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Konstantin Wecker: Die Unmenschlichkeit dieser Anschläge darf uns nicht unserer Menschlichkeit berauben

Wie reagiert man auf Morde - mit weiteren Morden? Kann man das Böse bekämpfen, indem man sich ihm immer ähnlicher macht? Diese "Strategie" hat der von den USA geführte Westen nach dem 11. September 2001 angewandt - und ist kläglich gescheitert. Schon basteln interessierte Kreise am Mythos eines "europischen 9/11?. Das bedeutet: "Nichts ist wie es vorher war", Ausbau der Überwachung, Abbau von Bürgerrechten, Krieg im Nahen Osten, die Verführung der Bevölkerung zu einem Opfer der Freiheit um der Sicherheit willen. Einer Sicherheit, die die Verantwortlichen selbst durch Waffenhandel, Kriege und die Destabilisierung der islamischen Welt am stärksten gefährdet haben. Viele werden sich blenden lassen - nicht aber Konstantin Wecker, wie sein hellsichtiger Kommentar zeigt.

Von Konstantin Wecker

Liebe Freunde,

mit einem grinsenden Smiley bejubelt Matthias Matussek, Autor der "Welt", auf Facebook die Anschläge von Paris, um sie für sein rassistisches Weltbild zu gebrauchen: "Ich schätze mal, der Terror von Paris wird auch unsere Debatten über offene Grenzen und eine Viertelmillion unregistrierter junger islamischer Männer im Lande in eine ganz neue frische Richtung bewegen." Aber ist es nicht so, dass diese "unregistrierten jungen Männer und Frauen" genau vor diesem Terror fliehen? Vor den Mörderbanden des IS?

Anstatt alle islamischen Männer unter Generalverdacht zu stellen, sollte man einfach mal nachdenken: Derart gut ausgerüstete Attentäter begeben sich ganz sicher nicht schwer bewaffnet auf eine monatelange Flucht übers Mittelmeer, sie sind von gut vernetzten und finanziell bestens ausgestatteten Organisationen mit Waffen bestückt und geschickt. So schrecklich es ist, aber nun bekommen wir einmal mehr etwas davon mit, in welcher Angst Millionen von Menschen seit Jahren leben müssen, tagtäglich Terror und Bombenangriffen ausgeliefert. Und wer weiß, wenn man die Waffen der Terroristen zurückverfolgen würde, ob man nicht immer wieder auch auf Waffen deutscher Herstellung stoßen würde.

Herr Matussek ist gespannt "wann die Regierenden erneut eine Lichterkette aufbauen und davor warnen, den Islam zu verteufeln und den rechten Populisten hinterherzulaufen". Es ist schäbig, so ein schreckliches Ereignis für seine eigene krude Ideologie zu missbrauchen. Doch ich fürchte es wird Schule machen. Matussek ist natürlich nicht allein. Rechtspopulisten, wie Bayerns Finanzminister Markus Söder fordern nach den Anschlägen von Paris Konsequenzen für die deutsche Flüchtlingspolitik. "Es kann nicht sein, dass wir nicht wissen, wer nach Deutschland kommt und was diese Menschen hier machen. Diesen Zustand müssen wir mit allen Mitteln beenden". So kocht eben jeder dieser aufrechten Männer sein infames Süppchen mit dem Leid der Menschen.

In seinem klugen Kommentar im "Neuen Deutschland" schreibt Tom Strohschneider: "Auf gewisse Weise sind die Hass-Twitterer und die Matusseks dieser Welt die besten Helfershelfer der Terroristen. Beide betreiben ein Geschäft mit der Angst, in dem der Tod von Menschen eingepreist ist, und das dazu dienen soll, einen erreichten Stand gesellschaftlicher Zivilität zu unterminieren, den man zwar für unzureichend halten kann. Der aber verteidigt gehört gegen den Rückfall in barbarische Zustände. Vive la liberté."

Lasst uns in unserer berechtigten Wut über diese barbarische, grausame, durch nichts zu entschuldigende Tat nicht die Ärmsten der Armen zu Sündenböcken machen. Die Unmenschlichkeit dieser Anschläge darf uns nicht unserer Menschlichkeit berauben.

P.S.:
Bernd Ulrich schreibt in der ZEIT: "Der größte Feind des islamistischen Terrorismus ist die Willkommenskultur. Denn das ist das einzige, was wir noch nicht ausprobiert haben: die Araber und Perser so zu behandeln, als seien sie Menschen wie Du und ich, wie Nachbarn. In den letzten 100, 50, 20, zehn und zwei Jahren haben Europäer und Amerikaner den Mittleren Osten misshandelt, ausgebeutet und verachtet. Nie stand die Frage im Zentrum, was können wir tun, damit es den Menschen dort unten besser geht. Immer ging es zu allererst um die Frage, wie man Öl rausholt und Terrorismus nicht rauskommen lässt. (…) Dazu müssen die Europäer sich mit den gutwilligen, fliehenden, dort unten um ihre Rechte kämpfenden Muslimen gegen jene verbünden, die Hass säen, gegen die Terroristen vom IS und gegen die herrschenden Islamisten in Saudi-Arabien…"

Einen anderen Weg gibt es nicht, oder Europa taumelt - wie es seinerzeit Thomas Mann über Deutschland schrieb - dem Abgrund entgegen.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 16.11.2015.

Veröffentlicht am

18. November 2015

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