Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Franz Alt: Vom Sinn und Unsinn des Kirchentags

Der Evangelische Kirchentag in Stuttgart steht unter dem Motto "…damit wir klug werden".

Von Franz Alt

100.000 Menschen werden in Stuttgart erwartet. Keine andere Großveranstaltung in Deutschland bekommt so viele Menschen auf die Beine wie ein evangelischer Kirchentag oder ein Katholikentag - und das über vier Tage. Sind die Kirchen noch attraktiver als vermutet? Die evangelische Kirche wirbt in Zeitungsanzeigen mit dem Hinweis auf 2.500 Veranstaltungen. Sollen wir durch Masse klug werden? Eine Antwort suche ich, indem ich mir das Programmheft, die Themen, die Mischung zwischen Religion, Spiritualität, Politik, Ethik, Ökologie und Ökonomie anschaue und natürlich auch die Referentinnen und die Referenten. Im Angebot sind außerdem: viele Gottesdienste, Bibelarbeiten, Konzerte (Rock und Pop, Jazz, Folk und Blues), Theater, Gute Nacht-Cafes, Begegnungsorte, interkonfessionelle Themen. Nichts scheint unmöglich in Stuttgart.

Geworben wird mit viel Prominenz: Kofi Anan, aber auch Angela Merkel werden angekündigt, Joachim Gauck, Melinda Gates, Eckart von Hirschhausen, Margot Käsmann, Frank Walter Steinmeier, Manuela Schwesig, Thomas de Maiziere, Samuel Koch, Katrin Göring-Eckhardt. Und das alles: damit wir klug werden!

Hinter viele "Klug"-Themen haben die Veranstalter klugerweise ein Fragezeichen gesetzt. So darf zum Beispiel die Bundeskanzlerin zum Thema "Digital und klug?" referieren. Wie geht "kluges Wirtschaften?", wird gefragt in einer Zeit, in der jeden Tag 30.000 Menschen verhungern und in der die vier reichsten US-amerikanischen Männer über mehr Geld verfügen als die eine Milliarde der Ärmsten. "Macht Bibel lesen klug?". Die Bibel ist zwar das meistgekaufte Buch (viereinhalb Milliarden), aber zugleich das am wenigsten gelesene. Warum wohl? Auch deshalb, weil Jesus aramäisch sprach, aber alle Jesus-Geschichten aus dem Griechischen übersetzt sind. Der frühere evangelische Pastor Günther Schwarz hat 50 Jahre lang jeden Tag aramäisch gelernt, um Jesu Geisteswelt besser zu verstehen. Das Fazit seiner Studien: 80 % der Jesus-Worte sind - so wie sie in der Bibel stehen - falsch und sinnwidrig übersetzt. Der Unterschied zwischen griechisch und aramäisch war vor 2.000 Jahren etwa so gravierend wie heute zwischen arabisch und deutsch. Im gesamten Nahen Osten war um die Zeit Jesu das Aramäische die Hauptsprache. Aber alle Theologen lernen neben Latein noch Griechisch und Hebräisch. Das muss zu Missverständnissen führen. Mit Hilfe des "aramäischen" Jesus könnte man wirklich klüger werden. Aber die Reaktion der Kirchen auf die wichtigen Jesus-Erkenntnisse des Theologen Günther Schwarz: Null!

Ein "Tanzgottesdienst" steht unter dem schönen Motto "In Bewegung klug sein". Dass Bewegung klug macht, ist auch die Erkenntnis der modernen Neurobiologie und der Neuropsychologie. Das Thema "Aus Stuttgart 21 klug werden?" darf nicht fehlen. Und natürlich ist auch dieses Thema wichtig: "Mit den Aposteln klug werden". Aber Vorsicht: Jesus war meist in schlechter Gesellschaft. Unwidersprochen dürfte das Thema bleiben: "Wach sein - damit wir klug werden". Tröstlich das sinnige Thema: "Klug durch Unwissenheit." Über Gottes kluge Schöpfung und über den Urknall des Chefs wird nachgedacht unter dem schönen Motto "Als es Gott knallen ließ".

