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Zwischen den Stühlen

Türkei: Allein wegen der heftigen geostrategischen Rivalität im arabischen Raum bleibt das Land ein unverzichtbarer Partner des Westens

Von Sabine Kebir

Zwar pfiffen es nicht nur die Spatzen vom Dach, auch etliche Bücher, Publikationen und Dokumentarfilme belegen seit langem, dass die Türkei eine "zentrale Aktivplattform für islamistische Gruppierungen" ist, wie es gerade in einer Auskunft der Bundesregierung an die Linkspartei hieß. Sie spielt bei den Konflikten in Syrien und im Irak einen ganz anderen Part, als hierzulande offiziell verlautbart und medial kolportiert wird. Angeblich unterstützt die Regierung Erdogan "gemäßigte Rebellen", die für Demokratie kämpfen. Tatsächlich hat sie ihr Land, das EU-Aspirant und NATO-Partner ist, sehr viel mehr aus der Wertegemeinschaft katapultiert, als das in jener Antwort auf die Kleine Anfrage der Linken-Abgeordneten Sevim Dagdelen offenbar wird und für den Normalbürger denkbar ist. Nun hat man es schwarz auf weiß: Ob jemand Freiheitskämpfer oder Terrorist ist, richtet sich auch nach der politischen Großwetterlage.

Aber war es nicht schon immer etwas merkwürdig, dass der Weltöffentlichkeit als Alternative zu Baschar al-Assad nur Zivilpersonen präsentiert wurden, die nie glaubwürdig darzulegen vermochten, dass sie relevante Teile der syrischen Bevölkerung vertreten? Jetzt bekommen wir nur noch Milizionäre vorgesetzt, die im Kampf gegen Assad und seinen russischen Verbündeten Allah und Barack Obama um Hilfe bitten. Ist das wirklich neu? Waren nicht die USA einmal guter Hoffnung, mit den Mudschaheddin in Afghanistan einen Regimewechsel zu erreichen? Und als sich das als Illusion erwies, versuchte man es dann nicht mit den Taliban, die ebenfalls in eine andere Richtung agierten? Es ist an der Zeit, die Interessengegensätze zu entwirren, die dem Konflikt in Syrien, aber auch im Irak zugrunde liegen. Teils reichen sie weit in die Geschichte zurück. Der Nahe Osten und die Arabische Halbinsel gehörten bis zum Ersten Weltkrieg zum Osmanischen Reich, das freilich bereits im 19. Jahrhundert Besitzstände auf dem Balkan und im Maghreb verloren hatte.

Drei Militärdiktaturen

Das 1920 im Pariser Vorort Sèvres der Türkei diktierte Abkommen verfügte, dass auch Mesopotamien und Großsyrien ein für alle Mal an die Mandatsmächte England und Frankreich abzutreten waren. Weder der letzte osmanische Sultan noch folgende Nationalregierungen haben das jemals ratifiziert. Obwohl sie die meist um Siedlungsgebiete von Ethnien verlaufenden neuen Verwaltungsgrenzen als lästig empfanden, wünschten sich die Menschen im Nahen Osten die osmanische Herrschaft nie zurück. Auch die westliche Mandatshoheit lehnten sie ab. Bald schon ging es um moderne Nationalstaaten, die keinesfalls innerhalb jener Grenzen liegen mussten, wie sie Franzosen und Engländern 1920 gezogen hatten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg musste diesen Bestrebungen stattgegeben werden. Formal zogen sich die Mandatsmächte zurück, taten es aber mit dem Vorsatz, in bestimmten Zentren Einfluss zu halten und nach Gelegenheiten zu suchen, ihn zu erneuern. Beispiele waren der Libanon und Israel, das erst allmählich zum zuverlässigen Alliierten wurde. Überdies kamen nach 1945 die USA als Rivale der alten Kolonialmächte ins Spiel und wurden zum Hegemon und Koordinator westlicher Interessen in der Region. Besonders auf der Arabischen Halbinsel gelang es den Amerikanern, sich den privilegierten Zugriff auf dortige Rohstoffreserven zu sichern. Das misslang allerdings im Irak und in Syrien, wo es ein politisches Ziel der regierenden Eliten war, diese Ressourcen zu verstaatlichen und für eine modernisierte Gesellschaft zu nutzen, womit sich in den 60er und 70er Jahren auch sowjetischer Einfluss andeutete. Ein beinahe zum Weltkrieg führender Rückschlag für westliche Hegemonialansprüche war 1956 die Nationalisierung des Suez-Kanals durch die Regierung Ägyptens. Einmal mehr zeigte sich, dass die arabische Welt wegen ihrer Rohstoffe, aber gleichsam als geografische Pufferzone zwischen den Blöcken militärstrategisch hochsensibel blieb.

