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EU-Mission: Maritimer Schutzwall

Zum zweiten Mal in vier Jahren soll Libyen Ziel eines westlichen Militäreinsatzes werden

Von Lutz Herden

Libyen hat mit der NATO noch eine Rechnung offen. Weil die meisten NATO-Mitglieder zugleich EU-Staaten sind, gilt das ebenso für die Europäische Union. Die fälligen Schulden sind beachtlich, moralisch wie materiell. Zur Erklärung: Im März 2011 berief man sich in Washington, Paris, Rom und London auf das Prinzip der Schutzverantwortung (RtoP), um ein UN-Mandat für eine Militärmission in Libyen zu erhalten. Der UN-Sicherheitsrat einigte sich schließlich darauf, eine Flugverbotszone einzurichten. Sie sollte die libysche Zivilbevölkerung vor den Folgen eines Bürgerkrieges zwischen der Armee des Muammar al-Gaddafi und einer bewaffneten Gegenpartei schützen. Leider erwies sich die Resolution als diplomatische Heuchelei. Die NATO missbrauchte das Mandat, um einen regime change auszulösen und Gaddafi auszulöschen. Seither verfiel das Land anarchischer Erosion und degenerierte zum "failed state".

Präsenz spornt an

Hier nun kommt jene Rechnung ins Spiel. Der Nordatlantikpakt legte als Kriegspartei nicht nur ein UN-Mandat sehr eigenwillig aus, er offenbarte zugleich einen selektiven Umgang mit den Normen von Schutzverantwortung. Die rechtfertigen nicht allein militärische Mittel, wenn Staaten ihre Bürger nicht mehr ausreichend zu schützen vermögen - die verpflichten genauso zur Teilnahme am Wiederaufbau danach. Doch humanitäre Nachsorge nach der getroffenen Vorsorge für den Gaddafi-Sturz hat sich die westliche Staatengemeinde komplett geschenkt. Diese Vorgeschichte sitzt der EU im Nacken, wenn sie nun eine Militärmission plant, um die Logistik der Menschenschmuggler anzugreifen, deren Basen nicht zufällig in Libyen liegen. Es hat den Anschein, als wollte sich ein Täter rehabilitieren, indem er zum Wiederholungstäter wird. Doch resultiert das Fragwürdige eines solchen Unternehmens nicht allein aus den Ereignissen von 2011. Es hat auch viel mit heutigen Umständen zu tun.

Berichte aus libyschen Hafenstädten wie Zuwara und Darna besagen, dass entgegen landläufiger Darstellungen keine leicht zu identifizierenden Schleuserflotten existieren, die fernab von anderen Booten am Kai liegen. In der Regel kaufen die meisten Schleuser die Schiffe kurz vor der Überfahrt von örtlichen Fischern für 10.000 bis 15.000 Dinar (65.000 bis 95.000 Euro). Allerdings lässt sich nach dem Eigentümerwechsel einem Kutter nicht ansehen, wofür er fortan gedacht ist. Ein Boot, das heute Hunderte von Flüchtlingen aufnimmt, bunkerte gestern noch Fisch. Auch sind die Migranten beim Auslaufen in der Regel nicht an Bord. Wie das italienische Rote Kreuz berichtet, würden die blinden Passagiere zumeist mit Schlauchbooten zu den Trawlern gebracht, die in tieferem Gewässer ankern.

Ein Umstand, der es erschwert, den Zweck eines Schiffes zu erkennen und das Equipment der Schleuser an Land oder im Hafen unbrauchbar zu machen. Bliebe die Variante, auf offener See zu handeln, die Boat People von EU-Marineschiffen aufzunehmen und die Fahrzeuge der Spediteure anschließend zu versenken. Wohin dann mit den Schiffbrüchigen? Zurück nach Libyen? Kurs nehmen auf einen italienischen Hafen? Geschieht Letzteres, wäre ein Muster gesetzt, das Fluchtwilligen wie Fluchthelfern nicht verborgen bliebe. Wir haben es mit der größten Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, urteilen alle Beobachter. Also werden die Menschen weiter nach Wegen suchen, um rettende europäische Gestade zu erreichen. EU-Marine im Mittelmeer wird sie nicht aufhalten. Im Gegenteil, diese Präsenz spornt an, die Überfahrt zu wagen. Wird schon hier der zweifelhafte Kalkül der vorgesehenen Mission erkennbar, gilt das erst recht für das Ziel: Infrastruktur der Menschenschmuggler.

