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Amerikas neues Vietnam im Nahen Osten

Eine Geschichte, die erzählt, dass der "Islamische Staat" einen Bürgerkrieg führt, könnte eine Friedensbewegung ankurbeln

Von Ira Chernus

Es war vor einem halben Jahrhundert, aber ich erinnere mich noch lebhaft daran. "Wir müssen Südvietnam beistehen", hatte ich gesagt. "Es ist eine souveräne Nation, in die die Nation Nordvietnam einmarschiert."

"Nein, nein", widersprach mein Freund. "Es gibt nur ein einziges Vietnam, vom Norden bis zum Süden und es ist künstlich geteilt worden. Es handelt sich um einen Bürgerkrieg. Und es ist nicht unsere Angelegenheit, uns da einzumischen. Wir machen die Sache für alle nur  schlimmer."

Bis dahin hatte ich noch nie gehört, dass jemand den Vietnamkrieg auf diese Weise beschrieben hatte. Im Rückblick sehe ich die Antwort meines Freundes als meine erste Lektion in der Grundwahrheit politischen Lebens: Politik ist immer ein Wettbewerb zwischen miteinander konkurrierenden Narrationen. Der Geschichte entsprechend, die man akzeptiert hat, sieht man die Sache und entscheidet sich folglich dafür, einer bestimmten Politik zuzustimmen. Diejenigen, die bestimmen, welche Narration herrscht, bestimmen wahrscheinlich auch über das, was getan wird. Aus diesem Grund bündeln Regierungen regelmäßig ihre Kräfte - man nenne es Propaganda oder sonst wie -, um bestimmen zu können, welche Geschichte Gültigkeit hat.

Eben jetzt, da die Amerikaner ein waches Auge auf den Islamischen Staat (IS) haben, gibt es nur zwei miteinander konkurrierende Geschichten über die sich im Nahen Osten entwickelnde Situation: Man stellt sie sich als schleichende Ausweitung einer Operation oder als Lasst-die-Wüste-erglühen-Geschichte vor. Die Obama-Regierung behauptet, dass wir Amerika "verteidigen" müssten, indem wir unsere Bemühungen verstärkten. Diese reichen von Luftschlägen bis zum Stellen von Beratern für besondere Angriffsoperationen gegen den IS. Regierungskritiker, besonders die republikanischen Präsidentschaftskandidaten, drängen darauf, dass wir uns damit "verteidigen" sollten, dass wir den IS kurz und klein bombardieren, dass wir beträchtliche Kontingente amerikanischer Soldaten dort hinschicken und dass wir schnell den Militäreinsatz erhöhen. Trotz der Tatsache, dass die Obama-Regierung und der Kongress sich um das Wort "Krieg" herumdrücken wollen, sind beide Versionen offensichtlich Kriegsgeschichten. Eine echte Friedensgeschichte ist nicht in Sicht.

Selbstverständlich bohren Friedensaktivisten eifrig Löcher in die beiden Kriegsgeschichten. Das ist nicht schwer. Sie weisen darauf hin, dass Kampfaktionen der USA offensichtlich kontraproduktiv sind, denn sie bieten dem IS genau das, was er haben will. Trotz allen Fantasien einer apokalyptischen Endschlacht mit den Ungläubigen plant der IS nicht, die USA im gewöhnlichen Sinne anzugreifen, und er wäre dazu auch nicht in der Lage. Sein praktisches, realistisches Ziel ist es, mehr Muslime an allen Orten auf seine Seite zu ziehen. Kaum etwas dient diesem Zweck besser als amerikanische Angriffe auf Muslime im Nahen Osten.

Wenn der IS gelegentlich Anschläge in Europa ausführt und versucht, solche Anschläge in den USA anzuregen, dann tut er das vor allem, um Vergeltung zu provozieren. Er möchte Washingtons ständiges Ziel sein. Das verleiht ihm Prestige und wertet seinen Kampf auf. Jedes Mal, wenn wir den Köder schlucken, verhelfen wir damit dem IS zu einem weiteren Sieg, helfen ihm wachsen und vergeben neue "Lizenzen" in weiteren überwiegend muslimischen Nationen.

Das ist eine vernünftige Analyse, die die Rechtfertigung für mehr Krieg wirkungsvoll widerlegt. Es genügt jedoch nie, wenn man nur nachweist, dass die herrschende Narration nicht zu den Tatsachen passt. Wenn man die Politik verändern will, braucht man eine neue Geschichte, eine, die auf neuen Prämissen aufbaut und die dann weit besser zu den Tatsachen passt.

