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Fluchtursachen überwinden - Solidarität mit Flüchtlingen

Von Michael Schmid (aus: Lebenshaus Schwäbische Alb, Rundbrief Nr. 86 vom September 2015 Der gesamte Rundbrief Nr. 86 kann hier heruntergeladen werden: PDF-Datei , 797 KB)

Liebe Freundinnen und Freunde,

wir alle sind weiter mit dem brennenden Thema Flucht und Migration konfrontiert. Weltweit gibt es über 60 Millionen Menschen, die auf der Flucht sind. Tägliche Bilder von geretteten Bootsflüchtlingen, aber auch Nachrichten von Menschen, die auf ihrer Flucht über das Mittelmeer ertrunken sind. Weit über 2.000 Ertrunkene bereits wieder dieses Jahr. Dazu Bilder von Flüchtlingen, die in einem deutschen Aufnahmezentrum ankommen. Und von unhaltbaren Verhältnissen in Asylunterkünften und Zeltdörfern, in denen Asylsuchende ohne jegliche Privatsphäre untergebracht werden, oft 100 Menschen in einem Zelt, Feldbett an Feldbett. Kein Ende finden die feigen und abscheulichen Angriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte. Dazu eine Bundesregierung, die zur Welle der Gewalt sehr, sehr lange schweigt. Fatal, wenn Innenminister de Maizière oder irgendwelche CSU-Populisten genau dann eine Diskussion um angeblich zu hohe Taschengelder für Flüchtlinge oder angeblichen "Asylmissbrauch" anzetteln und damit zusätzlich Öl ins Feuer gießen.

Es gibt in unserem Land einerseits viele Bürgerinnen und Bürger, die kein Verständnis für Forderungen nach einer flüchtlingsfreundlicheren Politik haben. Andererseits spricht sich knapp die Hälfte der Bevölkerung für eine liberalere Aufnahme von Flüchtlingen aus. Die Zunahme von Flüchtlingen hat durchaus zu mehr Empathie und Engagement in der deutschen Gesellschaft geführt. Wobei auffällt, dass die Stimmung gegenüber Bürgerkriegsflüchtlingen und Opfern des islamistischen Terrors häufig positiver ausfällt als gegenüber anderen Flüchtlingsgruppen. Nicht nur an Stammtischen ist von "Wirtschaftsflüchtlingen" oder "Armutsflüchtlingen" die Rede. Immer öfter fordert auch die Politik, erst einmal die "richtigen" Flüchtlinge von den angeblichen "Wirtschaftsflüchtlingen" zu trennen.

Dabei wird über sogenannte "Wirtschaftsflüchtlinge" gerne so geredet, als würde es sich um Trickbetrüger handeln, die anständige Menschen um ihr hart verdientes Geld bringen wollen. Doch Menschen müssen schon sehr verzweifelt sein, wenn sie ihre Heimat verlassen, um in einem Schlauchboot die Fahrt über das offene Meer zu wagen. Hinter jedem einzelnen Flüchtling steht eine lange Geschichte von Elend und Angst.

Fluchtursache: Wirtschaftspolitik der EU

Das abfällige Gerede über "Wirtschaftsflüchtlinge" und ihre Unterscheidung zu Kriegsflüchtlingen ist auch aus anderen Gründen mehr als fragwürdig. Denn es ist unter anderem die Wirtschaftspolitik der EU, die maßgeblich daran beteiligt ist, Menschen in anderen Ländern und Kontinenten ihre Existenzgrundlage zu entziehen. Damit trägt sie dazu bei, dass manche Verzweifelte ins vermeintlich "gelobte Europa" zu fliehen suchen.

Zu diesen wirtschaftspolitischen Maßnahmen der EU gehören sogenannte "Freihandelsabkommen", mit denen die EU zum Beispiel afrikanische Staaten zur Öffnung ihrer Märkte drängt. So wurden bis zum letzten Jahr drei getrennte Freihandelsabkommen - die Economic Partnership Agreements, kurz EPA - für West-, Ost- und Südafrika abgeschlossen. Gegen zum Teil heftigen Widerstand von afrikanischen Regierungen, die sich bis zu zehn Jahre gegen den Abschluss dieser Abkommen gesträubt haben, weil sie wussten, welche negativen Wirkungen dies für ihre Länder haben würde.