Die unterhalten nach gängiger Lesart kriminelle Netzwerke mit Hierarchien, Befehlsketten und Bankkonten. Derartige Erkenntnisse füllen - oft ohne den Hauch eines Belegs - hierzulande die Zeitungsspalten, obwohl viel dafür spricht, dass spontane, informelle Strukturen dominieren. Immerhin ist kommerzielle Fluchthilfe sowohl dem eklatanten Sicherheitsvakuum in Libyen geschuldet wie fehlenden ökonomischen Alternativen für die Schleuser. Unabhängig davon, was diese Akteure antreibt, und wie sie von fragiler staatlicher Autorität profitieren - sollte darauf mit einem Militäreinsatz reagiert werden? Aller inneren Zerrissenheit zum Trotz ist Libyen kein herrenloses Gelände, sondern noch immer ein Staat, dessen Souveränität die UN-Charta als zu schützendes Rechtsgut definiert.

Insofern erscheint es kaum denkbar, dass die EU für ihr Vorhaben ein UN-Mandat erhält, das alle Vetomächte im Sicherheitsrat gutheißen. Es ist eben nicht vergessen, wie die NATO mit der Intervention von 2011 das Völkerrecht mit eiserner Hand einem Machtanspruch untergeordnet hat. Überdies müsste eine libysche Regierung ausdrücklich zustimmen, wie das der UN-Resolution 1816 zu entnehmen ist, die von den Vereinten Nationen 2008 zur Bekämpfung von Piraterie im Indischen Ozean erst verabschiedet wurde, nachdem die somalische Übergangsexekutive damit einverstanden war. Sie akzeptierte, dass bei möglichen Militäraktionen die Küstenregion Somalias erfasst sein dürfe. Im Mai 2012 berief sich das Kommando der EU-Mission Atalanta darauf, als deren Schiffe mutmaßliche Basen somalischer Seeräuber an Land beschossen, dabei jedoch kein EU-Soldat somalischen Boden betrat.

Weil das in Libyen anders sein könnte, wäre ein Agreement mit der dortigen Regierung erst recht unverzichtbar. Nur mit welcher? Der von Premier Abdullah Thenni, die das Mandat des Abgeordnetenrates in Tobruk hat, aber ohne reale Macht ist und sich weit in den Osten zurückgezogen hat? Oder hält man sich an die in Tripolis residierende Administration, die von islamistischen Milizen beherrscht wird? Diese Regierung hat kein Mandat, aber die reale Macht, Filialen der Fluchthelfer auszuheben. Erkennt uns an, und wir lösen das Problem, ist von dort zu hören. Wie sich die EU auch entscheidet, es wird das Land weiter spalten.

Eine neue Front

Gerade hat die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini vor dem Sicherheitsrat erklärt, wegen des Flüchtlingsstroms sehe man sich "einem humanitären Notstand" und "einer sicherheitspolitischen Krise" ausgesetzt. Die Schlepper hätten Kontakte zu Extremisten und würden "terroristische Aktivitäten" finanzieren. Ist diese Behauptung geeignet, den strategischen Sinn eines Flottenaufmarsches der EU im Mittelmeer anzudeuten? Geht es darum, sich ein UN-sanktioniertes Interventionsrecht zu verschaffen, eine weitere Front im Anti-Terror-Krieg zu eröffnen und quasi en passant den Flüchtlingstransfer einzudämmen?

Wie auch immer - es schwillt die Masse derer an, die sich weder einen Platz im Boot noch Erbarmen kaufen können. Sie haben nicht mehr zu bieten als ihre Verzweiflung. Und die ist so ziemlich das Wertloseste, womit man in der europäischen Wertegemeinschaft ankommen kann.

Quelle: der FREITAG vom 27.05.2015. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

27. Mai 2015

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