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“Die Grenzschutzpolitik der EU muss sich ändern”

Am 13. Mai stellt die Europäische Kommission ein neues Konzept für die europäische Migrationspolitik vor. Das sei eine gute Gelegenheit, um die bestehende Grenzschutzpolitik zu überdenken, schreibt der Hamburger Migrationsforscher Vassilis Tsianos. Um weitere Tragödien im Mittelmeer zu verhindern, solle die EU zunächst ein humanitäres Moratorium ausrufen.

Von Dr. Vassilis Tsianos

Die tragischen Schiffbrüche, die sich vor wenigen Wochen vor den Küsten Libyens abgespielt haben, sind ein Warnsignal. Vieles deutet im Moment darauf hin, dass in diesem Sommer noch mehr Flüchtlinge als im Vorjahr versuchen werden, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Es ist also zu erwarten, dass noch mehr Boote in Seenot geraten werden und somit mehrere Tausende Menschenleben auf dem Spiel stehen werden.

Die bisherige Grenzschutz-Politik der Europäischen Union hat sich in diesem Zusammenhang als katastrophal erwiesen: Sie konnte bislang weder Migranten daran hindern, illegal in die EU einzuwandern, noch konnte sie verhindern, dass Tausende Menschen auf der Überfahrt ums Leben kommen. Auch der kürzlich angekündigte europäische zehn Punkte Plan wird wenig daran ändern. Es ist also längst an der Zeit, vom kontrollorientierten Ansatz Abschied zu nehmen, der bislang die Grenzpolitik der EU gekennzeichnet hat.

Oft heißt es, wenn die Grenzschutz-Regeln gelockert werden, würde eine unkontrollierbare Masse illegaler Einwanderer die Außengrenzen der EU stürmen. Dafür gibt es jedoch keine empirischen Belege. Die Beweise für das Scheitern des aktuellen Grenzschutz-Systems liegen hingegen auf der Hand.

Da die Ergebnisse eines Paradigmenwechsels unvorhersehbar sind, könnte die EU zunächst ein Moratorium für den Sommer 2015 einführen, das die bestehende Grenzschutz-Regelungen aufhebt und durch ein humanitäres Hilfesystem ersetzt. Die Ergebnisse dieses Moratoriums sollten später von einem Gremium aus Vertretern der Politik und Wissenschaft - aber auch der Zivilgesellschaft und von Flüchtlingen - evaluiert werden.

Dieses humanitäre Programm kann in drei Punkten zusammengefasst werden:

1. Entmilitarisierung der Grenzen

In den letzten Jahren haben die Grenzstaaten der EU immer strengere Sicherheitsmaßnahmen eingeführt. Die Grenzschutz-Operationen von Frontex sowie der Schutzwall, der an der türkisch-griechischen und an der türkisch-bulgarischen Grenze errichtet wurde, sind einem Konzept entsprungen, das auf militärischer Abwehr basiert.

Doch das bestehende Informations-Netzwerk an den EU-Außengrenzen könnte auch eine andere Funktion einnehmen: Das Programm Eurosur ist zum Beispiel durch die Koordinierung verschiedener Überwachungssysteme in der Lage, Schiffbrüche und andere humanitäre Notlagen an den Grenzen in Echtzeit zu beobachten. Dennoch wird Eurosur derzeit fast ausschließlich dafür genutzt, Informationen über illegale Einwanderung zu sammeln.

Auch die Grenzschutzagentur Frontex könnte eine aktive Rolle bei der Seenotrettung spielen. Dennoch fehlen den Einheiten, die sich an Grenzschutz-Operationen beteiligen, meistens die Ausstattung und das Knowhow, um humanitäre Verpflichtungen wahrzunehmen. Wenn die Mitgliedstaaten der EU tatsächlich wollen, dass im kommenden Sommer nicht weitere Tragödien wie die vom 20. April stattfinden, sollten sie den Fokus aller Operationen im Mittelmeer weg vom Grenzschutz hin zur Seenotrettung bewegen.

