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Flucht und Migration: Wir müssen uns unserer Mitverantwortung bewusst werden

Von Michael Schmid (aus: Lebenshaus Schwäbische Alb, Rundbrief Nr. 87, Dez. 2015 Der gesamte Rundbrief Nr. 87 kann hier heruntergeladen werden:  PDF-Datei , 656 KB)

Liebe Freundinnen und Freunde,

diesen Herbst fand als Höhepunkt unserer diesjährigen Veranstaltungen wieder unsere Tagung "We shall overcome!" statt, zu der erneut viele Interessierte aus der nahen und weiteren Umgebung nach Gammertingen angereist waren. Erfreuliche Rückmeldungen ermutigen uns, dieses Format auch im kommenden Jahr wieder zu planen. Ausführlich werden die Referate von Heinz Rothenpieler, Ute Finckh-Krämer und Jochen Stay in einem Artikel von Axel Pfaff-Schneider gewürdigt. Mit Bildern und kurzen Texten gehen wir in diesem Rundbrief sowohl auf die Tagung am 17. Oktober als auch auf das abendliche Konzert mit Thomas Felder und die Veranstaltung "Auf den Spuren der gewaltfreien Aktionen gegen Atomwaffen" am Sonntag in Großengstingen ein.

Erschütternde Attentate von Paris und Beirut

13. November - ich schaute mir das Fußballländerspiel Frankreich gegen Deutschland im Fernsehen an. Plötzlich waren zwei Explosionsgeräusche zu hören. Nach und nach wurden in der Life-Berichterstattung aus Paris Informationen zu Selbstmordattentätern und Schießereien von sichtlich betroffenen Reportern übermittelt. Am nächsten Morgen hörte ich in den Nachrichten erst das ganze Ausmaß dieser Attentate. Schockierend und empörend dieser mörderische Hass! Mein Mitgefühl gehört den Opfern und ihren Angehörigen dieser Verbrechen.

Gleichzeitig wird mir angesichts der Reaktionen bewusst, wie selektiv unsere Öffentlichkeit wahrnimmt. Denn wo ist unser Mitgefühl für die mehreren Dutzend Toten am Abend davor in Libanons Hauptstadt Beirut, die Opfer von drei Selbstmordattentätern wurden? Wo ist unser Mitgefühl mit den unzähligen Toten und Verletzten in Syrien, im Irak, im Jemen oder Libyen? "Wir trauern über die Toten in Paris, während wir diejenigen, die einen Tag früher im Libanon und fast sicher von denselben Fanatikern, die die Attacken in Frankreich durchgeführt haben,getötet wurden, nicht einmal wahrnehmen", stellt Jonathan Cook fest. "Aber unser selektives Mitgefühl ist das, was uns überhaupt in diese missliche Lage gebracht hat. Als Europäer haben wir uns immer als vollwertige Menschen betrachtet, diejenigen im Mittleren Osten und dem Großteil des Restes der Welt jedoch etwas weniger als Menschen und nicht so unserer Sympathie würdig. Derlei Gefühle erlauben es Europa, braune Menschen zu kolonialisieren, zu quälen und auszubeuten."

Wenn wir die Attacken stoppen wollten, so Cook weiter, dann müssten wir aufhören, uns
einzumischen, zu plündern, zu manipulieren und zu missbrauchen. Und wir müssten damit
beginnen, indem wir uns nicht mehr das Recht herausnehmen, uns mehr mit den Opfern in
Paris zu identifizieren als mit denen in Beirut. "Wenn wir wirklich so zivilisiert wären, wie wir
glauben, dann würden wir verstehen, dass beide gleichermaßen unser Mitgefühl verdienen."

Missbrauch der Terrorakte von Paris

Unmittelbar nach den Terrorakten von Paris werden diese bereits für andere Zwecke instrumentalisiert. So hat etwa die polnische Regierung erklärt, nun die
ohnehin kärgliche Flüchtlingsquote, die ihr die EU zuwies, nicht mehr einhalten zu wollen.

Im Internet hat es keine Stunde gedauert, bis die Verbindung zwischen den Attentaten von Paris und der Flüchtlingsaufnahme hergestellt war und somit das radikale Ende der Aufnahme gefordert wurde.

