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Flüchtlingspolitik: Phantom Willkommenskultur

Die Ostländer wollen der EU nur schulden, was sie für verkraftbar halten

Von Lutz Herden

Freiheit, Pluralismus, Wohlstand, Heimkehr nach Europa - es gab viel ideologisches Töpfeklappern, als die EU vor zehn Jahren um acht Ostländer aufgestockt wurde. Die Erweiterung besiegelte den Epochenbruch von 1990 und wurde in der Überzeugung vorangetrieben, dass der Terraingewinn des westlichen Wirtschafts- und Wertesystems im Osten dadurch unumkehrbar werde. Zuweilen entstand der Eindruck, auserwählte Völker kämen in den Genuss einer in Europa selbstlos gepflegten Willkommenskultur. Wir schulden Osteuropa die Aufnahme in ein brüderlich vereintes Europa, so der Kanon.

Kein Quotensystem

Tatsächlich verlangte der EU-Eintritt eine ökonomische Anpassung, die auf Sozialstandards so wenig Wert legte, dass die Stabilität der Beitrittsstaaten Schaden nehmen konnte. Umso mehr war von Estland bis Ungarn der Leistungsnachweis eines Überbaus gefragt, der sich vorwiegend aus neokonservativen, oft marktradikalen und noch öfter amerikafreundlichen Transformationseliten rekrutierte. Die funktionierten - nur anders als gedacht. Als neue politische Klasse wollten sie dem vereinten Europa nicht mehr schulden, als um ihrer selbst willen gut sein konnte. Das zeigte sich schon 2003, als von den acht östlichen EU-Aspiranten sechs mit eigenem Militär für George Bushs "Koalition der Willigen" in den Irakkrieg zogen, zu dem Beitrittspaten wie Deutschland und Frankreich auf Distanz gingen.

Bis heute kollidiert in der EU nationale mit vergemeinschafteter Souveränität. Dies gilt erst recht, wenn von Tallinn bis Budapest die vergemeinschaftete Flüchtlingspolitik abgewehrt wird, weil - so die jeweiligen Regierungen - die innere Balance ihrer Gesellschaften darunter leide. Schwingt da die Erinnerung mit, dass einst die Willkommenskultur für den Osten weniger wohltätig als durchgerechnet war?

Als die EU-Kommission im Juni einen Verteilungsschlüssel vorschlug, der alle Mitgliedsstaaten bedachte, reagierten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei mit einem Veto, obwohl die zugedachten Aufnahmekontingente bescheiden blieben. Die Regierung in Tallinn sollte 1.064 Hilfesuchenden Zuflucht gewähren, gemessen an der estnischen Gesamtbevölkerung von 1,34 Millionen Menschen ein Anteil von 0,07 Prozent. Lettland wurde gebeten, 737 Asylsuchende aufzunehmen (0,03 Prozent der Bevölkerung), daraufhin bekam Brüssel von Innenminister Rihards Kozlovskis zu hören, bestenfalls 50 könne man verkraften. Hinnehmbar sei aus lettischer Sicht nur ein "freiwilliger EU-Einwanderungsplan - kein verbindlicher Mechanismus und kein Quotensystem".

Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite - im Juli eine Wortführerin, als es um verschärfte Griechenland-Auflagen ging - wollte sich keineswegs beauflagen lassen, 710 in Europa Gestrandeten aus dem Irak und Syrien in ihrem Land ein Willkommen zu gönnen (0,02 Prozent der Bevölkerung), höchstens 250 Personen sind möglich, so ihr Bescheid. Im Übrigen sei die Absicht zur EU-weiten Verteilung "unfair und nicht sinnvoll".

Die NATO einsetzen?

Polen hat sich lange gewunden, bevor aus Warschau die Zusage kam, man wolle 2.000 Flüchtlingen ein temporäres Aufenthaltsrecht geben, wovon bisher 57 (!) Syrer Gebrauch machen durften. Ansonsten wird der Vorwand bemüht, man müsse auf einen Massenzustrom aus der Ukraine gefasst sein, falls dort die Ereignisse aus dem Ruder liefen. Gesetzt den Fall, das passiert - woher sollen die Flüchtlinge kommen? Russen aus der Ostukraine dürften sich kaum für einen Staat entscheiden, der Russland wie einen Feind behandelt.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Tschechiens Vizepremier Andrej Babiš von der neoliberalen ANO-Partei ganz tief in den europäischen Wertecontainer griff, als er verlangte, NATO-Truppen müssten die EU-Außengrenzen schützen. Und im Bedarfsfall schießen?

Versagt Europa im Umgang mit den Flüchtlingen oder sagt es nur, wie es ist? Ein Staatenbund wie die EU stößt an Grenzen, weil es sich nun einmal um einen Zweckverband handelt, in dem Staaten darüber befinden, ob der ihnen nutzt oder schadet. Die östlichen EU-Neuzugänge lassen sich zwar gern protegieren, aber nicht als Protektorate behandeln, die einer Konsenspflicht unterliegen.

Quelle: der FREITAG vom 05.09.2015. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

06. September 2015

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