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Dietrich Becker-Hinrichs: “Wir sehen immer nur den Splitter im Auge der Muslime, aber den Balken im eigenen Auge sehen wir nicht.”

Redebeitrag von Pfarrer Dietrich Becker-Hinrichs beim Ostermarsch des Friedensnetzes Baden-Württemberg am 4. April 2015 in Stuttgart

Von Dietrich Becker-Hinrichs

Liebe Friedensfreundinnen und - freunde,

1. Wir müssen den islamfeindlichen Strömungen in unserem Land entschieden entgegentreten!

Wir erleben heute auf der ganzen Welt, wie Konflikte, bei denen es um harte Machtinteressen geht, zusätzlich religiös aufgeladen werden und damit noch an Wucht zunehmen. Mit dem Islamischen Staat im Irak und in Syrien ist eine Größe auf den Plan getreten, die sehr stark von der Religion geprägt ist. Mit ihren inszenierten Grausamkeiten setzen sie die ganze Welt in Schrecken. In Deutschland rufen daher viele Menschen: "Islam bedeutet Terror und Krieg" und zeigen mit dem Finger auf unsere türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die nun mit dem islamischen Staat überhaupt nichts am Hut haben. Die leben teilweise schon in der dritten Generation bei uns und sprechen fließend schwäbisch oder kurpfälzisch. Ich weiß aus Gesprächen mit Muslimen bei unseren christlich-islamischen Dialogtreffen, dass sie das verletzt und dass sie es leid sind, sich ständig vom islamischen Terror distanzieren zu müssen.

Eine Welle von Islamfeindlichkeit schiebt sich über unser Land, und die unerträglichen Pegida Demonstrationen, die zum Glück jetzt nachgelassen haben, sind nur die Spitze des Eisbergs. Dieser Islamfeindlichkeit gilt es entschieden entgegenzutreten. Stellen wir uns auf die Seite unserer muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Üben wir Solidarität mit allen, die unter dem dumpfen Populismus in unserem Land leiden.

2. Eine theologische Auseinandersetzung mit den Argumenten des Kalifats ist unerlässlich!

Angesichts des Terrors im Irak und in Syrien reicht es allerdings nicht aus, zu sagen, diese ganze unerträgliche Gewalt habe mit dem Islam nichts zu tun. Das seien einfach nur Wahnsinnige. Ich glaube, damit macht man es sich zu einfach.

Ich bin in der Tat der Meinung, dass der selbsternannte islamische Gottesstaat etwas mit dem Islam zu tun hat. Es gibt Stellen im Koran, die von den IS-Führern zitiert werden, und es gibt eine historische Tradition im Islam, die Gewalt und Krieg klar befürwortet. Damit muss man sich auseinandersetzen. Man muss die theologischen Argumente des Kalifats ernst nehmen. Das haben übrigens 120 muslimische Gelehrte aus aller Welt bereits im August 2014 in einem offenen Brief getan. Sie haben die theologischen Argumente des Kalifats Stück für Stück zerpflückt und auseinander genommen: auf der Basis der Korans und aufgrund der islamischen Traditionen, die jegliche Form von Grausamkeiten verbieten. Dieser Brief wurde nicht von liberalen Muslimen verfasst, sondern von konservativen Gelehrten aus Ägypten und Saudi-Arabien und anderen Ländern. Das Kalifat hat bei der Mehrheit der islamischen Gelehrten dieser Welt keinen Rückhalt. Und das ist gut so!

3. Jede Religion muss sich mit ihrem eigenen Gewaltpotential auseinandersetzen.

Wenn ich hier öffentlich sage: Der Islam hat ein Gewaltpotential, dann sage ich im selben Atemzug: auch das Christentum hat ein Gewaltpotential, das Judentum, der Buddhismus und der Hinduismus. Jede der großen Religionen hat in ihrer Geschichte zu unterschiedlichen Zeiten furchtbare Kriege legitimiert. Die Pazifistinnen und Pazifisten haben es in allen großen Religionen immer schwer gehabt. Auch im Namen des Christentums wurden jahrhundertelang Kriege geführt. Der traurige Höhepunkt dabei war der Erste Weltkrieg. Vor 100 Jahren zogen auf allen Seiten die Kriegsparteien in Deutschland, Frankreich, England und Russland mit dem Segen ihrer Kirchen in den Krieg und verteufelten sich gegenseitig. Jede Partei rief den heiligen Krieg aus! Wenn man sich heute die Postkarten mit religiösen Motiven betrachtet, die aus dem Feld geschrieben wurden, dann wird einem ganz schlecht.