Bürgerinnen und Bürger, die für den Schutz von Flüchtlingen eintreten, wurden in Kettenmails beschimpft: "Sie sind mitschuldig, denn Sie bejubelten, dass Frau Merkel Zigtausende IS-Terroristen nach Deutschland holt." Auf diese Weise werden nun diejenigen, die vor dem mörderischen IS aus Syrien fliehen, mit dem IS als Mörder in einen Topf geworfen. Nebenbei wird aber auch vergessen, dass die Attentäter von Paris wahrscheinlich nahezu ihr ganzes Leben in Europa verbracht haben und vielleicht genau deswegen frustriert und radikalisiert waren.

Ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis aus Paris und dem anhaltenden Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland und Europa ein Zusammenhang konstruiert und durch Politik und Medien eine radikale Flüchtlingsabwehr gefordert wird?

EU-Afrika-Gipfel

Abwehr von Flüchtlingen, das ist aber ohnehin die Politik der EU. So ist zwar in der aktuellen Debatte viel von der Bekämpfung der Fluchtursachen die Rede. Zum Beispiel beim kürzlich stattgefundenen EU-Afrika-Gipfel. Würde die EU aber die wirklichen Ursachen der Flucht bekämpfen wollen, würde sie zum Beispiel umgehend die "Freihandelsabkommen" mit den afrikanischen Staaten stoppen, die eine Konkurrenz für europäische Konzerne durch afrikanische Betriebe verhindern, kleinbäuerliche Strukturen als Lebensgrundlagen der Landbevölkerung zerstören, Afrika weiter in Abhängigkeit von Europa halten und die Armut vergrößern. Sie müsste die eigene handels- und agrarpolitische Verantwortung für globale Ungerechtigkeiten eingestehen. Und sich an eine Veränderung machen. Die EU müsste auch den Export von Rüstungsgütern in afrikanische Krisenstaaten sofort beenden. Das hätte allerdings zur Folge, dass europäische Konzerne weniger Profite machen.

Stattdessen sagt die EU jetzt zu, einen Treuhandfonds zu befüllen; und im Gegenzug sorgen diktatorische Regime wie in Eritrea, Somalia oder Sudan dafür, dass möglichst wenige Flüchtlinge europäischen Boden erreichen. Wer es dennoch schafft, soll möglichst schnell und einfach wieder abgeschoben werden können. Und dies alles, ohne dass sich an den Gründen für die Flucht auch nur das Geringste geändert hätte. Denn von einer langfristigen wirtschaftspolitischen Strategie für Afrika war bei diesem Gipfeltreffen keine Rede.

Waffenexporte stoppen

Die Kampagne "Aktion Aufschrei - Stoppt den Waffenhandel!" kritisiert völlig zurecht die Genehmigung zahlreicher Waffenexporte in Krisenregionen durch den Bundessicherheitsrat - unter anderem in den Oman, in die Vereinigten Arabischen Emirate, in den Libanon und nach Jordanien. Krieg und Terror seien die Hauptursache für die Flucht der Menschen aus der Region. Die Lage im Nahen Osten sei schon heute hochexplosiv. Mit diesen Waffenlieferungen werde die Situation weiter eskaliert statt entschärft. Die Lieferländer Jordanien und Libanon grenzen direkt an Syrien. Das Sultanat Oman liegt neben dem Jemen, wo ebenfalls Krieg herrscht. Wer Fluchtursachen bekämpfen will, muss Waffenexporte in Krisenregionen stoppen, statt Kriege weiter anzuheizen.

Wir müssen uns unserer Mitverantwortung bewusst werden

Die Flüchtlinge, die nun in den wohlhabenden EU-Staaten auftauchen, lehren uns: Es war eine Illusion zu glauben, eine kleine Minderheit der Menschheit in den Industriestaaten könne auf Dauer ihren Reichtum und Wohlstand unbehelligt leben, während die große Mehrheit in Armut, Elend und Kriegen untergeht. Es war und ist eine Illusion, dass die EU einerseits maßgeblich daran beteiligt ist, andere Länder und deren Ressourcen auszuplündern, oder etwa Rüstung in Krisenregionen zu liefern und von den Folgen derartigen Handelns verschont zu bleiben.