Jahrhunderte lang fanden Wissenschaftler alle möglichen Schwachstellen in der alten Vorstellung, dass die Sonne sich um die Erde drehe. Diese herrschte jedoch so lange, bis Kopernikus mit einer vollkommen neuen Vorstellung herauskam. Dasselbe gilt für die Politik. Wir brauchen nicht nur eine negative Narration, die besagt: "Aus diesem und jenem Grund sind eure Ideen und Handlungen falsch", sondern wir brauchen eine positive Narration, eine Narration, die besser als die herrschende zu den Tatsachen passt. Da sie auf einer neuen Prämisse aufbaut, kann sie neue Wege, in der Welt zu handeln, aufzeigen und auf diese Weise eine leistungsfähige Bewegung, die Veränderung fordert, ins Leben rufen.

In der Vergangenheit gingen Friedensbewegungen, wenn sie in Höchstform waren, über das bloße Kritisieren hinaus und boten Geschichten an, die Konflikte auf wirklich neue Weise darstellten. Zurzeit muss die Friedensbewegung in den USA jedoch die alternative Narration, die sie braucht, um über den IS zu sprechen, erst noch finden, weil sie andernfalls kaum mehr als ein schweigender Schatten auf der politischen Szene der USA sein kann.

Neuauflage von Vietnam

Das soll nicht heißen, dass die Friedensbewegung keine Geschichte aufzuweisen hätte. Eine möglicherweise wirksame Narration, die sie ins Leben zurückbringen könnte, liegt in Sichtweite vor ihr, und zwar genau in der üblichen Kritik der Friedensaktivisten am Krieg der USA gegen den IS.

Der IS führe weder gegen die USA noch gegen Europa Krieg, heißt es in der Kritik. Seine gelegentlichen Anschläge in den Landstrichen der "Ungläubigen" hätten vor allem das Ziel, die Muslime, die dort leben, zu radikalisieren, in der Hoffnung, sie für sich rekrutieren zu können. Tatsächlich sind alle IS-Strategien darauf abgestimmt, Muslime auf ihre Seite zu ziehen und mehr Einfluss in überwiegend muslimischen Weltgegenden zu gewinnen. Eben dort ereignen sich die allermeisten vom IS ausgeführten oder inspirierten Gewalttaten, überall in dem, was Muslime dar al-Islam, "die Heimat des Islam", nennen: von Nigeria bis Syrien und bis nach Indonesien.

Für den IS besteht das Problem in Folgendem: Die große Mehrheit der Muslime nimmt ihnen ihre Geschichte nicht ab. Tatsächlich macht sich der IS ebenso Feinde wie Freunde, wohin er auch kommt. Anders gesagt: Er ist innerhalb von dar al-Islam in einen Bürgerkrieg verwickelt.

Jeder Schritt, den wir weiter in den Bürgerkrieg hinein tun, ist ein falscher Schritt, der uns nur angreifbarer macht. Je stärker unser aktiver Widerstand gegen den IS ist, umso mehr Vorwände und Antriebe liefern wir ihm, uns anzugreifen, und umso leichter ist es für den IS, Kämpfer zu rekrutieren, die für ihn arbeiten. Die beste Möglichkeit, das Leben von Amerikanern zu schützen, ist das Überwinden unserer Ängste und die Weigerung, in einem Bürgerkrieg anderer Leute Partei zu ergreifen.

Dies ist die positive Narration, die noch darauf wartet, aus der Analyse der Friedensbewegung herausgeschält zu werden. Ein Grund dafür, dass die Bewegung in den letzten Jahren so geringen Einfluss hatte, ist, dass sie die Narration vom "muslimischen Bürgerkrieg" niemals direkt ausgedrückt hat. Dabei passt sie sehr viel besser zu den Tatsachen als irgendeine andere Kriegsgeschichte im Angebot. Sie verschiebt unsere Wahrnehmung der Situation radikal, indem sie die Grundvoraussetzung der herrschenden Narration verneint, die ist: Der IS führt gegen Amerika Krieg und deshalb müssen wir im Gegenzug auch Krieg machen. Die Narration vom muslimischen Bürgerkrieg weist den Weg zu einer neuen Politik der Zurückhaltung.

