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Das Schweigen zum Putsch in Brasilien

Von Paul Schreyer

Was in diesem Monat in Brasilien geschah, wurde dem deutschen Medienpublikum als eine der üblichen politischen Krisen in Südamerika präsentiert. Doch seit den jüngsten Enthüllungen vom Montag dieser Woche kann man die Vorgänge dort, im fünftgrößten Staat der Erde, kaum mehr anders, denn als einen Putsch bezeichnen, ausgeführt von konservativen, zum Teil korrupten Kräften. Doch davon erfuhr man hierzulande nur in kurzen Agenturmeldungen oder aber gar nicht - wie etwa bei Spiegel Online, ARD und ZDF.

Dass der Machtwechsel, der sich Mitte des Monats in Brasilien ereignete, kein normaler politischer Prozess, sondern tatsächlich ein reaktionärer Putsch war, belegt ein in dieser Woche veröffentlichtes Protokoll eines im März heimlich aufgenommenen Gesprächs zwischen Romero Jucá, seit Mai Planungsminister der neuen konservativen Übergangsregierung, und einem Manager des Ölkonzerns Petrobras. Das vertrauliche Gespräch fand statt, bevor die gewählte Präsidentin des Landes, Dilma Rousseff, durch ein fragwürdiges juristisches Verfahren Mitte Mai vorläufig entmachtet wurde.

Das nun veröffentlichte Protokoll hat es in sich: Laut Jucá wurde der Machtwechsel vorbereitet, indem die Gegner der Präsidentin sich hinter den Kulissen der Unterstützung von Armeegenerälen und obersten Richtern versicherten. So wollten die Verschwörer garantieren, dass Militär und Gerichte den geplanten Sturz auch akzeptieren und unterstützen. Jucá wörtlich im März zu dem Ölmanager: "Ich habe mit den Generälen und kommandierenden Militärs gesprochen. Von ihrer Seite aus gibt es kein Problem, sie sagten, dass sie es absichern werden." Beim Obersten Gerichtshof gebe es "nur eine kleine Anzahl" von Richtern, die beim Sturz der Präsidentin nicht mit im Boot seien.

Ein Hauptmotiv für den Putsch enthüllte Jucá, einer der engsten Vertrauten des derzeitigen Machthabers und vorherigen Vizepräsidenten Michel Temer, ebenfalls im Gespräch: Präsidentin Rousseff müsse aus dem Amt verschwinden, sonst könne die von ihr veranlasste Strafverfolgung vieler korrupter Politiker nicht gestoppt werden. Dieses, so wörtlich, "Ausbluten" müsse schnellstens aufhören. Rousseffs Gegner werfen bekanntlich ihrerseits der Präsidentin Korruption vor, was aber nicht bewiesen wurde.

Das Gesprächsprotokoll erschien in Auszügen zuerst am Montag dieser Woche in einer der größten Tageszeitungen Brasiliens, Folha de São Paulo . Ebenfalls am Montag veröffentlichte der in Brasilien lebende Investigativjournalist und Snowden-Vertraute Glenn Greenwald eine ausführliche Einschätzung . In diesem Artikel regte Greenwald an, dass die Medien nun rasch überlegen müssten, ob man angesichts der vorliegenden Enthüllungen nicht klar von einem "Coup", einem "Putsch", sprechen müsse: "Diese Intrige sieht aus wie ein Coup, klingt wie ein Coup und riecht auch wie einer: die Kooperation des Militärs und der mächtigsten Institutionen zu sichern, um einen demokratisch gewählten Führer abzusetzen, aus Eigeninteresse, korrupten und gesetzlosen Motiven, um dann eine Oligarchen-Agenda durchzusetzen, welche die Bevölkerung verachtet." Auf diese ersten Artikel folgte am Dienstag die New York Times mit einem Bericht , in dem es hieß, dass das Protokoll einen "Plot", also übersetzt: eine Intrige oder Verschwörung "nahelege".

Was machten nun die deutschen Medien daraus? Bislang bemerkenswert wenig. Zurückhaltend sprach etwa das Handelsblatt von einem "Fehlstart für die neue Regierung", während die Süddeutsche Zeitung blass titelte: "Minister in Brasilien tritt elf Tage nach Ernennung ab". "Die politische Krise in Brasilien geht weiter", so das Blatt. Ähnlich farblos und unauffällig klang es am Dienstag auch in der FAZ . Die genannten Berichte basierten erkennbar auf knappen Agenturmeldungen - keine eigenständigen Analysen, Kommentare oder Einordnungen durch einen Redakteur, geschweige denn Leitartikel aus der Chefredaktion. Eine Ausnahme bildete Zeit Online, wo am Dienstag ein längerer Bericht eines Korrespondenten des Blattes aus Rio de Janeiro erschien. Der sprach zwar auch von einem "Komplott", lobte die Drahtzieher aber zugleich, "echte Politik" zu machen, vermeintlich auch "aus der Überzeugung heraus, dass die notleidende Wirtschaft des Landes gerettet werden muss."