Viele von uns haben doch seit Jahrzehnten die Einsicht akzeptiert, dass die Wohlhabenden abgeben müssen, um sozialen und ökologischen Frieden zu schaffen. Jetzt geht es darum, tatsächlich zu teilen. Teilen mit den Menschen aus den verwüsteten Städten des Nahen und Mittleren Ostens und mit denen aus dem ausgeplünderten Afrika, die zu uns kommen.

Und dazu sind in der aktuellen Lage sehr viele Menschen hierzulande bereit. Außer Flüchtlinge herzlich willkommen zu heißen, stellen Menschen notwendige Güter bereit und teilen vor allem auch Zeit mit den Neuankömmlingen. So haben sich beispielsweise in unserer Kleinstadt bereits über 50 Menschen gemeldet, um in einem Asylcafé mitzuarbeiten, das in diesen Tagen eröffnet wird.

Doch reicht dieses unmittelbare Teilen mit Flüchtlingen aus, die nach Europa kommen? So wichtig dies ist: keineswegs, denn es müssten die Fluchtursachen ernsthaft angegangen werden, die Menschen dazu nötigen, ihre Heimat zu verlassen. Und diese liegen nun einmal hauptsächlich "in einer Weltordnung, die darauf ausgelegt ist, dass die erfolgreichen kapitalistischen Staaten Westeuropas und Nordamerikas den Nutzen aus der Welt ziehen und die Armutsresultate, die sie dabei überall produzieren, und das Elend, das dabei notwendig zustande kommt, bei sich nicht haben wollen." (Arian Schiffer-Nasserie).

Wenn es also keine Flüchtlinge mehr geben soll, dann muss aufgehört werden mit dem Ausplündern anderer Länder und Kontinente sowie der natürlichen Ressourcen. Das heißt unter anderem, dass die neoliberale Freihandelspolitik beendet und der Klimawandel gestoppt werden müssen. Die Waffenexporte müssen verboten und militärische Interventionen unterlassen werden. Wahrlich Herkulesaufgaben!

Gemeinsam mit vielen Menschen und Gruppen hierzulande und weltweit werden wir uns weiter daran beteiligen, diese Aufgaben zu bearbeiten. Wenn jede und jeder sein Bestes gibt, dann bleibt trotz aller Finsternis ein Funken Hoffnung.

An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei allen Menschen bedanken, die unser Engagement mit dem Lebenshaus unterstützen und begleiten. Ob finanziell, durch guten Zuspruch oder durch direkte Beteiligung. Das macht Mut und tut gut! Herzlichen Dank für Ihre und Eure Unterstützung!

Ich wünsche Ihnen und Euch einen gesegneten Advent, frohe Weihnachtstage, ein friedvolles neues Jahr 2016 und guten Lebensmut!

Herzliche Grüße

Euer / Ihr

Michael Schmid

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Unsere Finanzierungslücke bis zum Jahresende ist seit unserem Brief vom Herbst 2015 dank der Unterstützung von vielen Menschen schon geringer geworden. Dennoch haben wir mit Stand vom 22.11. noch einen Bedarf von rund 19.000 € bis Ende 2015. Wir bitten herzlich darum, uns entsprechend Ihren/Deinen Möglichkeiten dabei zu unterstützen, diese Lücke zu schließen.

Hilfreich für unsere Arbeit über das Jahresende hinaus wären auch regelmäßige Spenden. Entweder ganz allgemein für unsere Arbeit oder auch zweckgebundene Spenden für den Solidarfonds "Grundeinkommen Friedensarbeit". Aus letzterem wird die Teilzeitstelle des Referenten für Friedensfragen Michael Schmid finanziert. Hier besteht eine leider größer gewordene Finanzierungslücke. Von den rund 1.100 €, die jeden Monat für die Stelle eigentlich aus dem Solidarfonds bezahlt werden sollten, liegen ab Januar 2016 Zusagen über monatliche Spenden in Höhe von ca. 450 € in den Solidarfonds vor. So gesehen, fehlen dann rund 650 € monatlich in diesem Topf. In der Perspektive würden wir diese Lücke sehr gerne schließen, zumindest aber verringern. Deshalb hoffen wir auf weitere Menschen, die zu regelmäßigen Spenden in den Solidarfonds bereit sind, aber natürlich auch zu einmaligen.

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Fußnoten

Veröffentlicht am

19. Dezember 2015

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