Für Amerikaner ist es eine einfache und überzeugende Geschichte, weil sie ihnen sehr vertraut ist. Sie versetzt uns in die Zeit vor einem halben Jahrhundert und um die halbe Welt: nach Vietnam. Damals vertraten mein Freund und (etwas später) auch ich die Narration, dass Vietnam tatsächlich von einem Bürgerkrieg erfasst worden sei. Diese Erklärung spielte für die Förderung des Erfolgs der Friedensbewegung der Sechziger Jahre eine große Rolle. Im Laufe weniger Jahre sahen Millionen Amerikaner - Zivilpersonen wie Soldaten gleichermaßen - den Konflikt auf diese Weise und nicht allzu viele Jahre danach waren alle US-Soldaten aus Vietnam verschwunden.

Die Geschichte der damaligen Friedensbewegung war einfach und zutreffend. Nein, besagte sie, wir sind nicht die Guten, die eine unabhängige Nation vor der Invasion durch eine andere Nation schützen. Und wir kämpfen auch nicht gegen einen Feind, der die Absicht hat, uns zu schaden. Der Boxchampion Muhammad Ali hatte es richtig verstanden, als er sagte: "Ich habe keinen Streit mit dem Vietkong."

Unsere Intervention in den vietnamesischen Bürgerkrieg kostete mehr als 58.000 Amerikanern das Leben und richtete bei den Veteranen unsäglichen Schaden an, ganz zu schweigen von dem, was sie Millionen von Vietnamesen antat. Sie zeigte uns, dass wir, ganz gleich wie überlegen auch unsere Technik sei, nicht einfach in den Bürgerkrieg anderer Leute hineinstürzen und ihn gewinnen konnten. Unsere Intervention musste mehr schaden als nützen.

Fünfzig Jahre später wiederholen wir denselben kontraproduktiven Fehler. Militäraktionen gegen den IS führen uns in eine weitere Vietnam ähnliche Zwickmühle, dieses Mal im Irak, in Syrien und an anderen Orten im Nahen Osten. Wieder einmal haben wir uns in einen komplexen Bürgerkrieg im Ausland eingemischt, ohne dass wir eine Strategie hätten, die zum Sieg führen kann. Damals war es falsch. Jetzt ist es falsch.

Gelinde gesagt, haben die USA hinsichtlich des Eingreifens in die Bürgerkriege anderer Leute eine wenig ruhmreiche Bilanz aufzuweisen. Außerdem haben wir recht selektiv eingegriffen. In den letzten zwei Jahrzehnten haben wir uns an Orten wie Kongo und Sri Lanka aus brutalen Konflikten herausgehalten. Die Entscheidung, militärisch nicht in einen ausländischen Bürgerkrieg einzugreifen, sollte Amerikanern folglich durchaus vertraut sein.

Neutral werden bedeutet nicht, die grauenvolle Brutalität und die reaktionären Werte des IS  zu billigen. Es ist kaum wahrscheinlich, dass die Friedensaktivisten des einundzwanzigsten Jahrhunderts dem IS irgendetwas entgegenbrächten, das dem Mitgefühl gleichkäme, das viele, die gegen den Vietnamkrieg protestierten, damals mit den Aufständischen empfanden. Im gegenwärtigen Fall bedeutet neutral werden lediglich zu erkennen, dass es nicht Washingtons Aufgabe ist, das Böse überall in der Welt zu bekämpfen. Seine Aufgabe ist es, eine Strategie zu verfolgen, die den Amerikanern mit großer Wahrscheinlichkeit zu mehr Sicherheit verhelfen kann.

Diese Sichtweise ist unter Amerikanern sehr verbreitet. Darum könnte die Geschichte vom "muslimischen Bürgerkrieg" in der Öffentlichkeit ein offenes Ohr finden.

Das verwirrende Labyrinth des muslimischen Bürgerkrieges

Natürlich führt der IS keinen Krieg, wie wir uns herkömmlicherweise einen Bürgerkrieg vorstellen, in dem zwei Seiten um die Herrschaft über eine einzige Nation kämpfen. Selbst innerhalb Syriens ist die Anzahl der in den Kampf verwickelten Parteien verblüffend groß. Zu ihnen gehören die repressive Regierung von Bashar al-Assad und Rebellengruppen aller Couleur: von denen, die mit Al-Qaida verbunden sind, über die, die mit Saudi-Arabien verbunden sind, bis zu denen, die mit den USA verbundenen sind. Da der IS nicht allein um die Herrschaft über Syrien, sondern über ganz dar al-Islam kämpft, sind in diese muslimischen Bürgerkrieg auch viele andere Bewegungen, Parteien und Kräfte verwickelt.