Spiegel Online hingegen blieb völlig sprachlos, ebenso ARD und ZDF. In keiner der Abendausgaben von Tagesschau, Tagesthemen, Heute oder Heute-Journal wurde Anfang der Woche über die Enthüllung berichtet, dass in der siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt offenbar gerade ein Putsch stattgefunden hatte. Das ist noch keine "Lügenpresse", denn schweigen ist etwas anderes als lügen, aber es kommt schon dem nahe, was manche mittlerweile in ironischer Ableitung "Lückenpresse" nennen - ein Weglassen, das bei so gravierenden Ereignissen einer Erklärung bedarf.

Fakt ist: was die Wirtschaftspolitik angeht, verfolgen die Putschisten in Brasilien eine aggressive neoliberale Agenda, welche die Financial Times als "ultimative Investoren-Wunschliste" bezeichnete, wie man sie aus Europa und insbesondere Deutschland zur Genüge kennt: Ausgabenkürzungen, Privatisierungen, Renten-"Reform" etc. Mit demokratischen Wahlen sind solche Ziele immer schwerer umzusetzen. Selbst CNN kommentierte zum amtierenden Machthaber Michel Temer jüngst sarkastisch: "Die Wall Street mag ihn. Die meisten Brasilianer nicht." Ähnlich hier in Deutschland. Der Stern titelte (einen Tag, bevor die Putsch-Enthüllungen bekannt wurden): "Wende in Brasilien? Deutsche Unternehmen sehen Silberstreif". Im Text, einer Agenturmeldung der dpa, hieß es dazu: "Die geplanten Privatisierungs- und Reformmaßnahmen der neuen brasilianischen Regierung schüren bei deutschen Unternehmen Hoffnungen auf eine milliardenschwere Investitionsoffensive. (…) Auch der Kreditversicherer Euler Hermes sieht einen Silberstreif. ‚Die Übergangsregierung könnte auf eine Schocktherapie setzen und dringend benötigte Reformen schnell auf den Weg bringen’, analysiert Euler Hermes."

Schocktherapie? Das klingt nach Schock-Strategie . Radikale Wirtschaftsreformen in Begleitung von undemokratischen Regierungen sind in Südamerika gut bekannt. Gerade die Bürger Brasiliens wissen um die Gefährdung der Demokratie. Von 1964 bis 1985 herrschte dort die Militärdiktatur, von Beginn an unterstützt durch die USA, deren Rolle beim derzeitigen Machtwechsel noch unklar ist. Bekannt wurde bislang, dass ein Vertrauter Temers im April dieses Jahres in die USA reiste und dort führende amerikanische Außenpolitiker traf . Temer selbst hat laut Wikileaks-Dokumenten über viele Jahre hinter den Kulissen die US-Botschaft mit Interna zur brasilianischen Politik versorgt.

In jedem Fall ist die geopolitische Dimension eines Regime-Wechsels in Brasilien kaum zu unterschätzen. Unter der Regierung von Lula da Silva seit 2003 und Dilma Rousseff seit 2011 (beide waren seinerzeit aktiv im Widerstand gegen die Militärdiktatur) stellt das Land einen wesentlichen Baustein der BRICS-Kooperation dar, welche die USA als Herausforderung, wenn nicht Bedrohung ihrer Vorherrschaft ansehen.

Paul Schreyer ist freier Journalist, Autor, Mitarbeiter und regelmäßiger Autor der NachDenkSeiten. Sein Buch "Wir sind die Guten - Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulieren" (mit Mathias Bröckers) wurde ein Spiegel-Bestseller.

Quelle:  NachDenkSeiten - 27.05.2016. Eine Vervielfältigung oder Verwendung des Textes in anderen elektronischen oder gedruckten Publikationen ist unter Berücksichtigung der Regeln von Creative Commons Lizenz 2.0 Non-Commercial möglich. Dieser Beitrag ist auch verfügbar als Audio-Podcast .

Veröffentlicht am

29. Mai 2016

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