USA: Das Problem mit den WeißenEine Studie von Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton sorgt mit einer Sozialanalyse für AufsehenVon Konrad Ege Das treibt demokratische Politiker zur Verzweiflung: Viele Weiße aus der Arbeiterschicht und den unteren Einkommensgruppen gehen nicht wählen oder entscheiden sich in der Stimmkabine für Politiker, die Sozialprogramme kürzen und Gewerkschaften schwächen. Im Staat Kentucky - 88 Prozent der Bevölkerung sind dort weiß - wurde im November ein Donald-Trump-artiger Politiker zum Gouverneur gewählt. Besonders viele Stimmen bekam der Republikaner Matt Bevin in den ärmsten Landkreisen. Es ist überhaupt nicht gut bestellt um die weiße Arbeiterschicht: Das zeigen neue Sterblichkeitsdaten, die kaum zu Regierungsstatistiken von abnehmender Arbeitslosigkeit und Aufschwung passen. Auch nicht zum Gerede vom Chancenreichtum auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt. Vergleiche drängen sich auf zur "negativen Bevölkerungsentwicklung" in den Kollapsjahren der Sowjetunion, als sich Menschen scharenweise zu Tode tranken. Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton und die Ökonomin Anne Case haben soeben eine Studie vorgelegt, der sich entnehmen lässt, dass die Sterblichkeit weißer Amerikaner im Alter zwischen 45 und 54 von 1999 bis 2013 zugenommen hat. Statt 381 Todesfälle auf 100.000 Personen pro Jahr seien es für diese Altersgruppe inzwischen 415. Nirgendwo in anderen Industrienationen gebe es einen vergleichbaren Trend. Gut eine halbe Million Todesfälle wären vermeidbar gewesen, hätte es im untersuchten Zeitraum jenen Abwärtstrend bei der Sterblichkeitsrate gegeben wie zwischen 1979 und 1998, so das Fazit der Studie, die im Magazin Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht wurde. Zu ergänzen wäre, die Sterblichkeitsrate Schwarzer mittleren Alters ist nach wie vor höher als die von Weißen, doch zwischen 1999 und 2013 zurückgegangen. Ursachen für das Sterben der Weißen mittleren Alters seien Alkohol, Drogen, Medikamentenmissbrauch und Suizid, sagen Deaton und Case. Sie beschreiben, wer vorzeitig mit Leberzirrhose oder einem Strick um den Hals aus dem Leben scheidet. Es seien Weiße mit Volksschulabschluss oder weniger. Sie würden unten auf der Einkommensleiter stehen, hätten früher Sachen produziert, die heute nicht mehr gebraucht werden, und seien weit davon entfernt, auf den Zug Richtung Service-Wirtschaft und Online-Know-how zu springen. Vorteil für ClintonDie Sache mit der Sterblichkeit sei komplex, warnen Deaton und Case, doch "angesichts der wachsenden Einkommensunterschiede" stellten viele aus den Babyboom-Generationen (Jahrgänge 1946 bis 1964) "in den mittleren Jahren erstmals fest, dass sie wirtschaftlich schlechter dastehen als ihre Eltern". Altersversorgung werde in den USA zunehmend dem Markt überlassen, was Zukunftsangst vor allem bei denen verursacht, die kurz vor der Rente stehen. US-Präsidentschaftskandidaten verkünden Optimismus. Ronald Reagan war Meister mit seinem "Es wird wieder Morgen in Amerika". Barack Obama versprach Wandel und Hoffnung. Im laufenden Wahlkampf vertreiben republikanische Anwärter Hiobsbotschaften. Unter Obama gehe alles den Bach runter. Meister dieser Rhetorik ist Showman Donald Trump. Angereichert mit der Hetze gegen Einwanderer kommt das Wehklagen offenbar an bei manchen Weißen, die an Boden verlieren. Laut einer gemeinsamen Studie der Brookings Institution und des Public Religion Research Institute stammen 55 Prozent von Trumps Anhängern aus der weißen Arbeiterschicht. Rund die Hälfte komme aus der Altersgruppe zwischen 45 und 64, sagen die Demoskopen bei yougov.com. Analysten aus dem Umfeld der Demokraten machen schon lange gesellschaftliche Konflikte zu Abtreibung, Homoehe und Schusswaffen verantwortlich für den Umstand, dass konservativ orientierte Weiße oft gegen eigene wirtschaftliche Interessen stimmen. Der Rassenaspekt lastet schwer: Viele Weiße haben es offenbar nicht "verkraftet", dass ein Schwarzer im Weißen Haus sitzt. Gerade die Trump-Anhänger sind Bürger, die sich "diskriminiert" fühlen angesichts des Schwindens weißer Privilegien. Harold Meyerson, Redakteur des gewerkschaftsnahen Magazins prospect.org , zog Bilanz: Seit den 60er Jahren habe die Demokratische Partei die Arbeit "gegen die sehr realen Ungerechtigkeiten bezüglich Rasse und Gender mehr betont als die sehr realen Ungerechtigkeiten in Bezug auf die Klasse". Die Gewerkschaften in den USA hätten in den letzten Jahrzehnten drastisch an Einfluss verloren. Es trifft ausgerechnet die Organisationen, die versucht haben, Klassen-, Gender- und Rasseninteressen zusammenzuweben. Eine politische Kultur der Entsolidarisierung ist die Folge. Der Staat Kentucky, der bis zur Wahl im November acht Jahre von einem demokratischen Gouverneur regiert wurde, galt als leuchtendes Beispiel für den Erfolg der Gesundheitsreform Obamacare. Nirgendwo ging der Prozentsatz Nichtversicherter so stark zurück wie in Kentucky, nach Regierungsangaben von 14,3 auf 8,5 Prozent zwischen 2013 und 2014. Der neue republikanische Gouverneur Bevin hat im Wahlkampf versprochen, ein solches "Big Government"-Programm zusammenzustreichen. Und er stellte sich demonstrativ hinter die Standesbeamtin Kim Davis, die in Kentucky gleichgeschlechtlichen Paaren keine Heiratslizenz ausstellen will. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 30 Prozent. Viele Neuversicherte sind offenkundig nicht an die Urne gegangen, um Obamacare zu verteidigen. Ein Indiz dafür, dass sich viele Amerikaner aus den unteren Einkommensschichten von der Politik verabschiedet haben. Sie sehen die Demokratische Partei nicht als Vertreterin ihrer Interessen. So wird Platz für rechte Demagogen, die ankündigen, sie würden sich mit der Elite anlegen. Barack Obama hat die Wahl 2012 dank einer Koalition aus Afroamerikanern (93 Prozent stimmten für ihn), Latinos (71 Prozent), jungen Amerikanern (60 Prozent), progressiven Weißen und Frauen (55 Prozent) gewonnen. Insgesamt 39 Prozent der Weißen wählten Obama. Diese Konstellation dürfte reichen für Hillary Clinton, wenn jener Teil der Bevölkerung 2016 tatsächlich abstimmen geht. Aber riskant ist es schon. Progressive Politiker würden etwas tun, anstatt abzuwarten. Quelle: der FREITAG vom 09.12.2015. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Konrad Ege und des Verlags. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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