Uri Avnery: Wer hat Angst vor der bösen Bombe?Von Uri Avnery ICH MUSS mit einem schockierenden Bekenntnis beginnen: Ich habe keine Angst vor der iranischen Atombombe. Ich weiß, das macht mich zu einer abartigen Person, fast schon zu einem Freak. Aber was kann ich machen? Es ist mir unmöglich, Furcht zu entwickeln wie ein wahrer Israeli. Ich kann versuchen, so viel ich will: Die iranische Bombe macht mich nicht hysterisch. MEIN VATER hat mich gelehrt, Erpressung zu widerstehen: Stelle dir vor, dass die schreckliche Drohung des Erpressers schon wahr geworden wäre. Dann kannst du zu ihm sagen: Geh zum Teufel! Ich habe oft versucht, diesem Rat zu folgen, und er erwies sich als vernünftig. Jetzt wende ich ihn auf die iranische Bombe an: Ich stelle mir vor, dass das Schlimmste bereits eingetreten wäre: Die schrecklichen Ajatollahs haben die Bomben bekommen, die das kleine Israel in einer Minute ausradieren können. Und was weiter? Ausländische Experten sagen, Israel habe einige hundert Atombomben (Schätzungen variieren zwischen 80 und 400). Wenn der Iran seine Bomben schickt und den größten Teil Israels vernichtet (darunter auch mich), werden die israelischen Unterseeboote den Iran vernichten. Was ich im Übrigen auch über Benjamin Netanjahu denke, ich verlasse mich jedenfalls darauf, dass er und unsere Sicherheitschefs unsere "Zweitschlag"-Kapazität intakt halten. Erst letzte Woche informierte man uns, dass Deutschland zu diesem Zweck unserer Marine noch ein hochmodernes Unterseeboot geliefert hat. Israelische Idioten - und davon gibt es einige - sagen dazu: "Ja, aber die iranischen Führer sind nicht normal. Sie sind Verrückte. Religiöse Fanatiker. Sie werden die totale Vernichtung riskieren, nur um den zionistischen Staat auszulöschen. Das ist wie der Austausch von Königen im Schach." Derartige Überzeugungen sind das Ergebnis jahrzehntelanger Dämonisierung. Iraner - oder wenigstens ihre Führer - werden als untermenschliche Schurken dargestellt. Die Realität zeigt uns dagegen, dass die Führer des Iran sehr nüchterne, sehr berechnende Politiker sind. Vorsichtige Händler im Stil des persischen Bazars. Sie nehmen keine unnötigen Risiken auf sich. Der revolutionäre Eifer der frühen Chomenei-Zeit ist längst vorüber und nicht einmal Chomenei selbst hätte im Traume daran gedacht, etwas zu tun, das einem nationalen Selbstmord dermaßen nahe kommt. IN DER BIBEL wird erzählt, dass der große persische König Kyros den in Babylon gefangenen Juden erlaubte, nach Jerusalem zurückzukehren und ihren Tempel neu aufzubauen. Damals war Persien sowohl kulturell als auch politisch schon eine alte Kultur. Nach der "Rückkehr aus Babylon" lebten die Juden in ihrem Gemeinwesen um Jerusalem 200 Jahre lang unter persischer Oberhoheit. In der Schule lehrte man mich, dass dies glückliche Jahre für die Juden gewesen seien. Seitdem haben persische Kultur und Geschichte weitere zweieinhalb Jahrtausende durchlebt. Die persische Kultur ist eine der ältesten der Welt. Sie hat eine große Religion geschaffen (die zoroastrische) und viele andere Religionen beeinflusst, darunter das Judentum. Iraner sind äußerst stolz auf ihre Kultur. Die Vorstellung, dass die gegenwärtigen Führer des Iran auch nur daran denken könnten, aus Hass auf Israel die Existenz Persiens aufs Spiel zu setzen, ist sowohl lächerlich als auch größenwahnsinnig. Außerdem: Zeit ihrer Geschichte waren die Beziehungen zwischen Juden und Persern fast immer ausgezeichnet. Als Israel gegründet wurde, wurde der Iran als natürlicher Verbündeter betrachtet. David Ben-Gurions "Strategie der Peripherie" - einer Allianz mit allen Ländern, die die arabische Welt umgaben - umfasste auch den Iran. Der Schah, den die amerikanischen und britischen Geheimdienste wieder einsetzten, war ein enger Verbündeter Israels. Teheran war voller israelischer Geschäftsleute und Militärberater. Es diente den israelischen Agenten, die mit den rebellierenden, gegen das Regime Saddam Husseins kämpfenden Kurden im Nordirak zusammenarbeiteten, als Basis. Nach der Islamischen Revolution unterstützte Israel weiterhin den Iran in seinem schrecklichen, acht Jahre dauernden Krieg gegen den Irak. Die berüchtigte Irangate-Affäre, in der mein Freund Amiram Nir und Oliver North so wichtige Rollen spielten, wäre ohne die alten iranisch-israelischen Bindungen nicht möglich gewesen. Selbst jetzt führen der Iran und Israel ein freundschaftliches Schiedsverfahren über ein altes Projekt: die von beiden Ländern gemeinsam gebaute Eilat-Aschkelon-Pipeline. Schlimmstenfalls werden das atomare Israel und der atomare Iran in einem Gleichgewicht des Schreckens miteinander leben. Das wäre tatsächlich höchst unerfreulich, aber es wäre keine existentielle Bedrohung. FÜR DIEJENIGEN jedoch, die im Schrecken vor der Möglichkeit leben, dass der Iran über Kernwaffen verfügen könnte, habe ich