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Franz Alt: Es ist noch nicht zu spät

Von Franz Alt Rede von Dr. Franz Alt am 6. Juni 2015 auf der Kundgebung der Bürgerbewegung gegen "Stuttgart 21" (S21) zum Evangelischen Kirchentag.

Das aktuelle Hauptargument für Stuttgart 21 heißt: Protest und Widerstand kommen zu spät. Es lohnt sich doch gar nicht mehr gegen das Projekt auf die Straße zu gehen. Was ist davon zu halten?

Ich war vor 14 Tagen in Österreich beim Internationalen Anti-Atomgipfel. Dabei habe ich auch mit Aktivisten gesprochen, die vor 37 Jahren das AKW Zwentendorf verhindert haben. Dieses österreichische Atomkraftwerk ist ein Lehrstück erfolgreichen Widerstands gegen unsinnige Großprojekte und ein Lehrstück dafür, dass es nie zu spät ist für Widerstand und Protest.

Zwentendorf ist weltweit das einzige Atomkraftwerk, das komplett fertig gebaut war, aber aufgrund einer Volksabstimmung niemals in Betrieb genommen wurde. Im Herbst 1978 stimmten 50,4 % der Österreicherinnen und Österreicher gegen die Inbetriebnahme. Und weil Zwentendorf durch intelligenten und dauerhaften Protest gestoppt wurde, sind in Österreich drei weitere geplante AKWs nicht gebaut worden.

Das AKW Zwentendorf war komplett fertig gebaut, es war ein Milliarden-Projekt wie Stuttgart 21, aber es ging nie in Betrieb, weil das Volk klüger war als seine Regierung. Drei Dinge können wir aus der Geschichte von Zwentendorf lernen:
1. Obwohl eine dumme Regierung schon gebaut hatte, hat kluger Bürger-Protest den Unsinn noch verhindert.
2. Wenn ein zu 100 % fertig gebautes AKW gestoppt werden kann, dann kann auch ein Bahnhof gestoppt werden, der noch nicht einmal zu 10% gebaut ist.
3. Dass Stuttgart 21 ökologisch unsinnig ist, haben wir eben schon gehört. Aber Stuttgart 21 ist auch ökonomisch mindestens so unsinnig wie die von der Bundesregierung geplante Ausländer-Maut auf deutschen Autobahnen.

Wir sind nicht grundsätzlich gegen Großprojekte. Aber wir fragen nach dem Sinn von solchen Projekten. Die Energiewende hin zu 100% erneuerbaren Energien ist ein sinnvolles Großprojekt. Aber dieses sinnvolle Großprojekt wird eher von den Bürgerinnen und Bürgern organisiert als von der Regierung oder von den Großkonzernen. Ein weiteres sinnvolles Großprojekt, Frau Merkel und Herr Grube, wäre zum Beispiel die Renaissance der Flächenbahn in ganz Deutschland. Aber es geschieht das Gegenteil: in den letzten Jahrzehnten sind 31.000 Kilometer Schienen stillgelegt und zwölftausend Bahnhöfe abgerissen worden. Es ist einfach Hybris, wenn eine Großstadt in Mitteleuropa ihre urbane Gepflegtheit mindestens zehn Jahre aufgeben soll - nur, damit einige Züge einige Minuten früher ankommen. Freundinnen und Freunde, das ist objektiv Wahnsinn. Stuttgart 21 ist ein Anschlag auf Natur, Kultur und Heimat und auf den gesunden Menschenverstand.

Wichtiger als die Großmannssucht von Managern, Technikern und Politikern sind die realen Mobilitätsbedürfnisse aller Menschen. Für Manager und Politiker galt bisher die Devise: Immer schneller und immer größer. Für die meisten Menschen aber gilt: Sicher, mobil, pünktlich, preiswert, bequem. Für 90 % der Menschen dominieren die kurzen und mittleren Entfernungen bis zu 30 Kilometern und nicht die Frage, ob ich einige Minuten schneller von Stuttgart nach München komme. Primäre Aufgabe der Bundesbahn ist es, die etwa 1.000 Groß- und Mittelstädte Deutschlands mit einem weit verzweigten Netz vieler eng verknüpfter Hauptstrecken mit einander zu verbinden. Wenn das in der Schweiz klappt oder - warum soll eine gut ausgebaute Flächenbahn nicht auch in Deutschland funktionieren?

Die Bahn sagt: Kopfbahnhöfe seien nicht mehr zeitgemäß. Aber seltsamerweise kommen Frankfurt, Leipzig, London, Wien oder Paris mit Kopfbahnhöfen ganz gut zurecht. Nur Stuttgart soll damit überfordert sein. Das aber ist sehr provinziell gedacht.

Der neue Flughafen in Berlin, die Elbphilharmonie in Hamburg, Stuttgart 21 hier: Warum müssen alle Großprojekte am Schluss doppelt bis dreimal so teuer werden wie uns am Anfang gesagt wurde. Jeder der ein Haus baut, rechnet doch Mehrkosten immer mit ein. Wenn Kosten aber so explodieren wie bei Stuttgart 21 oder den anderen genannten Großprojekten, dann kann es dafür nur zwei Gründe geben: Entweder Unfähigkeit der Verantwortlichen oder bewusste Täuschung, also Betrug. Bei Stuttgart 21 riecht es sehr nach Betrug.