Die Türkei konnte sich zwischen der Ausrufung der Republik im Jahr 1923 und dem Zweiten Weltkrieg durch geschickte Neutralitätspolitik konsolidieren. Um ein Bündnis mit Deutschland zu verhindern, hatte Frankreich 1939 die zu seinem Mandatsgebiet gehörende Verwaltungseinheit Sandschak Alexandrette an Ankara abgetreten, die seitdem den Namen Hatay trägt. So hielt sich die Türkei aus dem Weltkrieg heraus und ließ sich danach in das westliche Bündnissystem einbinden, ohne den inneren Frieden vorweisen zu können, an den eine Präsenz in der NATO gebunden war. Die Rechte der Kurden wurden mit Füßen getreten, viele Menschen, die eine sozialere Politik forderten, erbarmungslos verfolgt. Den Willen zur Demokratie blockierten seit 1945 allein drei Militärdiktaturen. Es war übliche Praxis im Westen, diese Mängel zwar zu bedauern, aber zu tolerieren, da man die Türkei als Außenposten an der Grenze zur Sowjetunion unter keinen Umständen entbehren wollte. Dieser Unverzichtbarkeit kann sich bis heute jede Regierung in Ankara sicher sein. In der NATO wurde das Land vor allem als gigantische Abhöranlage genutzt und mit Kernwaffen ausgestattet, über deren Einsatz jedoch allein die USA zu entscheiden haben.

Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks ist der geostrategische Wert des Landes für den Westen nochmals gestiegen, war die Türkei doch nun Sprungbrett in die turksprachigen Ex-Sowjetrepubliken. Und warum sollte sie Ähnliches nicht auch für den Nahen Osten sein, um den Widerstand arabischer Staaten gegen den Westen und seinen Verbündeten Israel zu brechen? Dank vermeintlich parallel laufender Interessen konnte Erdogan schon vor Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges öffentlich von einer Wiederkehr des Osmanischen Reichs träumen. Eine Etappe auf dem Weg dorthin sollte die Rückgewinnung der Kontrolle über die Kurdengebiete in Syrien und im Irak sein. Gedacht war zudem an eine panislamische Hegemonie sunnitischer Führer in der Türkei, in Syrien und Ägypten, wenn möglich auch im Irak.

Rechtzeitiger Schwenk

Es sei dahingestellt, ob der Islamismus als Herrschaftsinstrument Voraussetzung oder Ergebnis der aggressiven Politik einer Achse Saudi-Arabien-Katar-Türkei ist. Sicher scheint, dass er brutaler Disziplinierung dient und keiner Demokratisierung, so dass eine weitere Ära der Fremdherrschaft für die Region anstehen kann. Es sind heute weniger historische Interessen ehemaliger Kolonialmächte, die den Syrien-Konflikt und seinen katastrophalen Verlauf zu verantworten haben, auch wenn die mit dem Vertrag von Sèvres verordneten multikonfessionellen und multiethnischen Patchwork-Staaten eine regionale Neuordnung begünstigen. Es geht, neben regionaler und globaler Machtpolitik, auch um eine stattliche Zahl von Konzernen und Bankenkonsortien, an denen nicht nur westliche Staaten Anteile halten, sondern auch Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Emirate. Diese drei Staaten sind längst nicht mehr allein Öl- und Gaslieferanten, sondern mit dem neoliberalen Weltwirtschaftssystem verschränkt.

