt gegenüberstanden.

Nur wer Geld verdient, zählt

Zwar gehört die Hoffnung, dass Menschen, die mit jeder Arbeit zufrieden sind und in Krisenzeiten Verzicht üben, dafür schließlich von allem Leid erlöst werden, seit Jahrhunderten zum Alltagsglauben des deutschen Protestantismus. Wenn nicht alles täuscht, haben aber die Hartz-Reformen einen gesellschaftlichen Mentalitätswandel in Richtung dieser Zumutungsmentalität bewirkt, der sich als sozialdarwinistischer Schub im Massenbewusstsein niederschlug und dort auf unabsehbare Zeit spürbar sein dürfte.

Dass sich unter dem Einfluss der Hartz-Gesetze sozialdarwinistische Stimmungen ausbreiten, beschädigt auch die Demokratie. Am 23. Mai 2008 berichtete die Bild auf ihrer Titelseite über ein Diskussionspapier mit dem Titel "Drei Thesen zur Stärkung der Leistungsträger", in dem Gottfried Ludewig, damals Bundesvorsitzender des CDU-nahen Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), eine staatsbürgerrechtliche Privilegierung der sogenannten Leistungsträger ins Gespräch brachte. Durch eine Neuauflage des Mehrklassenwahlrechts sollte verhindert werden, dass Langzeit-Erwerbslose und Rentner weiter gleiche Mitentscheidungsmöglichkeiten haben: "Diejenigen, die den deutschen Wohlfahrtsstaat finanzieren und stützen, müssen in diesem Land wieder mehr Einfluss bekommen. Die Lösung könnte ein doppeltes Wahl- und Stimmrecht sein."

Nach einem großen Medienecho und viel Kritik schloss der RCDS Ludewig wegen verbandsschädigenden Aussagen aus, der Jung-Politiker entschuldigte sich öffentlich für seine "Provokation". Aber trotzdem erzählt der Vorstoß viel über die Veränderung des gesellschaftlichen Klimas gegenüber Leistungsbeziehern.

Wie stark ökonomisches Nützlichkeitsdenken, verbunden mit Biologismus und Sozialdarwinismus, als Folge der Reform um sich griff, zeigte auch ein Artikel Gunnar Heinsohns in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im März 2010. Unter dem Titel "Hartz IV und die Politische Ökonomie" wies der frühere Bremer Hochschullehrer auf demografische Trends hin, die ihn eine übermäßige Vermehrung der "Bildungsfernen" und eine Überforderung Deutschlands befürchten ließen. Dabei unterteilt er die Bevölkerung kurzerhand entlang des Arbeitslosengeld-II-Bezugs in zwei Gruppen: "So besteht im Februar 2010 die Hartz-IV-Bevölkerung von 6,53 Millionen Menschen zu 26 Prozent aus Kindern unter 15 Jahren (1,7 Millionen). Im leistenden Bevölkerungsteil von 58 Millionen Bürgern unter 65 Jahren dagegen gibt es nur 16 Prozent Kinder (9,5 Millionen)."

In Analogie zu Bill Clintons Sozialhilfereform schlug Heinsohn als Lösung vor, Arbeitslosengeld-II-Empfängern nach einer Gesamtbezugszeit von fünf Jahren jegliche Transferleistung zu entziehen. Was aus den Betroffenen ohne staatliche Unterstützung werden soll, ließ er im Dunkeln. Genauso wie er übersah, dass hierzulande - anders als in den USA - das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes gilt. Mit unserer Verfassung sind solche kruden, sich in Teilen der Gesellschaft immer weiter ausbreitende Ideen nämlich schlicht nicht vereinbar.

Quelle: der FREITAG vom 18.02.2015. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

18. Februar 2015

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