Wie viel Sinn oder Unsinn verbirgt sich also hinter einem solchen Mammut-Aufwand für dieses Massentreffen? Jesus hat empfohlen: Wenn Du betest, dann geh in Deine ruhige Kammer. Aber andererseits kamen auch zu ihm Tausende an den See Genezareth zur berühmten Bergpredigt. Beim "Wunder der Brotvermehrung" sollen es fünftausend gewesen sein als Jesus empfahl alles Essbare einzusammeln und es geschwisterlich zu teilen. Und siehe da: Es reichte für alle. Alle wurden satt, weil sie teilten. Ein tolles Zeichen in unserer Zeit, in der wir täglich viele verhungern lassen, obwohl wir auf einer sehr reichen Erde leben und alle satt werden könnten - mit ein wenig mehr Klugheit.

Vielleicht gelingt es ja in Stuttgart, dieses Wunder Jesu heutig zu machen. So macht Religion im Geiste des wunderbaren jungen Mannes aus Nazareth tatsächlich viel Sinn.

Eine Veranstaltung macht mich schon jetzt neugierig. Sie steht unter dem Motto des Wortes von Papst Franziskus "Diese Wirtschaft tötet - Kirche gemeinsam gegen den Kapitalismus". Referent ist Ministerpräsident Bodo Ramelow von den Linken. Aber diese Veranstaltung finde ich nicht im offiziellen Kirchentags-Programm, sondern als ein Vortrag auf Einladung der kirchenkritischen Zeitschrift "Publik-Forum" am Rande des Kirchentags.

Ein Kirchentag macht dann Sinn, wenn sein Programm möglichst nahe an der Botschaft des Nazareners ist. Jesu Grundsatzprogramm ist die Bergpredigt. Hier spricht der Pazifist Jesus, der soziale Jesus und der ökologische Jesus. Wie spiegeln sich also die Themen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung im Stuttgarter Programm wieder?

Das Treffen findet in einer unruhigen Zeit statt: Krisen und Kriege auf allen Kontinenten. Glaubenskriege im Nahen Osten, Krieg in der Ostukraine, Bürgerkriege in Afrika, Flüchtlingsströme, Klimawandel, Energiekrise, Ressourcenkrise, Wirtschafts- und Finanzkrise.

Zum pazifistischen Jesus auf dem Kirchentag: Der Friedensfreund und häufige Krisenvermittler Kofi Anan diskutiert mit Frank Walter Steinmeier und dem englischen Bischof Nick Baines zum Thema "Wer übernimmt Verantwortung für Krisen und Konflikte?" An drei Nachmittagen wird in der Stiftkirche über Frieden und Krieg, Schuld und Versöhnung gestritten. Und nach der "öffentlichen Verantwortung der Kirchen" gefragt. Ob da auch thematisiert wird, dass in einem der ersten Nazi-Konzentrationslager in Schleswig-Holstein 1933 Vikare der Nordelbischen Kirche als Wachpersonal dienten?

"Europa als Friedensprojekt" steht auf dem Programm. In den Zeiten, in denen das Mittelmeer ein Massengrab für Afrika-Flüchtlinge geworden ist, drängt sich die Frage auf, ob der Friedensnobelpreisträger EU diesen Preis nicht beschämt zurückgeben sollte. Was würde Jesus zum Massenmord im Mittelmeer sagen? Der Mann aus Nazareth hat vor 2.000 Jahren gepredigt: "Was ihr dem Geringsten meiner Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan und was ihr ihm nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan."

Aber schon damals haben seine Gegner - meist waren es sehr Fromme - bewusst gefragt: "Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?" Heute heißt diese Skepsis im Munde deutscher Kanzler von Bismarck über Schmidt bis Kohl: "Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren". Sie erklären Jesus einfach für blöd und naiv. Ich habe das genau so auf Kirchentagen erlebt. Immerhin hat der im Januar dieses Jahres verstorbene Alt-Bundespräsident und Alt-Kirchentags-Präsident Richard von Weizsäcker gesagt: "Regieren ohne Intention der Bergpredigt kann ich mir nicht vorstellen."

Jahrtausende lang galt in christlichen Kirchen die These vom "Gerechten Krieg". Selbst Jesus soll gesagt haben, er sei nicht gekommen, den Frieden zu bringen, "sondern das Schwert" ((Matthäus 10.34). Rückübersetzt aus dem Aramäischen hat Jesus aber gesagt: "Ich bin gekommen, um Streitgespräche zu führen".

Und wie steht es mit dem sozialen Jesus?