einen guten Rat: Nutzt die Zeit, die uns noch bleibt! Unter den Bedingungen des Abkommens zwischen Amerika und dem Iran, die gerade ausgehandelt werden, haben wir wenigstens zehn Jahre Zeit, bevor der Iran in die Endphase der Produktion der Bombe eintreten kann. Nutzt bitte die Zeit, um Frieden zu schließen! Der Grund für den Hass des Iran auf das "zionistische Regime" - den Staat Israel - ist das Schicksal des palästinensischen Volkes. Das Gefühl der Solidarität mit den wehrlosen Palästinensern sitzt bei allen islamischen Völkern sehr tief. In ihnen allen gehört es zur Volkskultur. Es ist recht real, ganz gleich, ob die politischen Regime es missbrauchen, manipulieren oder ignorieren. Der Grund für den Hass des Iran auf Israel liegt einzig und allein im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Zwischen dem Iran und Israel gibt es darüber hinaus keinen Konflikt und keine Feindschaft. Die Logik sagt uns: Wenn wir einige Jahre Zeit haben, bevor wir im Schatten einer iranischen Atombombe leben müssen, lasst uns die Zeit nutzen, um den Konflikt zu beseitigen! Wenn die Palästinenser selbst erklären, dass sie den historischen Konflikt mit Israel als gelöst ansehen, wird es keiner Führung des Iran gelingen, ihr Volk gegen uns aufzuhetzen. SEIT EINIGEN Wochen rühmt sich Netanjahu öffentlich einer riesigen, in der Tat historischen Leistung. Zum ersten Mal gehört Israel praktisch zu einer arabischen Allianz. In der gesamten Region rast der Konflikt zwischen islamischen Sunniten und islamischen Schiiten. Zum vom Iran angeführten schiitischen Lager gehören die Schiiten im Irak, die Hisbollah im Libanon und die Huthi im Jemen. (Netanjahu zählt aus Unwissenheit oder zu Propagandazwecken die sunnitische Hamas zu diesem Lager.) Zu dem dem schiitischen Lager entgegengesetzten sunnitischen Lager gehören Saudi-Arabien, Ägypten und die Golfstaaten. Netanjahu deutet an, dass Israel von ihnen jetzt im Geheimen als Mitglied aufgenommen wurde. Das Bild ist völlig in Unordnung geraten. Der Iran kämpft gegen den Islamischen Staat in Syrien und im Irak, der ein Todfeind Israels ist. Der Iran unterstützt das Assad-Regime in Damaskus, das auch von der Hisbollah unterstützt wird, die gegen den Islamischen Staat kämpft, während die Saudis andere extreme sunnitische Syrer unterstützen, die gegen Assad und den Islamischen Staat kämpfen. Die Türkei unterstützt den Iran und die Saudis und kämpft gegen Assad. Und so weiter. Ich bin durchaus kein Freund arabischer Militärdiktaturen und korrupter Monarchien. Offen gesagt: Ich hasse sie. Wenn es jedoch Israel gelingt, offiziell zu irgendeiner arabischen Koalition zu gehören, wäre das ein historischer Durchbruch, und zwar der erste in 130 Jahren des zionistisch-arabischen Konflikts. Alle Beziehungen zwischen Israel und arabischen Ländern werden jedoch geheim gehalten, außer denen zu Ägypten und Jordanien, und selbst zu diesen beiden sind die Kontakte kalt und distanziert; es sind eher Beziehungen zwischen den Regierungen als zwischen den Völkern. Wir wollen den Tatsachen ins Auge sehen: Kein arabischer Staat wird sich offen oder verdeckt auf eine Zusammenarbeit mit Israel einlassen, bevor der Konflikt zwischen Israel und Palästina ein Ende gefunden hat. Nicht einmal Könige und Diktatoren könnten sich das leisten. Die Solidarität ihrer Völker mit den unterdrückten Palästinensern ist viel zu tief. Wahrer Frieden mit den arabischen Ländern ist ohne den Frieden mit dem palästinensischen Volk ebenso wenig möglich wie Frieden mit dem palästinensischen Volk ohne Frieden mit den arabischen Ländern. Wenn sich jetzt also die Chance bietet, offiziell Frieden mit Saudi-Arabien und den Golfstaaten zu schließen und den kalten Frieden mit Ägypten in einen wahren Frieden zu verwandeln, sollte Netanjahu sie schleunigst ergreifen. Die Bedingungen für eine Vereinbarung liegen bereits auf dem Tisch: Im saudischen, auch arabische Initiative genannten Friedensplan, der vor vielen Jahren von der gesamten Arabischen Liga angenommen wurde, werden sie genannt. Der Plan gründet sich auf die Zweistaaten-Lösung als Lösung des israelisch-arabischen Konflikts. Netanjahu könnte die gesamte Welt in Erstaunen versetzen, wenn er "à de Gaulle" handelte: mit der sunnitischen arabischen Welt Frieden schließen (wie de Gaulle mit Algerien), und das würde dann die Schiiten dazu zwingen, schließlich ebenfalls mit Israel Frieden zu schließen. Glaube ich daran? Nein, ich glaube nicht daran. Aber wenn Gott will, kann sogar ein Besenstiel schießen. Und einen Tag vor dem jüdischen Pessach, dem Fest, an dem man des Auszuges aus Ägypten gedenkt, erinnern wir uns daran, dass gelegentlich Wunder geschehen. Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler Weblinks: Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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