Spätestens mit der Arabellion von 2011 wurde jedoch klar, dass sich der Nahe Osten nicht mehr durch die traditionelle Ordnungspolitik vergangener Jahrzehnte beherrschen lässt. Eine Zeit lang schien der Westen zu hoffen, sich über eine dauerhafte Destabilisierung (Libyen/Syrien) Einfluss zu sichern, um damit aus geostrategischen Gründen den russischen, iranischen und womöglich chinesischen Einfluss zurückzudrängen. Russland will nun einmal durch seine Präsenz in Syrien die alte Pufferzone gegen westliche Begehrlichkeiten wahren. Sein Eingreifen dort zielt auf den Erhalt der Integrität des Landes und hat die militärische Situation qualitativ verändert.

Als Erste haben das die USA verstanden und schon 2015 beschlossen, sich vorrangig auf den Beistand für die Kurden im Kampf gegen den IS zu konzentrieren und deren Autonomie zu fördern. Das führte zwangsläufig zu Spannungen mit dem NATO-Partner Türkei, die man sich als Hintergrund dramatischer Szenarien vorstellen darf, die das Land - wie jetzt mit dem Attentat in der Stadt Gaziantep - erschüttern.

Die osmanischen Träume sind gescheitert, aber Ankara ist sich der unabdingbaren Rolle bewusst, die es weiterhin für den Westen spielt, und manifestiert Souveränität: Erdogan ärgert die Verbündeten, indem er sich überraschend mit Russland versöhnt. Die Ankündigung seines Premiers Yildirim, Assad "für eine gewisse Zeit" als Machthaber Syriens anzuerkennen, stellt die Weichen für die Genfer Syriengespräche neu. Für die islamistischen Hilfstruppen, die den Stellvertreterkrieg ausfechten, ist das ein fatales Signal, das sie kaum anstandslos hinnehmen werden.

Die Türkei und der Syrien-Konflikt

April 2011 So früh wie kein anderer Regierungschef in der Region positioniert sich Recep Tayyip Erdogan, damals noch Premier, im Syrien-Konflikt. Galt Baschar al-Assad bis dahin als Freund, mit dessen Familie man gemeinsam in Urlaub fuhr, wird der syrische Präsident nun zum Feind erklärt und mit einem Militäreinmarsch bedroht. Die Türkei unterstützt offen das Anti-Assad-Lager.

April 2013 In einer Antwort auf eine Anfrage der Linkspartei deutet die Bundesregierung an, dass türkische Informationen über den Abschuss eines eigenen Aufklärungsflugzeuges am 26. Juni 2012 vor der syrischen Küste frisiert sein könnten. Dieses Eingeständnis ist vor allem deshalb brisant, weil mit dem vermeintlichen Abschuss die Stationierung deutscher Patriot-Flugabwehrsysteme in der südlichen Türkei gerechtfertigt wurde.

Mai 2013 Türkische Medien berichten, der eigene Geheimdienst MiT habe zwei Wochen zuvor von dem am Abend des 11. Mai 2013 verübten Terroranschlag auf die türkische Grenzstadt Reyhanli (51 Todesopfer) gewusst, aber nichts unternommen. Offenbar sollte der Eindruck einer Bedrohung durch Syrien erweckt werden, um die NATO zu mehr Beistand für die türkische Syrien-Politik zu veranlassen.

September 2014 Die New York Times berichtet, dass der Islamische Staat (IS) Rekrutierungszentren in türkischen Städten unterhalte. Durch die Türkei würden IS-Kämpfer aus Europa und IS-Nachschub nach Syrien geschleust. Dies deckt sich mit der Passivität der Regierung Erdogan, als IS-Einheiten um die gleiche Zeit versuchen, die syrisch-kurdische Stadt Kobanê im Sturm zu erobern.

2014/2015 Durch den Vormarsch im Sommer 2014 beherrscht der IS Ölfelder und -anlagen im Irak mit 60.000 Tonnen Förderung pro Tag. Der Ölhandel füllt die Kriegskasse der Dschihadisten, weil es genügend Abnehmer in Irakisch-Kurdistan, vor allem aber in der Türkei gibt, was die Regierung in Ankara offenbar duldet. Lutz Herden

Quelle: der FREITAG   vom 21.09.2016. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

21. September 2016

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