Der Griff zur NotbremseVon Götz Eisenberg Die folgenden Anmerkungen verstehen sich als Beitrag zu der von Jens Berger angestoßenen Debatte über den Rechtsruck, der zuletzt in den Ergebnissen der Landtagswahlen vom März 2016 zu Tage trat. Jeder Rechtsruck quittiert auch das Unvermögen der Linken, überzeugende Antworten auf drängende Fragen der jeweiligen Epoche zu finden. Alexander Gauland und Björn Höcke haben in den letzten Tagen Sätze und Parolen rausgehauen, an denen man veranschaulichen kann, worin das Erfolgsrezept des Rechtspopulismus besteht. Sie machen sich im Sinne des Psychohistorikers Lloyd deMause zu "Phantasie-Führern" derer, die an Denk-, Wahrnehmungs- und Affektgewohnheiten und Vorstellungen von ethnischer Homogenität festhalten, über die die gesellschaftliche Entwicklung längst hinweggegangen ist. Merkel, die Gauland als "Kanzler-Diktatorin" bezeichnet, wolle die deutsche Bevölkerung "ersetzen durch eine aus allen Teilen der Erde herbeigekommene Bevölkerung". Sie betreibe eine Politik "der menschlichen Überflutung", gegen die Widerstand geboten sei. Den an traditionelle Werte und Normen fixierten Menschen ist allzuviel fremd geworden in den letzten Jahrzehnten. Sie verstehen die Welt nicht mehr und denken sie sich einfach wieder zurecht. Das Eigene gegen das Fremde - so lautet die schlichte Parole von AfD und Pegida. Und damit gelingt es ihnen, den Unmut von Teilen der Bevölkerung aufzugreifen und zu bündeln. Die Globalisierung ist über die Köpfe der Menschen hinweggegangen, die noch in ethnischen und nationalstaatlichen Kategorien denken und fühlen. Die Innerlichkeit der Menschen als Inbegriff ihrer ideologischen und psychischen Verfassung, kann mit dem immer rasanter werdenden Tempo des sozialen und technischen Wandels nicht schritthalten und hinkt den realen Verhältnissen hinterher. Das Kapital ist schnell und dynamisch, die Menschen sind eher langsam und kommen mit ihrer Aneignung der Veränderungen nicht nach. Aus diesem Phänomen erklärt sich das Erstarken des sogenannten Rechtspopulismus in ganz Europa, der auch ein Protest des Althergebrachten gegen die kapitalistische Modernisierung ist. Gauland sprach am Sonntag bei Anne Will mehrfach davon, dass es darauf ankomme, "das Erbe unserer Väter und Vorväter zu bewahren" und gegen das Eindringen des Neuen und Fremden zu verteidigen. Vehement verteidigte er die von Höcke und ihm aufgegriffene Parole: "Heute sind wir tolerant und morgen fremd im eigenen Land". Diese Parole stammt aus einem Lied der rechtsradikalen Band "Gigi & Die Braunen Stadtmusikanten". Das Album, das das Lied enthält, heißt bezeichnenderweise "Adolf Hitler lebt!". Die Formulierung "fremd im eigenen Land" greift in die Phantasie vieler Menschen und trifft offenbar ein Grundgefühl ihrer Existenz. Die Rechten machen es sich einfach und greifen solche diffusen Stimmungen so auf, wie sie sie vorfinden. Die politische Linke hätte sie über sich selbst aufzuklären und muss in diesem Bemühen weite Wege gehen. Nicht die Fremden bedrohen uns, sondern das Fremde, das uns in Gestalt intransparenter finanzieller Abstraktionen gefangen hält. Es ist die vor sich hin nullende Null, die sich selbst vorantreibende Teufelsmühle des Kapitals, die uns alles entfremdet und fremd erscheinen lässt. Wenn schon "Heimatschutz", dann vor den wahren Zerstörern von Heimat: den Waffenhändlern, den Lebensmittelspekulanten, den Hedgefonds-Managern, der tobsüchtig gewordenen freien Marktwirtschaft, dem Geld, das vollkommen unpatriotisch ist und dahin fließt, wo die Bedingungen für seine Vermehrung am günstigsten sind. Das Geld hat alle Grenzen niedergerissen und ist die Abstraktion geschossen. Es sind die riesigen, weltumspannenden Medienkonzerne, die die kulturellen Besonderheiten einebnen und die Menschen in Anhängsel ihrer Apparate und stammelnde Analphabeten verwandeln. Es sind die großen Fastfood-Ketten, die den Geschmackssinn zerstören, die regionalen Kochkünste ruinieren und die Leute in verfettete Idioten verwandeln. Gerade angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise ist es wichtig zu betonen, dass es das Kapital selber war und ist, das die Globalisierung vorantreibt und damit eine historisch beispiellose Woge transnationaler Mobilität ausgelöst hat, von der wir einstweilen nur die Anfänge erleben. Wer sich nach Heimat und bergender Gemeinschaft sehnt - und diese Sehnsucht ist im Sinne Ernst Blochs eine zutiefst menschliche, uns allen innewohnende -, kann diese nur im Kampf gegen die kapitalistischen Modernisierer und Flexibilisierer gewinnen, die sich unser Lebensgelände unter den Nagel reißen und uns in hochmobile Geld- und Warensubjekte verwandeln. Die Flüchtlinge, deren massenhafte Ankunft viele erschreckt und ängstigt, sind der vollkommen falsche Adressat des Protests, ein klassischer Sündenbock. In ihrem Schicksal könnten wir uns und unsere Zukunft als deterritorialisierte, bindungslose und entwurzelte Nomaden erkennen. Über