Die Wahrheit war das erste Opfer von Stuttgart 21. Großprojekte werden für ihre politische Zustimmung immer kleingerechnet. Aber die Quittung erhalten am Schluss die Steuerzahler. Stuttgart 21 ist ein Verbrechen am deutschen Steuerzahler. Meine Damen und Herren: Bei einem Fass ohne Boden hilft auch kein Kostendeckel.

Ich stelle mir folgende Situation vor: Alle Häuslebauer in Schwaben müssten ab sofort doppelt bis dreimal so viel bezahlen wie ursprünglich geplant. Ich bin kein Schwabe - Ich komme ja als Badener vom nichtschwäbischen Ausland - aber ich kann mir gut vorstellen, was hier los wäre! Eine Revolution!

Uns ist im Laufe der Jahre von Stuttgart 21 klar geworden: Der größte Kostensteigerungsfaktor ist die Unwahrheit. Die meisten Großprojekte werden deshalb so teuer, weil sie am Anfang trickreich schöngerechnet werden, um Politik und Öffentlichkeit zu täuschen. Frau Merkel: Wo bleibt denn die sparsame schwäbische Hausfrau, die Sie anderen immer als Vorbild hinstellen, wenn es um das Milliardengrab Stuttgart 21 geht? Stuttgart liegt noch immer mitten im Schwäbischen. Mein Gott, wir haben doch einen der schönsten und effektivsten Bahnhöfe hier, was soll denn der Schwachsinn eines neuen Tiefbahnhofs?

Am Ende könnte noch viel mehr verschwendet werden als wir heute ahnen. Für die Bahn ist das wirklich ein Debakel, aber es wird von Tag zu Tag größer, solange das Scheitern des Projekts nicht eingestanden wird. Stuttgart 21 ist bis jetzt eine Blamage, aber allmählich wird es für alle Beteiligten zum unkalkulierbaren Risiko.

Aber die Volksabstimmung! - werden wir immer wieder gefragt? Diese Abstimmung war eine Farce, weil ihr völlig falsche Zahlen zugrunde lagen. Auf der Basis der heutigen offiziellen Zahlen war die Volksabstimmung ein weiterer Betrug.

Als häufiger Bahnfahrer mit einer Bahncard 100 mache ich der Bahn diesen Vorschlag: Steckt die vielen Milliarden, die ihr bei Stuttgart 21 jetzt noch sparen könnt, so rasch wie möglich in tausende verlotterte Bahnhöfe und in die Infrastruktur einer modernen, wirklich zukunftsfähigen Bürgerbahn. Bürgerbahn in ganz Deutschland statt Größenwahn in Stuttgart! Deutschland braucht neben der Energiewende eine intelligente Verkehrswende! Nur dann wird aus dem Stauland endlich das Bahnland Deutschland.

Unsere Zeit ist geprägt vom Größenwahn der Großprojekte. Und von einem rastlosen Gigantismus. Was wir aber brauchen ist eine Rückkehr zum menschlichen Maß. Small is beautiful. Ökonomie muss dem Gemeinwohl dienen, nicht der Raffgier und dem Größenwahn weniger. Die Bundeskanzlerin hat schon vor zwei Jahren den starken Satz gesagt: "Stuttgart 21 muss sich aber auch rechnen." Frau Bundeskanzlerin: Wenn Sie diese Erkenntnis ernst nehmen, dann hat sich Stuttgart 21 von selbst erledigt.

Wenn Wackersdorf, Whyl und Brokdorf gestoppt werden konnten, weil der Widerstand und die Kosten zu groß wurden, dann kann auch Stuttgart 21 noch aufgehalten werden..

Nur ein Abschied vom alten Verkehrs-Größenwahn macht den Ausstieg aus der irrationalen Stau- und Autogesellschaft möglich. Wir fordern eine intelligente, eine rationale, eine effiziente und eine bezahlbare Verkehrswende. Nur dann wird auch Autofahren eines Tages heilbar.

Die Österreicher - einschließlich ihrer Regierung - sind heute sehr froh und dankbar, dass Zwentendorf gestoppt wurde und Österreich damit atomstromfrei und atommüllfrei blieb. Dank des Volkes. Genau so dankbar, werden die Deutschen und erst recht die deutschen Bahnfahrer in der Zukunft sein, wenn Stuttgart 21 so rasch wie möglich beendet wird. Es ist nicht zu spät, diesen offensichtlichen Fehler zu korrigieren. Je früher, desto besser.

Und noch etwas kann die ganze Republik von Ihrem Protest hier in Stuttgart lernen: eine große und breite Bürgerbewegung, die über fünf Jahre in über 270 Großdemonstrationen jedes mal tausende Bürgerinnen und Bürger mobilisiert - eine solche zivilisierte Protestkultur hat es in Deutschland und in Europa noch nie gegeben. Unser konkreter Vorschlag: Statt Stuttgart 21, wird in sehr viel kürzerer Zeit und mit deutlich weniger Geld der verbesserte Kopfbahnhof, K 21, gebaut. Das hätte hohe Symbolwirkung. Deutschland würde dann wieder eine wichtige Rolle in der europäischen Bahnpolitik übernehmen können.

Frau Merkel: Wir haben im Geiste dieses Kirchentag-Mottos einen Vorschlag: Klüger werden - und oben bleiben! Und wir bitten den heiligen Geist um größere Landeflächen bei unseren Regierenden.

Quelle: (c) Franz Alt 2015 - www.sonnenseite.com . Dieser Text wird hier mit freundlicher Genehmigung von Franz Alt veröffentlicht.

Fußnoten

Veröffentlicht am

12. Juni 2015

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