Eine Folge dieser "Freihandelsabkommen" ist die Überschwemmung afrikanischer Märkte mit hochsubventionierten Billigimporten aus Europa, gegen die einheimische Hersteller nicht ankommen. Ihrer Existenzgrundlage beraubt, suchen dann manche davon Betroffene einen Ausweg aus ihrer Misere und machen sich auf den riskanten Weg durch Wüsten, Savannen, feindliche Stammesgebiete und schließlich über das Mittelmeer.

Ausführlicher auf diese "Freihandelsabkommen" der EU mit afrikanischen Staaten und deren dramatischen Folgen geht der Journalist Marc Engelhardt in seinem Artikel "Freihandel: Abkommen, die Afrika seiner Chancen berauben" ein, den wir in diesem Rundbrief veröffentlichen.

"Diese Wirtschaft tötet!"

Arian Schiffer-Nasserie, Professor an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum, zieht den Schluss, dass die Toten im Mittelmeer ein unvermeidbares Produkt unserer kapitalistischen Weltordnung seien. Die Flüchtlinge und deren Tod, so sagt er, seien einkalkuliert und notwendig für den westlichen Wohlstand. Die im Mittelmeer Ertrunkenen und die kapitalistische Weltordnung gehören für ihn zusammen. "Die Ursache liegt in einer Weltordnung, die darauf ausgelegt ist, dass die erfolgreichen kapitalistischen Staaten Westeuropas und Nordamerikas den Nutzen aus der Welt ziehen und die Armutsresultate, die sie dabei überall produzieren, und das Elend, das dabei notwendig zustande kommt, bei sich nicht haben wollen", sagt er in einem Interview, das wir ebenfalls in diesem Rundbrief veröffentlichen. ( "Sind tote Flüchtlinge unvermeidlich für unseren Wohlstand?" )

Vor diesem Hintergrund kritisiert Arian Schiffer-Nasserie deshalb auch jene Haltung von flüchtlingsfreundlichen Gruppen, die der Bundesregierung unterlassene Hilfeleistung gegenüber Flüchtlingen vorwerfen. Sie würden die Bundesrepublik stets nur als Helfer wahrnehmen, und zwar als schlechten Helfer. Dabei sei das Gegenteil wahr. Deutschland sei zentral an der Verursachung der Fluchtgründe mit beteiligt.

Auch der Globalisierungskritiker Jean Ziegler lässt es an radikaler Kritik an der "kannibalischen Weltordnung" (Ziegler) nicht fehlen, die auf einem System struktureller Gewalt beruhe. Die 500 größten Unternehmen der Welt kontrollierten 52,8 Prozent des Welt-Bruttosozialproduktes. Ihr einziges Ziel sei die Profitmaximierung, das ständige Hochschrauben des Unternehmenswertes und des davon abhängigen Kurswertes der jeweiligen Aktien. Zugleich sterbe im Süden der Welt alle zehn Sekunden ein Kind an den Folgen des Hungers. Laut Welternährungsbericht seien eine Milliarde von den 7,3 Milliarden Erdenbewohnern unterernährt. Und dies, obwohl die Erde 12 Milliarden Menschen ernähren könne. "Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. So sehen die Strukturen der Weltdiktatur aus", sagt Jean Ziegler in einem Interview mit Publik-Forum.

Auch Papst Franziskus hat jüngst während seiner Südamerika-Reise erneut gegen den neoliberalen Kapitalismus festgestellt: "Diese Wirtschaft tötet!" Und leidenschaftlich hat er die Ausgebeuteten, Armgemachten und Unterdrückten der "Dritten Welt" zum Widerstand aufgerufen.

Fluchtursachen überwinden - Solidarität mit Flüchtlingen

Wem etwas an der Abschaffung des Flüchtlingselends gelegen ist, der sollte über die Fluchtursachen Bescheid wissen, diese thematisieren, an deren Überwindung arbeiten. Letzteres ist eine unendlich schwierige, aber unerlässliche Aufgabe. Sie bedeutet nichts weniger, als letztlich die Überwindung des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.