Einige Beobachter simplifizieren den Kampf übereilt zu einer Schlacht von "Traditionalisten gegen Modernisierer". In den Mainstream-Medien in den USA führt das gewöhnlich dazu, dass wir uns wünschen, auf Seiten der Modernisierer einzugreifen. Thomas Friedman von der New York Times ist wahrscheinlich der bekannteste Befürworter dieser Sichtweise. Andere simplifizieren den Kampf zu einer Schlacht zwischen Sunniten und Schiiten. Da der Iran die führende schiitische Macht ist, neigen die Vertreter der Medien dazu, die Sunniten vorzuziehen.

Alle diese einfachen Bilder werden zu dem Zweck gemalt, die eine oder die andere Seite zu unterstützen. Die Maler eines solches Bildes streben einzig und allein einen Sieg der von ihnen vorgezogenen Seite an.

In Wahrheit kann keine einfache Dichotomie das wirre Labyrinth der Kämpfe in dar al-Islam erfassen. Sunnitische Traditionalisten bekämpfen andere sunnitische Traditionalisten (zum Beispiel Al-Qaida gegen IS). Modernisierer schließen sich mit Traditionalisten zusammen, um gegen andere Traditionalisten zu kämpfen (zum Beispiel die Türkei und Saudi-Arabien in einer unbequemen Allianz zur Schwächung des IS). Auch Sunniten und Schiiten werden zu Verbündeten (zum Beispiel verbünden sich kurdische Sunniten und irakische Schiiten-Milizen gegen den IS). Die USA unterstützen sowohl Schiiten (wie die Regierung des Irak) als auch Sunniten (wie die Regierungen der ölreichen Golfstaaten), während sie sich der wachsenden Macht sowohl der Schiiten (z. B. im Iran) als auch der Sunniten (z. B. im IS) entgegenstellen.

Wenn eine Friedensbewegung die wahre Komplexität des muslimischen Bürgerkrieges hervorhebt, kann ihre Narration ein anderes Licht auf diesen Krieg werfen. Schon allein deshalb, weil es nicht zwei eindeutig demarkierte Seiten gibt, ist es sinnlos, der einen Seite die Rolle der Guten zuzuschreiben und unsere Flugzeuge und Drohnen in Gang zu setzen, um die andere Seite, die Bösen, zu vernichten. Das muss zu Zusammenhanglosigkeit und Katastrophe führen, besonders in dieser Situation, in der der IS - wie abstoßend er auch für die meisten Amerikaner sein mag - unter Umständen nicht schlimmer ist als die mit uns fest verbündete königliche Familie von Saudi-Arabien.

Angesichts des verwirrenden - einige mögen sagen: chaotischen - Labyrinths des inner-muslimischen Konflikts ist es ebenso sinnlos, die Fantasie Amerikas, es müsse in der Welt Ordnung schaffen, weiterhin zu unterstützen. ("Ohne Ordnung", schreibt Friedman, "kann nichts Gutes geschehen.") Diesen Weg beschreiten bedeutet in Wirklichkeit - seit der Invasion des Irak 2003 -, das Chaos in wichtigen Teilen des Großraums Naher Osten (Greater Middle East) zu entfesseln. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass eben dieser Weg in Zukunft irgendwo anders hinführen wird.

Holt die Jungs und Mädchen und Drohnen nach Hause zurück!

Die Geschichte vom muslimischen Bürgerkrieg führt direkt zu einer radikalen Veränderung in der Politik: den Versuch einstellen, dar al-Islam eine in Amerika fabrizierte Ordnung aufzuzwingen. Gebt die zweifelhafte Genugtuung darüber auf, noch einen weiteren Krieg gegen "die Übeltäter" zu führen! Bietet stattdessen den Opfern des Bürgerkrieges - besonders denen, die in Syrien vor dem überwältigend hohen Maß an Gewalt fliehen, zu dessen Aufrechterhaltung die USA beitragen - echte humanitäre Hilfe an, also eine Hilfe, mit der keine heimlichen politischen Ziele verfolgt werden. Beendet dagegen alle militärischen Aktionen, den Einsatz aller wirtschaftlichen Druckmittel und alles Manövrieren in der Diplomatie gegen eine der Seiten im muslimischen Bürgerkrieg. Werdet, wie wir es in anderen Bürgerkriegen waren, eine wirklich neutrale Kraft.

Diese Veränderung von Narration und Politik lediglich eine große Aufgabe zu nennen, ist eine Untertreibung. Angesichts der verbalen Attacken des IS gegen Washington, die schon einmal einen schrecklichen Massenmord auf amerikanischem Boden inspiriert haben, würden massive Kräfte gegen eine solche Veränderung aufgeboten werden. Wir wissen nicht, wann oder ob weitere Anschläge - ob nun vom IS organisiert oder von der Bande angespornten "einsamen Wölfen" ausgeführt - in Zukunft gelingen können.