4. Auch die christlichen Kirchen legitimieren Krieg und Waffenlieferungen.

Aber die Legitimierung von Kriegen mit dem Segen der Kirchen hat leider bis heute nicht aufgehört. Im Sommer des letzten Jahres hat sich die Spitze der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland sehr schnell für Waffenlieferungen an die Kurden ausgesprochen. Ich frage mich, aufgrund welcher politischen Expertise unsere Bischöfe eigentlich zu diesem Urteil gekommen sind. Unser neuer badischer Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh hat übrigens Nein zu den Waffenlieferungen gesagt. Er hat sich den Stimmen von syrischen Bischöfen angeschlossen, die zu Besuch in Karlsruhe waren. So dramatisch die Situation im Irak und in Syrien ist - Waffenlieferungen sind keine Lösung. Erlauben Sie mir dazu eine wichtige internationale Stimme zu zitieren.

Das Internationale Rote Kreuz ist seit Jahren in Syrien und im Irak in humanitärer Mission unterwegs. Sie sind überall präsent, um die Wasserversorgung wiederherzustellen, um eine minimale Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Das Rote Kreuz redet grundsätzlich mit allen Konfliktparteien, auch mit den Kämpfern der IS. Auf die Frage, was er zu Waffenlieferungen in die Region denkt, antwortet der Präsident des Internationalen Roten Kreuzes, Peter Maurer: Es fehlt uns im Internationalen Roten Kreuz die Überzeugung, dass mehr Waffen Sicherheit geben. Wir haben zu viele Beweise für das Gegenteil gesehen.

Liebe Friedensfreundinnen und -freunde, ein solcher Satz würde doch jedem Bischof der evangelischen oder katholischen Kirche gut zu Gesicht stehen: mir fehlt die Überzeugung, dass mehr Waffen Sicherheit geben. Mehr müsste er doch gar nicht sagen. Natürlich hat auch die Kirche keine Patentrezepte für die Konflikte unserer Gegenwart. Aber warum ist man immer so schnell bei der Hand, wenn es darum geht Kriege und Waffenlieferungen zu legitimieren und so die Gewissen unserer Politiker zu beruhigen. Da heißt es dann immer: wir werden schuldig, wenn wir nur zusehen, und wir werden schuldig, wenn wir Waffen liefern. Also lasst uns Waffen liefern. Warum spricht man sich im Zweifelsfall immer für die militärischen Lösungen aus? Wir stehen doch nie allein vor der Alternative, entweder nichts zu tun oder Waffen zu liefern. Es gibt in jedem Konflikt eine Fülle von Möglichkeiten einzugreifen, und Menschen zu helfen, z.B. indem wir Flüchtlinge unterstützen oder humanitäre Hilfe leisten wie das Rote Kreuz.

5. Wir sehen immer nur den Splitter im Auge der Muslime, aber den Balken im eigenen Auge sehen wir nicht.

Ich erlaube mir an dieser Stelle einmal die Bergpredigt zu zitieren und zwar mit den Worten des Publizisten Jürgen Todenhöfer. Er sagte in einem Interview, das er jüngst im Fernsehen gegeben hat, zu der Situation im Irak und in Syrien: "Wir reden immer nur vom Terrorismus in der Muslimischen Welt. Bin Laden - und das ist ganz entsetzlich, hat 3.000 Menschen ermordet und umgebracht. Aber wir vergessen, was der Westen in diesen Ländern angerichtet hat. George Bush hat über 500.000 Menschen ermordet, getötet, in einem Lügenkrieg umgebracht. Und über diese Dinge sprechen wir nicht. Wir sprechen auch nicht über die 100.000 Toten in Afghanistan. Und diese Ungerechtigkeit, dass wir immer nur den Splitter im Auge der Muslime sehen, aber den Balken in unserem eigenen Auge nicht sehen, die bringt Menschen dazu, sich dem IS-Terror anzuschließen."