Das Stuttgarter Programm zeigt, dass der Kirchentag unter diesem ebenfalls zeitgemäßen Thema eher in die politische Mitte gerückt ist. Er ist ein "Abbild der Großen Koalition", kritisiert Publik-Forum. Von jesuanischer System-Kritik wie bei Papst Franziskus ("Diese Wirtschaft tötet") ist in der Tat nicht viel zu spüren. Eher haben sich die theologisch konservativen Evangelikalen gegenüber dem linken und linksliberalen Protestantismus durchgesetzt. So fragt auch Ellen Überschär, die Generalsekretärin des Kirchentags: "Wo sind denn die Leute, die das System kritisieren?" Man müsse eher eine "Form der Koexistenz" zwischen den Flügeln finden. Koexistenz oder Jesus? Er war ein Radikaler in jeder Hinsicht. Seine Botschaft ist eindeutig: "Deine Rede sei Ja, ja oder Nein, nein; alles andere ist vom Teufel." Jesus hatte es nie mit dem Mainstream, sonst hätten wir ihn längst vergessen.

Das gilt vom sozialen Jesus, aber auch vom ökologischen.

Was treiben wir denn heute mit der Umwelt zum Beispiel durch unsere Energiepolitik? Jeden Tag:

  • rotten wir 150 Tier- und Pflanzenarten aus
  • vergrößern die Wüsten um 50.000 Hektar
  • verlieren wir 86 Millionen Tonnen fruchtbaren Boden und
  • blasen weltweit 150 Millionen Tonnen Treibhausgase in die Luft
  • und werden pro Tag 240.000 mehr

Das geht morgen so weiter und übermorgen und im nächsten Monat und im nächsten Jahr. Wir führen einen Dritten Weltkrieg gegen die Natur. Sind wir noch zu retten?

So grundsätzlich darf man natürlich auf einem Kirchentag der Mitte diese Frage nicht stellen. Das könnte ja anstößig sein und zu Kontroversen oder gar "Streitgesprächen" im Sinne Jesu führen. Im Gegensatz dazu hat auch hier Papst Franzskus angekündigt, in wenigen Wochen die erste Öko-Enzyklika der Papstgeschichte zu publizieren. Wir dürfen gespannt sein auf deutliche Worte. Hoffentlich deutlichere als auf dem Kirchentag. Aber vielleicht geht der reale Kirchentag ja weiter als es das Programm ahnen lässt.

Bleiben wir noch einen Augenblick beim ökologischen Jesus. Was sagt der Kirchentag in der Autostadt Stuttgart zum Beispiel zum Benzinauto? Wird thematisiert, dass ein Liter Spritverbrauch 10.000 Liter Luft verpestet? Der alternative Verkehrsplaner Heiner Monheim wird das Thema auf dem Podium "Mobilität 2050" behandeln. Das würde auch Jesus tun. Er war ein großer Naturbeobachter und ein noch größerer Naturpoet. Seine Geschichten in bäuerlich geprägter Sprache am See Genezareth handeln von Samen und säen, von Brot und backen, vom Sämann und Acker, von Ei und ewigem Leben, von Gott und Gras, vom Maulbeerbaum und von Mücken, von Kalb und Kraft, von Leben und Lilien, von Ochsen und Ottern, von Reben, Regen und Reifen, vom Trinken und von Trauben, vom Wasser und vom Wein, von Wundern und Wölfen, von der Wurzel und von der Wüste. Er sprach vom Fischfang, vom Brotbacken und vom Pflügen. Und dieser Jesus soll nicht ökologisch sein? Er war eher Ökologe als Theologe. Er hat kein einziges Semester Theologie studiert. Er hat Gott in seiner Schöpfung entdeckt und "Vater" genannt.

Demgegenüber erscheint die Ökologie auf dem Kirchentag verkopft und belanglos, weitgehend der Natur entfremdet. In Jesu Leben und Lehre liegen die Wurzeln einer ökologischen Spiritualität, einer ökologischen Theologie und einer ökologischen Ethik. Davon ist der Kirchentag weit entfernt. 

Das Stuttgarter Treffen diskutiert fast alle drängenden Zeitfragen. Aber es ist ihm nicht gelungen, Jesus in allen wichtigen Zeitfragen heutig zu machen. Da bleibt noch eine Menge Zukunftsarbeit.

Quelle: (c) Franz Alt 2015 - www.sonnenseite.com . Dieser Text wird hier mit freundlicher Genehmigung von Franz Alt veröffentlicht.

Weitere wichtige Hinweise:

Veröffentlicht am

31. Mai 2015

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