kurz oder lang werden wir alle zu Bewohnern von transit points. Möglicherweise ist das eine der verschwiegenen Quellen der Wut, die die Flüchtlinge auf sich ziehen. "Wenn man das eigene Spiegelbild nicht akzeptieren kann, zerbricht man den Spiegel", hat der kürzlich verstorbene André Glucksmann in seinem Buch Hass geschrieben. Eigentlich sollten wir, die Linken, uns diesen Rohstoff aus Unbehagen und Fremdheitsgefühlen aneignen und zum Antrieb des Versuches machen, Gesellschaft und Ökonomie wieder nach menschlichen Zeitmaßen zu gestalten. Aber die Linke ist befangen in einem Fetischismus der Ökonomie und des Fortschritts und besitzt kein Sensorium für die Leiden der Menschen am und im Fortschritt. Sie schreckt vor dem "Griff zur Notbremse" zurück, zu dem Walter Benjamin angesichts des Triumphes des Faschismus und auf der Flucht vor ihm bereits geraten hatte: "Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse." Nachdem im Laufe des 20. Jahrhunderts das Destruktive am und im Fortschritt so deutlich zutage getreten ist, sollte uns das Bild von der Revolution als Griff zur Notbremse unmittelbar einleuchten. Die Linke will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben, die mit ihrer Durchkapitalisierung einhergehen. In der Linken steckt im Sinne Ernst Blochs zu viel naiver technischer Fortschrittsglaube und zu wenig romantischer Protest gegen einen Fortschritt, der in dem Maße ein ruinöser und destruktiver ist, als er ein kapitalistischer ist. Die Thesen, Deklarationen, Resolutionen und Analysen der Linken enthalten zu viel Schema und zu wenig Sehnsucht nach der "blauen Blume". Sie sind oft formelhaft-trocken und greifen nicht in die Phantasie. Wir sollten dringend Walter Benjamins Text "Über den Begriff der Geschichte" und Ernst Blochs Buch "Erbschaft dieser Zeit" lesen und in unserer Theoriebildung und politischen Praxis beherzigen. Wir dürfen diesen ganzen Rohstoff an Leidenserfahrungen, Unbehagen und Wut, den die Globalisierung erzeugt, nicht ignorieren und den Rechten zur Aneignung überlassen. Wenn die Geschichte des 20. Jahrhunderts uns eins gelehrt haben sollte, dann ist es das: Der Aufstieg der Rechten und Faschisten ist immer auch die Quittung für ein Versagen der Linken, denen es nicht gelungen ist, das Leiden der Menschen unterm Kapitalprinzip beredt werden zu lassen. Es handelt sich bei "Rechtsrucken" im Sinne Ernst Blochs immer auch um die Aneignung linker Energien von rechts. Die Erfahrung, "fremd zu sein im eigenen Haus", wurde Ende des 18. Jahrhunderts von Friedrich Hölderlin formuliert. Wenig später fing Wilhelm Hauff das Empfinden vieler Zeitgenossen, dass die sich ausbreitenden Waren- und Geldverhältnisse sich wie ein kalter Hauch der Entfremdung auf Menschen und Dinge legten, in seinem Märchen "Das kalte Herz" ein. Hans-Jürgen Krahl hat seine Marx-Schulung im Frankfurter SDS an diesem Märchen und seinen Metaphern aufgehängt. Wir sollten unsere Scheu vor der Verwendung von Bildern und Metaphern ablegen. Unser Auftreten ist vielfach kalt und schulmeisterlich. Während die Rechten in Bildern und Metaphern schwelgen, die in die Phantasie der Menschen greifen, langweilen die Linken die Menschen mit dem sturen Ableiern ökonomistischer Parolen. Die auf die Entlarvung ökonomischer Widersprüche fixierte Linke gerät in den Bann des "Kältestroms", der von der kapitalistischen Ökonomie ausgeht, und vernachlässigt den "Wärmestrom", der das ist, was in die Phantasie greift und die Menschen berührt und antreibt. Der Triumph des Nationalsozialismus resultierte Ernst Bloch zufolge auch aus der Unfähigkeit der sozialistischen Linken, die hungrigen - hungrig auch nach Sinn! -, unglücklichen, ohne Ziel umherirrenden Menschen satt zu machen. Kapitalistische Modernisierung bedeutet unaufhörliche Transformation gemeinschaftlicher in gesellschaftliche Lebensformen. Die soziale Entwicklung verläuft vom Konkreten zum Abstrakten, führt aus vermeintlich bergenden Heimaten in die gefürchtete Fremde, treibt aus glücklich erworbener Bodenständigkeit in ein neues Nomadentum. Die Marktvergesellschaftung zehrt die verbliebenen Gemeinschaften, ihren Widerpart, auf. Sie zerstört traditionale Lebenswelten und überantwortet die freigesetzte Bevölkerungsmehrheit einem sozialen "Kältestrom". Der ruinöse Fortschritt, dem sie sich ausgesetzt sehen, überfordert die Menschen und lässt sie die Gesellschaft hassen, die ihnen das antut. Ihre aufgestaute Wut richtet sich schließlich unter dem Einfluss rechter Propaganda gegen die Fremden, die ihnen den Grund ihres Leidens symbolisieren und als Sündenböcke herhalten müssen. Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe. In der "Edition Georg Büchner-Club" erscheint Ende Juni 2016 unter dem Titel "Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst" der zweite Band seiner "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus". Quelle: NachDenkSeiten - 07.06.2016. 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