6. Eine fundamentale Abkehr von der Politik des Kriegführens ist geboten.

Was ist also zu tun? Wir brauchen eine fundamentale Abkehr von einer Politik des Kriegführens, die immer wieder neuen Terrorismus erzeugt. Jeder neue Krieg, jeder neue Luftschlag ist ein Terrorzuchtprogramm. Es gibt so viele nichtmilitärische Maßnahmen, die Kriegsherde dieser Welt auszutrocknen. Eine wesentliche Maßnahme wäre ein sofortiger Stopp aller Waffenexporte. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, die Finanzströme zu unterbinden. Warum war es denn so leicht, gegen Russland wirtschaftliche Sanktionen zu verhängen, die offensichtlich auch wirken, aber gegen den Terrorstaat des IS, der seine Finanzen u.a. aus der Türkei und aus Saudi-Arabien bezieht, Staaten, mit denen wir enge diplomatische Beziehungen unterhalten, war dies nicht möglich? Und letztlich wird man auch mit den Führen des Islamischen Staates in einen Dialog treten. Man wird ihn als
politische Größe ernst nehmen müssen. Das Rezept, den IS Staat in Grund und Boden zu bomben wird nicht funktionieren. Genauso wenig, wie es in Afghanistan funktioniert hat. Darum fordert die italienische Terrorismusexpertin Loretta Napoleoni in ihrem Buch "Der islamische Phoenix": "Auch mit dem IS Staat muss ein Dialog geführt werden. Bomben ist keine Lösung!"

7. Wir müssen das Friedenspotential der Religionen stärker wahrnehmen.

Damit komme ich zum Schluss: Zu Beginn habe ich gesagt, jede Religion hat ein Gewaltpotential. Und jede Religion muss sich ihrer Gewaltgeschichte kritisch stellen. Zugleich hat aber auch jede Religion ein mächtiges Friedenspotential.

Lassen Sie mich darum zum Abschluss eine kleine Ostergeschichte erzählen, die dieses Friedenspotential anschaulich macht. Es ist eine Geschichte, wie zwei Religionsführer aus der Nacht des Todes und des Mordens aufstehen und in das Licht des Friedens und der Versöhnung treten. In den Nachrichten aus Nigeria hören wir zurzeit viel über Boko Haram. Sie sind im Nordosten des Landes tätig. Weniger bekannt ist, dass in Kaduna, einer der Millionenstädte des Landes seit vielen Jahren Christen und Muslime gemeinsam für Frieden und Versöhnung arbeiten und dabei große Erfolge erzielen konnten. Die Hauptpersonen sind Imam Ashafa und Pastor James Wuye. Sie waren in den 90er Jahren Anführer christlicher und muslimischer Milizen und erbitterte Feinde. Sie zündeten sich gegenseitig Kirchen und Moscheen an und brachten viele Menschen um. Die Christen waren da genauso grausam wie die Muslime. Durch den Einfluss religiöser Führer auf beiden Seiten kamen die beiden Kämpfer zur Besinnung. Sie kamen miteinander in Kontakt und freundeten sich an.

Sie entdeckten das Friedenspotential ihrer Religionen: die Feindesliebe im Christentum und die Bereitschaft zu vergeben, aus dem Islam. Vor 20 Jahren gründeten sie in der Millionenstadt Kaduna im Norden Nigerias das interreligiöse Centre for Mediation.

In gemeinsamen Teams von Pastoren und Imamen fahren sie hinaus aufs Land, überall dorthin, wo es ethnische und religiöse Spannungen gibt. Sie vermitteln zwischen den Konfliktparteien und stiften Frieden. Und sie sind bis heute unterwegs und haben nicht aufgegeben. Sie haben ähnliche Initiativen in ganz Afrika gegründet. Auf der ganzen Welt sind sie mit Preisen ausgezeichnet worden. Der Dokumentarfilm über ihr Wirken mit dem Titel "Der Imam und der Pastor" wird übrigens hier in Stuttgart vertrieben. Beim Evangelischen Zentrum für entwicklungsbezogene Filmarbeit (EZEF).

Solche Vorbilder brauchen wir in allen Religionen!

Unsere Verantwortung heißt Frieden!

Lasst uns diese Verantwortung gemeinsam wahrnehmen!

Dietrich Becker-Hinrichs ist Pfarrer der Ev. Landeskirche in Baden, Vorsitzender des Trägervereins der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion in Baden (WfGA).

Veröffentlicht am

10. April 2015

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