2. Entkriminalisierung der Fluchthilfe

Nur die wenigsten Menschen, die aus Krisensituationen fliehen, können dies auf dem legalen Weg machen, denn sie haben in der Regel keinen direkten Zugang zum Asyl-System industrialisierter Länder. Deshalb müssen sie sich auf andere Menschen verlassen, die ihnen bei der Flucht helfen.

Dem EU-Recht zufolge ist jeder Mensch ein "Schlepper", der willentlich einen Menschen dabei unterstützt, in einen EU-Mitgliedstaat illegal einzureisen oder diesen zu durchqueren, unabhängig davon, ob er dafür Geld bekommt oder nicht. Das Ergebnis dieser Regulierung ist, dass auch jeder Mensch, der einem Schiffbrüchigen im Mittelmeer hilft, als Schlepper angezeigt werden kann. Deshalb vermeiden Fischkutter und Handelsschiffe bestimmte Routen aus Sorge, schiffbrüchigen Migranten zu begegnen.

Mitunter werden auch Menschen der illegalen Beihilfe zur Einreise beschuldigt, die selbst zu den Geflüchteten gehören. So ist zum Beispiel im Fall eines 21-jährigen Syrers, der wegen der Mitschuld am Tod von drei Frauen und acht Kindern in einem Schiffbruch von einem griechischen Gericht zu 145 Jahren Haft verurteilt wurde. Tatsache ist, der junge Mann war selbst auf der Flucht und wurde von den Schleppern damit beauftragt, das Boot zu steuern und erhielt dafür einen Nachlass auf seine Reisekosten.

Sollte die aktuelle europäische Gesetzgebung zur illegalen Beihilfe aufgehoben werden, würden sich mehr Schiffsfahrer trauen, Menschen in Seenot Hilfe anzubieten. Gleichzeitig würde man dadurch die Schlepperbanden schwächen, denn man könnte ihnen das Monopol auf die Fluchtrouten nehmen.

3. Ein europäisches Resettlement-Programm

Etwa ein Drittel aller Menschen, die letztes Jahr illegal über das Mittelmeer nach Europa gekommen sind, waren syrische Kriegsflüchtlinge. Schaffen sie es bis in die EU, erhalten rund 90 Prozent von ihnen Schutz. Bislang sind nur wenige Zehntausende syrische Flüchtlinge im Rahmen nationaler Aufnahmeprogramme in die EU eingereist - die meisten nach Deutschland. Wenn sich aber alle EU-Mitgliedstaaten an einem Resettlement-Programm beteiligen würden, hätten Hunderttausende Syrer die Möglichkeit, legal und ohne Lebensrisiko in Europa Schutz zu finden.

Um dieses Programm umzusetzen, benötigt es nur den politischen Willen: Mit der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz von Vertriebenen verfügt die EU über rechtliche Mittel, um dies umzusetzen. Mithilfe des UN-Flüchtlingskommissars, der bereits in den Flüchtlingslagern aktiv ist, könnte sie umgehend anfangen, Anträge von Schutzsuchenden zu sammeln.

Es ist durchaus vorstellbar, dass sowohl das Europäische Parlament als auch die Europäische Kommission ein derartiges Experiment wagen würden. Ein positives Signal kam bereits vom Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, der sich kürzlich für die Öffnung legaler Einwanderungswege äußerte . Der größte Widerstand kommt derzeit vom Europäischen Rat, also von den Innenministern der Mitgliedstaaten, die in erster Linie innenpolitische Prioritäten vor Augen haben. Die jüngsten Ereignisse im Mittelmeer sollten sie allerdings zum Nachdenken bringen. Denn die nächste Tragödie könnte schon bald stattfinden.

Dr. Vassilis Tsianos ist Projekt-Koordinator des Forschungs-Schwerpunktes "Border crossings" im EU-Projekt "transnational digital network" (MIG@NET) und Mitglied des "Rats für Migration". Er hat mehrere Publikationen zum Thema Grenzpolitik in der EU veröffentlicht.

Quelle:  Mediendienst Integration - 04.05.2015. Eine Vervielfältigung oder Verwendung des Textes in anderen elektronischen oder gedruckten Publikationen ist unter den Regeln der Creativ Commons Namensnennung möglich.

Veröffentlicht am

11. Mai 2015

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