Sehr wichtig ist es, sich bewusst zu machen, dass nichts davon als Beweis dafür dienen kann, dass der IS einen gegen Amerika gerichteten Krieg führt. In der Hauptsache handelt es sich um taktische Manöver in einem muslimischen Bürgerkrieg. Für den IS sind Leben und Ängste von Amerikanern bloß Figuren im Schachspiel. Allerdings widerstreitet die Realität im Nahen Osten dem Glauben, der tief in unserer Geschichte verankert ist: Seit Jahrhunderten glauben die Amerikaner, dass unsere Nation der Mittelpunkt der Weltgeschichte wäre, sodass alles, was sich irgendwo auf der Welt abspielt, irgendwie auf bzw. gegen uns gerichtet sei. Und wir betrachten uns weiterhin als die Stars der Welt-Show.

Die meisten Amerikaner werden darüber hinaus noch seit Jahrzehnten darin konditioniert zu glauben, dass das, was sich da abspielt, ein Drama auf Leben und Tod wäre. Der Plot dieses Dramas ist, dass immer irgendein Feind irgendwo in der Welt die Absicht hat, unsere Nation zu vernichten. Der IS ist zurzeit der einzige Bewerber in Sichtweite für diese Rolle und man kann sich kaum vorstellen, dass die Öffentlichkeit die fest verwurzelte Geschichte aufgeben könnte, die Geschichte, dass - im gegenwärtigen Fall also - der IS darauf aus sei, uns zu vernichten. Vor einem halben Jahrhundert konnte man sich noch schwer vorstellen, dass die Geschichte über Vietnam innerhalb weniger Jahre auf ähnlich radikale Weise verändert werden würde. Die Vorstellung ist daher zwar gewagt, aber doch nicht auszuschließen, dass Amerika in ein paar Jahren von Rufen widerhallen wird, die die aus der Vietnam-Zeit wiederaufklingen lassen: "USA - raus aus dar al-Islam!" "Bring the boys - and girls and bombers and drones - home!" (Holt die Jungs - und Mädchen und Bomber und Drohnen - nach Hause zurück!)

Und wenn irgendjemand sagt, die Analogie zwischen Vietnam und dem gegenwärtigen Konflikt sei bestreitbar - eben darum geht es! Anstatt dass wir uns in noch mehr Krieg stürzen, wird es Zeit für ein die gesamte Nation einbeziehendes Streitgespräch über das Thema! Es wird höchste Zeit, dem amerikanischen Volk die Möglichkeit zu geben, sich zwischen zwei grundlegend unterschiedlichen Narrationen zu entscheiden. Die Aufgabe der Friedensbewegung ist es - jetzt wie immer -, eine grundlegend andere Narration als die zur jeweiligen Zeit herrschende anzubieten.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler . Originalartikel:  The Peace Movement´s War Story . Copyright 2016 Ira Chernus

Ira Chernus schreibt über sich: "I’ve been a Jewish peace activist for over 30 years -  teaching, organizing, and writing about Israel, Palestine, U.S. foreign policy, and the American Jewish community". ( https://chernus.wordpress.com/ ) Er ist Professor für Religionswissenschaften an der Universität Boulder Colorado und Autor der "MythicAmerica: Essays". Er bloggt in History News Network . Website des Autors: http://spot.colorado.edu/~chernus/ . Ira Chernus veröffentlicht regelmäßig in TomDispatch .

deutsch: Amerikanische Nationalmythen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. (Ingrid von Heiseler - Veröffentlichungen 12) (German Edition) Kindle Edition :
http://ingridvonheiseler.formatlabor.net/?p=639 Dezember 2014

Vom selben Autor: Warum handeln Menschen gewaltfrei? Geschichte einer Idee.
Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler.
Belm-Vehrte/Osnabrück: Sozio-Publishing 2012, 367 Ss.
http://ingridvonheiseler.formatlabor.net/?p=179

Zum selben Themenkreis:

Jean Bricmont, Humanitärer Imperialismus. Die Ideologie von der humanitären Intervention als Rechtfertigung für imperialistische Kriege.
Einleitung zur deutschen Ausgabe von Noam Chomsky.
Aus dem Englischen übersetzt von Ingrid von Heiseler.
Berlin: Kai Homilius Verlag 2009  
http://ingridvonheiseler.formatlabor.net/?p=13

Veröffentlicht am

14. Februar 2016

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