Gleichzeitig muss von unserem Land gefordert werden, sichere Wege für Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten zu eröffnen, auf denen Menschen nicht ihr Leben riskieren müssen. Sich dafür sowie gegen Abschottungs- und Abschreckungsmaßnahmen von Politik und Bürokratie einzusetzen, ist deshalb eine wichtige Aufgabe für Menschen und Initiativen, die sich solidarisch für Flüchtlinge engagieren wollen. Zudem bedarf es der ganz konkreten Unterstützung und Begleitung von Flüchtlingen aus der Zivilgesellschaft heraus, weil der Staat und die Kommunen alleine nicht die Integration von hunderttausenden Menschen auf der Flucht zustande bringen können. Bürokratie ist außerdem kaum in der Lage, Empathie zu erzeugen. Diese kann nur durch Menschen und Initiativen entstehen und in Unterstützungsaktionen zum Ausdruck kommen.

Ganz aktuell werden dieser Tage bei uns in Gammertingen bis zu 87 neue Asylsuchende erwartet. Erfreulicherweise gibt es bereits eine Reihe von Menschen und Organisationen, die sich hier engagieren wollen. Das Lebenshaus gehört dazu. Wir haben jahrzehntelange Erfahrungen mit Asylsuchenden, Migrantinnen und Migranten, die wir gerne weiter einbringen werden. Katrin Warnatzsch geht in ihrem Artikel darauf ein.

"Revolution der Werte"

Insgesamt ist es unser Ansatz als Lebenshaus, uns mit einzelnen Menschen in schwieriger Lebenslage zu solidarisieren und diese zu unterstützen. Gleichzeitig versuchen wir die strukturellen Ursachen von Flucht und Migration in den Blick zu nehmen und für eine Veränderung einzutreten. Wir folgen dabei etwa Martin Luther King, der in seinen Reden immer wieder folgendes gesagt hat: "Wir sind aufgerufen, den guten Samariter am Straßenrand des Lebens zu spielen; aber das wird nur das Vorspiel sein. Eines Tages muss die ganze Straße von Jericho so umgewandelt werden, dass die Menschen auf ihrer Lebensreise nicht mehr geschlagen und beraubt werden. Echtes Mitleid bedeutet mehr, als einem Bettler eine Münze hinzuwerfen; es ist das Verständnis dafür, dass ein Haus, das Menschen zu Bettlern macht, umgebaut werden muss."

Um diesen Umbau zu bewerkstelligen, hat King zu einer "Revolution der Werte" aufgerufen. "Eine echte Revolution der Werte", sagte er u.a., "wird über die Meere schauen und sehen, wie einzelne Kapitalisten des Westens riesige Geldsummen in Asien, Afrika und Südamerika investieren, nur um ohne Rücksicht auf eine soziale Verbesserung in diesen Ländern die Gewinne abzuschöpfen, und wird sagen: ‚Das ist nicht gerecht.’"

Wichtig: Ermutigung und Hoffnung

Weil uns Ermutigung angesichts all dieser Herausforderungen so wichtig ist, beabsichtigen wir mit unserer Tagung 2015 "We shall overcome!" wieder, am Beispiel engagierter Aktivistinnen und Aktivisten zu erkunden, woher sie Kraft, Mut und Hoffnung für langjähriges Engagement nehmen. Damit können sie überzeugendes Beispiel und Ermutigung für Menschen sein, die sich für eine gerechtere, friedvolle und zukunftsfähige Welt engagieren. Deshalb erhoffen wir uns eine gute Beteiligung und laden herzlich dazu ein!

Ebenfalls Grund zur Hoffnung sind für mich all die zahlreichen Menschen, die unseren Weg unterstützen. Finanziell, durch tatkräftiges Mitmachen, ideell. Ganz herzlichen Dank dafür!

Herzliche Grüße
Euer / Ihr

Michael Schmid

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Für sein gesamtes Engagement ist Lebenshaus Schwäbische Alb fast ausschließlich auf Spenden und Mitgliedsbeiträge angewiesen. Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit, Aktionen und Veranstaltungen wie z.B. die für diesen Herbst erneut geplante Tagung, die Unterstützung von Menschen in schwierigen Lebenssituationen, die Personalkosten für eine 30-Prozent-Teilzeitstelle und einen Minijob sowie möglichst Abbau von Schulden erfordern erhebliche Finanzmittel.

Wir benötigen dieses Jahr rund 55.000 Euro an Spenden und Mitgliedsbeiträgen. Bis Mitte August haben wir Spenden und Mitgliedsbeiträge in Höhe von 27.000 Euro erhalten. Dies entspricht 49 Prozent des voraussichtlichen Jahresbedarfs. Ganz herzlichen Dank dafür!

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Fußnoten

Veröffentlicht am

01. Oktober 2015

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